Das beunruhigte Robbi. So was war noch nie passiert. Alleinsein mochte er gar nicht. Einsamkeit war überhaupt das Schlimmste für einen kleinen Seehund. Und Robbi war ja noch ein Baby. Traurig blickten seine großen Augen über den leeren Sand, wo nur ein paar aufgeregte Möwen kreischten.
Robbi wußte noch nicht, daß ihre schrillen Schreie ein Warnsignal bedeuteten. Ein Klagelaut drang aus seiner Kehle. Dann heulte er, daß es weithin übers Watt schallte. Und er hörte nicht auf mit Heulen. Doch seine Mutter kam nicht zurück.
Dafür kam etwas anderes: etwas, das Robbi noch nie gesehen hatte. Von weitem sah das Ding aus wie ein großer weißer Vogel. Und es flatterte auch ein wenig, nur sehr sonderbar. Es kam immer näher, kam den Priel heraufgeschwommen und stieß knirschend gegen die Sandbank, auf der Robbi lag. Er wunderte sich. Es war wohl doch kein Vogel.
Plötzlich ließ das seltsame Ding knatternd seinen großen weißen Flügel fallen. Nun lag es ganz nackt da. Etwas Hartes scheuerte über den nassen Sand. Fremdartige, langbeinige Gestalten sprangen heraus, bewegten sich langsam auf Robbi zu, blieben dann aber stehen. Und Robbi hörte Stimmen, fremde, sehr eigenartige Stimmen, die er nicht verstand.
„Es ist ein Heuler“, sagte eine tiefe Stimme. „Ein echter Heuler. Sonst läge er nicht so allein auf der Sandbank.“
„Das habe ich schon von weitem gehört“, erwiderte eine forsche Knabenstimme. „Aber ihr wolltet mir ja erst nicht glauben.“
„Stimmt“, sagte die tiefe Stimme wieder. „Ich habe das anfangs für einen Witz gehalten.“
„Das ist aber ein niedlicher Witz“, mischte sich jetzt eine helle, freundliche Stimme ein. „Ganz entzückend! Die großen Augen! Und der Mund sieht aus, als ob er lachte. Ein süßes Tierchen. So richtig zum Liebhaben.“
„Und solche süßen Tierchen hat man hier noch vor kurzer Zeit abgeschossen!“ sagte die forsche Knabenstim me.
„Werdet nicht sentimental“, brummte der Mann mit der tiefen Stimme. „Laßt uns lieber überlegen, was wir jetzt machen.“
„Mitnehmen natürlich!“ forderte die forsche Stimme. „Heuler soll man in der Seehundstation abliefern.“
„Das sagst du so leicht“, knurrte der Mann ärgerlich. „Diese süßen Tierchen haben ein ziemlich scharfes Gebiß. Damit können sie schon recht kräftig zuschnappen. Und ich habe keine Lust, mich beißen zu lassen.“
„Dann hätten wir gar nicht erst herfahren sollen“, wandte die Frau mit der hellen Stimme ein. „Ich habe euch doch auf der Karte deutlich gezeigt, daß wir hier im Seehundschutzgebiet sind.“
„Eben!“ sagte die forsche Knabenstimme heftig. „Ich wollte aber mal einen Seehund draußen im Meer sehen. Und unser Segelboot macht keinen Krach.“
„Außerdem hat er tatsächlich geheult“, bestätigte der Mann.
„Wahrscheinlich haben wir ihn durch unsere Herumkurverei im Schutzgebiet erst zum Heuler gemacht!“ sagte die Frau gar nicht mehr freundlich. „Sicher haben wir dadurch seine Mutter verscheucht. Und auch die anderen Seehunde. Einige haben wir ja von fern im Wasser gesehen. Nur der Kleine konnte noch nicht folgen. Aber ihr wolltet ja nicht auf mich hören.“
„Hmmm“, räusperte sich die forsche Knabenstimme ziemlich bedrückt. „Daran habe ich natürlich nicht gedacht. Und was nun?“
„Ich weiß nicht“, murmelte der Mann. „Viel Zeit haben wir ohnehin nicht mehr. Das Gewitter kommt immer näher. Und das möchte ich nicht auf See erleben.“
„Dann laß uns schnell heimfahren“, sagte die Knabenstimme ängstlich.
