Vielleicht war der Mann überhaupt kein Obdachloser. Vielleicht hatte der Mann üble Absichten und spielte den Obdachlosen nur, um keine Aufmerksamkeit zu erregen und ungestört seine finsteren Machenschaften zu verfolgen.
Viktor spürte ein Ziehen im Bauch. Warum um Himmels willen hatte der Mann ihn angegrinst? Ausgerechnet ihn …?
Sein Mantel hing immer noch über dem Stuhl.
Der Fahrstuhl war gerade besetzt. Viktor wartete einen Moment.
Er öffnete die Tür zum Treppenhaus und lief, vier, fünf Stufen gleichzeitig nehmend, nach unten.
Im dritten Stock mahnte er sich zur Ruhe. Das Treppengeländer war eiskalt, zwischen den kahlen Wänden hallte seine Anwesenheit wider. Was mache ich hier eigentlich?, dachte er. Warum gehe ich nicht einfach zurück nach oben?
Inzwischen war der Fahrstuhl frei. Seine Fingerspitze hing unschlüssig über der Fünf, drückte dann aber doch auf die Null.
Im Menschenstrom kam Viktor nur mühsam voran, er wechselte auf die Fahrbahn, wich wütenden Radfahrern aus, spurtete ein Stück. Er hatte das Ende der Straße noch nicht erreicht, als er schnaufte wie eine Lokomotive und seine Beine sich anfühlten wie Pudding.
Ein Stück entfernt sah er die Wartenden an der Straßenbahnhaltestelle, aber keinen zehnjährigen Jungen in Daunenjacke.
Der Hauseingang von eben war leer, das dreckige, zerknüllte Papier verschwunden. Hatte der Mann es nach seinem kleinen Auftritt ordentlich weggeräumt? Spuren verwischt?
Während er sich der Haltestelle näherte, musterte er die Wartenden, einen nach dem anderen. Zu seiner Erleichterung kam ihm keiner bekannt vor. Wahrscheinlich war Igor, kurz nachdem sie sich verabschiedet hatten, in die Straßenbahn eingestiegen. Das ist möglich, ging Viktor mit einem Mal durch den Kopf, aber keineswegs sicher.
Neben der schweigsamen Gruppe, dort, wo er sich von Igor getrennt hatte, kam er zu Atem. In seiner Manteltasche spürte er sein Handy, aber es war sinnlos, jetzt schon in der Schule anzurufen.
Er bestellte ein Taxi.
Kaum zwei Minuten später hielt eins direkt vor ihm, abrupt, mit quietschenden Reifen. Die Frau in der Zentrale hatte Wort gehalten und dem Fahrer eingeschärft, dass es dringend sei.
Viktor stieg ein, nannte den Namen der Grundschule und knallte die Tür zu. »Besser über die Schnellstraße ums Zentrum herum«, sagte er, »da ist weniger Verkehr.«
Der Taxifahrer, ein schüchterner Mann, der sich in der Behaglichkeit seines Übergewichts versteckte, brummte zustimmend.
Die Fahrt dauerte zwanzig Minuten. Sie schossen an Riesenplakaten mit attraktiven Frauen vorbei, fuhren eine Weile gleichauf mit einem Zug voll neuer Autos. Die ganze Zeit über steuerte der Mann mit der Linken, die Rechte auf seinem Oberschenkel. Vom Geruch nach Toilettenspray, der ihm vom Armaturenbrett aus entgegenschlug, wurde Viktor speiübel.
Das schmiedeeiserne Schultor war unbewacht, auch in unmittelbarer Umgebung sah Viktor nur herbeiströmende Eltern und Kinder. Auf der anderen Seite des Schulhofs erkannte er zwei plaudernde Lehrer, gänzlich uninteressiert an dem, was um sie herum passierte. Igor konnte er nirgends entdecken. Viktor beschloss, sich im Sekretariat zu erkundigen, wo eine Dame mit Pagenschnitt ihm mit größtem Mitgefühl zuhörte. Sie dachte kurz nach und schaute dann auf die Uhr über der Tür. In drei Minuten würde die Schulglocke läuten, dann traten die Kinder nach Klassen geordnet an. Sie brauchte nicht nachzusehen, welche Klasse Igor besuchte, durch die jüngsten Ereignisse wusste sie es auswendig: die 4d. Sie bot Viktor einen Stuhl an und Kaffee, doch er lehnte dankend ab und ging wieder nach draußen.
Systematisch durchkämmte sein Blick die Menge der tobenden Kinder.
Igor konnte er nirgends entdecken.
Das strenge Klingelzeichen ertönte, im Handumdrehen war der Schulhof verlassen. Die farbigen Linien markierten Spielfelder. Viktor sah eine Wollmütze, die Bommel war im Netz eines Basketballkorbs hängen geblieben.
