Und es gelang. Robbi schwamm. Zwar noch unbeholfen, aber er schwamm: zum ersten Mal in seinem Leben, schwamm auf den sanft schaukelnden Wellen. Es war ein seltsames Gefühl, und noch machte es ihm keinen Spaß.
Jetzt war auch seine Mutter dicht bei ihm, glitt neben ihm vorbei in das tiefere Wasser des Priels und schob sich unter seinen kleinen Körper. Und Robbi folgte ihr, ganz nah über ihrem Rücken und klammerte sich mit seinen winzigen Vorderflossen an ihr fest. So fühlte er sich sicherer. Und auch die anderen Seehunde kamen. Das Rudel blieb zusammen und schwamm gemeinsam der Flut entgegen.
Robbi beobachtete sie. Und er sah, wie ihre runden, dunklen Köpfe plötzlich im Wasser verschwanden und an anderer Stelle wieder auftauchten, nun ein zappelndes Etwas zwischen den Zähnen haltend. Nach der langen Ruhepause im Watt gingen die Seehunde auf Jagd nach Fisch.
Nur Robbis Mutter jagte nicht. Sie wachte über ihr Junges, ließ es keinen Moment aus den Augen. Erst wenn es etwas selbständiger geworden war, würde sie es für kurze Jagdausflüge allein lassen. So lange lebte sie von ihrer Speckschicht. Doch das alles wußte Robbi noch nicht.
Inzwischen war die Sonne hinter den Wolkenbänken hervorgekommen. Das Wasser schimmerte hell über dem sandigen Meeresboden. Robbi wurde neugierig. Er sah nach unten, spürte, wie die Wellen über seinem Kopf zusammenschlugen. Und er bemerkte, daß er unter Wasser viel besser sehen konnte als draußen. Schatten glitten unter ihm hinweg und seltsame Tiere. Er hätte gern damit gespielt, aber noch traute er sich nicht. Alles war so fremd. Und er brauchte die Nähe seiner Mutter.
Plötzlich verfing sich etwas in seinem Bart, klebte ihm an der kleinen Schnauze. Robbi erschrak. Aber es war nur ein abgerissenes Stückchen Blasentang. Und die nächste Welle bereits spülte es weg. Seine Schnauze kam frei. Er hatte wieder eine neue Erfahrung gemacht.
Robbi lernte noch eine ganze Menge an diesem ersten Tag. Er lernte, daß es große Wellen gab und kleine, daß man nur außerhalb des Wassers Luft holen konnte und daß man sehr vielen verschiedenartigen Dingen im Meer begegnete: lebendigen, die ihm auswichen, und anderen, denen man ausweichen mußte.
Diese Erfahrung war ein wenig schmerzhaft. Als Robbi wieder einmal einen Wellenkamm durchteilte, stieß er mit dem Kopf gegen etwas längliches Durchsichtiges. Das war sehr hart. Und es tat weh über seinem rechten Auge. Es war eine treibende Glasflasche. Und sie trieb achtlos weiter. Robbi sah ihr nach; dieses Ding mochte er gar nicht.
Stunden schon schwamm Robbi, festgeklammert auf dem Rücken seiner Mutter, durch die endlosen Weiten des Meeres. Ein paarmal rutschte er von ihrem naßglatten Fell ab, wenn er sich gegen den Druck einer größeren Welle nicht halten konnte. Dann mußte er selber schwimmen, zappelnd und noch ein wenig ängstlich. Doch seine Mutter hielt sofort an, wandte ihm ihren Kopf zu. Tröstend und zärtlich rieb sie ihre Nase an der seinen und ließ ihn dann wieder aufreiten. Erst wenn er Halt gefunden hatte, schwamm sie weiter.
Allmählich spürte Robbi ein beunruhigendes Gefühl in seinem Bauch. Sein Magen knurrte vor Hunger. Und er wollte trinken. Aber er sah keine Möglichkeit, an seine mütterliche Milchquelle zu kommen. Überall war nur Wasser, wellenbewegtes, endloses Wasser. Und darüber gleitende Wolken vor einem blaßblauen Himmel. Nirgendwo zeigte sich Land, nirgendwo eine trockene Sandbank für eine nahrhafte Rast.
Robbi mußte schwimmen, mit knurrendem Magen, immer weiter schwimmen. Und er wurde müde.