„Na gut“, erklärte die helle Frauenstimme. „Das scheint mir jetzt auch das beste zu sein. Auf jeden Fall aber müssen wir den Heulerfund melden; das Kleine muß gerettet werden. Ohne seine Mutter würde es hier draußen verhungern. Und wir wären schuld an seinem Tod.“
Aber die tiefe Stimme schnaubte wütend: „Das hätte mir gerade noch gefehlt! Damit wir noch im nachhinein eine Strafanzeige bekommen. Doch jetzt los ins Boot!“
Robbi sah, wie die fremdartig langbeinigen Gestalten in das seltsame Ding kletterten und mit dem großen weißen Flügel davonfuhren. Und er war sehr traurig. Er hätte gern ein wenig mit ihnen gespielt. Dann wäre er nicht mehr so einsam gewesen. Jetzt aber war er wieder allein auf der leeren Sandbank. Und er heulte seinen Kummer weit hinaus übers Meer.
Der Wind hatte aufgefrischt; kühl strich er um Robbis Flanken. Inzwischen waren die Möwen mit wüstem Geflatter zurückgekehrt und pickten hastig nach allerlei Gewürm. Sie trösteten Robbi nicht. Er heulte noch immer, ohne Unterlaß. Und er bemerkte nicht, wie der Himmel sich allmählich veränderte. Blauschwarze Wolken türmten sich zu finsteren Gebirgen und schoben sich mehr und mehr vor die Sonne. Es wurde dämmerig. Aus der Ferne tönte ein dumpfes Grollen.
Robbi hob vorsichtig den Kopf und schnupperte mit seiner kleinen Nase in den Wind, der ihm Sandfahnen ins Gesicht wehte. Aber sonst war da nichts. Nur eine große Strandkrabbe strebte eilig dem nahen Priel zu und verschwand darin. Robbi sah, daß das Wasser stieg und schon die Prallhänge netzte. Und das Wasser war unruhig. Die Wellen im Priel trugen winzige Schaumkronen. Bald würde die Flut kommen und das Watt überspülen. Und Robbi war noch immer allein.
Plötzlich zerriß ein langhallendes Dröhnen die Stille des Watts. Robbi sah sich erschrocken um und blickte seewärts. Gewitter kannte er noch nicht, diesen unheimlichen Lärm. Eine Böe peitschte ihm seinen Schnurrbart um die Wangen. Dann schlug etwas anderes auf ihn ein. Dicke Regentropfen trommelten auf sein Fell, zerplatzten auf seiner Nase und spritzten ihm in die Augen.
Aber es wurde noch schlimmer. Ein wahrer Wolkenbruch ergoß sich über seinen kleinen Körper, rann in aufschäumenden Rinnsalen über den Sand.
Wasser von oben war neu für Robbi. Sein Fell troff vor Nässe. Er fand Regen scheußlich, und er wäre gern ins Wasser geflüchtet. Doch er traute sich nicht. Ein unwirklich gelbliches Licht faserte durch die treibenden Wolkenfetzen, Blitze zuckten grell über die aufgewühlten Wasser des Priels und das im Regen bleigrau wogende Meer. Robbi duckte sich instinktiv auf die Sandbank. Der endlos rollende Donner machte ihm Angst. Robbi heulte laut auf. Und für Augenblicke übertönte sein Geheul die Gewalt des Unwetters.
Inzwischen war er völlig durchnäßt. Wie ein winziges, pitschnasses Häufchen Elend lag er flach im Sand, kaum sichtbar im strömenden Regen. Rings um ihn rauschte und gurgelte das Wasser, mischte sich schon mit überschlagenden Wellen. Und Robbi heulte verzweifelt in die tobenden Elemente.
Dann sah er durch die windgepeitschten Regenschleier etwas Dunkles auf den gischtsprühenden Wogen. Ein runder Kopf teilte die schäumenden Wasser, kam näher und näher. Dann robbte ein massiger Körper spritzend über die schon handbreit überflutete Sandbank direkt auf ihn zu.
Es war Robbis Mutter. Gewitter machten ihr nichts aus; das kannte sie. Liebevoll stupste sie ihr Kind vor die Nase, immer wieder. Robbi war glücklich, seine Mutter wieder bei sich zu haben. Jetzt hatte er keine Angst mehr. Wohlig genoß er das zärtliche Tätscheln ihrer Flossen.
Er hatte noch einmal Glück gehabt. Durch das Gewitter waren die fremden Eindringlinge rechtzeitig von der Sandbank verscheucht worden. Seine Mutter, die, wie alle erfahrenen Seehunde, Boote von Robbenfängern und Touristenboote genau unterscheiden konnte, hatte sich in der Nähe aufgehalten und sein Heulen gehört. Sie wußte also, daß er noch auf der Sandbank lag. Und sie hatte das Segelboot davonfahren und die Möwen zurückkehren sehen, die ihr und dem Seehundrudel durch ihr Warngeschrei vorhin die Gefahr längst signalisiert hatten. So hatte sie Robbi noch rechtzeitig erreichen können, bevor die auflaufende Flut ihn hilflos abgetrieben hätte.
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