Wie eine Nonne führte die Dame ihn durch die langen Flure, stets ein paar Schritte vor ihm. Unter den Fenstern zu den Klassenräumen hingen die Garderoben voller Winterjacken. Fast überall riefen Lehrer Namen auf. Wortlos folgte er ihr eine breite Treppe hinauf. In der 4d war der Lehrer gerade dabei, einen Satz an die Tafel zu schreiben. Die Kinder redeten durcheinander, auf der Suche nach dem richtigen Heft. Viktor konnte die Dame gerade noch vom Anklopfen abhalten: Igor saß in der zweiten Reihe, ruhig, fast heiter. Er hielt seinen Füller im Anschlag. Erst auf das Zeichen des Lehrers kopierte er den Satz, konzentriert, die Zungenspitze zwischen den Lippen.
Viktor irrte durch den Supermarkt, immer noch aufgewühlt. Er legte Einkäufe in seinen Korb, ohne zu wissen, was er eigentlich genau brauchte. Die Aufeinanderfolge gefüllter Regale hatte auf jeden Fall etwas Beruhigendes.
Bei einem Turm gestapelter Cornflakes hielt er inne, und erst nachdem er sich im Stillen feierlich versprochen hatte, von nun an Igor auf dem Weg in die Schule zu begleiten, kam sein Körper wieder in Bewegung.
Die Wohnung begrüßte ihn mit wohltuender Wärme. Er stellte seine Schuhe in die Garderobe und hängte seinen Mantel auf. Er fühlte sich erschöpft und beschloss, jetzt schon zu Mittag zu essen, obwohl es erst zehn nach elf war. Er machte sich ein Omelett mit Tomaten, aber der Eiergeruch raubte ihm jeden Appetit.
Im Wohnzimmer blätterte er durch die Zeitung.
Der Mann einer Tagesmutter begrapschte dreijährige Kinder und sogar jüngere. Die Frau wollte es nicht wahrhaben. Ein Bungalow, roter Backstein, niedriges Dach mit graugrünen Moosflecken. Gras und hohe Fichten drum herum. Nichts ahnende Nachbarn.
Später lag Viktor ausgestreckt auf dem Bett, Hände hinter dem Kopf. Die sonnigen Perioden wurden immer länger. Langsam schob sich das Sonnenlicht über die Wand, wurde schwächer und leuchtete dann wieder blendend auf. Irgendwo am Himmel hörte man das leise Sirren eines Linienflugzeugs.
Er starrte auf die Schneelandschaft am Fußende.
Helena hatte sie gekauft, als sie hier frisch eingezogen waren.
Die Landschaft war von anrührender Schlichtheit. Papier und Holzkohle, ein paar treffsicher gesetzte Linien, die einen Hang andeuteten, über den ein Pfad zu einem Dorf am Horizont führte. In der Bildmitte zwei Figuren, schwarze Striche, gedrungen, durchgefroren.
Manchmal sah es so aus, als stapften sie von Viktor davon Richtung Dorf, manchmal, als kämen sie auf ihn zu. Mal Mann und Frau, mal zwei Kinder, die trotz schneidender Kälte ein Lied sangen. Manchmal schweigende Männer, gebückt unter einer Nachricht, die sie überbringen mussten.
Manchmal war es, als blieben sie stehen und wüssten nicht, was sie tun sollten.
»Hackbällchen in Tomatensoße!«, rief Eveline durch die Sprechanlage. Als sie hereinkam, hielt sie stolz zwei Schüsseln in die Höhe: »Mit Kartoffelpüree!«
Igor sprang begeistert vom Sofa und folgte ihr in die Küche, wo sie das Essen in die Bratröhre schob.
»Alles frisch gemacht«, rief sie. »Plötzlich hatte ich Lust, mal was ganz Altmodisches zu kochen.«
»Ich wusste gar nicht, dass du das kannst, was Altmodisches kochen.«
»Du hast deine Schwester eben immer unterschätzt.«
Viktor war ihr dankbar: Igor konnte eine gesunde Mahlzeit gebrauchen. Gleichzeitig störte es ihn, dass sie unangemeldet hereinplatzte.
Er hörte, wie sie Igor leise ausfragte. Wie es ihm gehe, und in der Schule, und Papa. Igor erzählte, Papa habe ihn am Schultor abgeholt. Ja, das fände er schon ein bisschen komisch. Aber schlimm fände er es nicht, nein.
Eveline deckte den Tisch im Wohnzimmer, als sei sie die Herrin des Hauses. Sie schaltete eine Stehlampe an und fragte nach Teelichtern. Viktor gab keine Antwort. Stur blickte er auf den Bildschirm. Wollte sie ihn nicht verstehen?
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