Ein unheimliches Geräusch
Als die Sonne sich dem fernen Horizont zuneigte, strömten die Wasser langsam seewärts. Zwischen den kräuselnden Wellen erhoben sich vereinzelt schmale Sandstreifen.
Robbis Mutter war die erste ihres Rudels, die sich auf dem naß schimmernden Sand niederließ und seitwärts rollte. Neben ihr lag Robbi. Ungestüm stieß er sie mit seiner weichen Schnauze vor den Bauch. Und er trank, bis sein Bäuchlein sich rundete und ein Bart aus Milchschaum auf seinen Lippen klebte. Dann fiel er erschöpft in einen tiefen Schlaf.
Auch seine Mutter spürte die Müdigkeit. Noch hatte sie die Anstrengung der Geburt nicht ganz überwunden. Sie genoß die letzten wärmenden Strahlen der Abendsonne, und sie sehnte sich nach der Ruhe der Nacht, in der nichts Fremdes die Stille des Watts störte.
Plötzlich horchte sie auf. In der Ferne erklang ein eigenartiges Geräusch: das langsam sich nähernde Dröhnen eines Motors. Dieses Geräusch kannte sie. Ein verspätetes Sportboot kehrte zurück, suchte seinen Weg durch die Priele. Es bedeutete Gefahr, Gefahr auch für ihr Junges, das arglos neben ihr schlief und noch nichts von der Bedrohung ahnte. Aufmerksam sicherte sie nach allen Seiten. Falls das Boot noch näher kam, blieb nur die Flucht in den rettenden Priel. Und es mußte sehr schnell gehen.
Ringsum hoben die Seehunde wachsam ihre runden Köpfe. Einige robbten schon dichter an den Prallhang, um sofort abtauchen zu können. Unruhe erfaßte das Rudel. Aber noch verharrte es in vorsichtiger Gespanntheit. Dann ließ Harrso, ein altes erfahrenes Männchen, den Kopf sinken. Das Motorengeräusch entfernte sich. Die Gefahr war vorüber.
Aufatmend legte Robbis Mutter sich nieder. Das Junge durfte weiterschlafen, mußte nicht gewaltsam geweckt werden, seine noch schwachen Kräfte durch die Flucht verbrauchen. Es brauchte die Ruhe auf der nur für wenige Stunden trockengefallenen Sandbank. Und es brauchte den Schlaf.
Endlich versank die Sonne hinter dem Horizont. Dämmerung fiel über das Watt, wich allmählich dem Dunkel der Nacht. Robbi schlief noch immer. Und er schlief, bis der Mond das Watt in seinen blassen Schein tauchte.
Es war der Hunger, der Robbi weckte. Neugierig blickte er sich um. Alles sah anders aus. Am nachtschwarzen Himmel funkelte das kalte Licht der Sterne, und die mageren Strahlen des bleichen Mondes wärmten nicht. Robbi suchte die schützende Nähe seiner Mutter. Und er trank, bis er vor Müdigkeit einschlief.
Doch lange blieb ihm nicht mehr für seinen Verdauungsschlaf. Die Flut kehrte zurück, trat unaufhaltsam über die Ränder der Priele und glitt die Sandbänke hinauf. Das steigende Wasser näßte Robbis Bauch; sein hell schimmerndes Haar färbte sich dunkel. Er spürte die Kühle der Wellen. Und er blickte auf seine Mutter, die ihn aufmerksam beobachtete.
Sie wartete, bis er seine winzigen Flossen bewegte und zu schwimmen begann. Und sie folgte ihm und überwachte jede seiner Bewegungen. Robbi schwamm hinaus in das weite nächtliche Meer. Er hatte schnell gelernt. Die umsorgende Nähe seiner Mutter machte ihn sicher. Und die See war friedlich, hob und senkte sich nur in einer schwachen Dünung.
Allmählich verblaßten die Sterne. Der Horizont bekam ein orangenes Fell. Morgenröte überflutete das Meer, tauchte die flachen, langrollenden Wogen in ein unwirkliches Licht.
Robbis zweiter Tag begann.
Tage und Nächte vergingen im ewigen Wechsel von Ebbe und Flut. Robbi war gewachsen, größer und schwerer geworden. Aber noch war er ein Baby, blieb auf seine Mutter angewiesen. Und das würde er auch noch eine Weile bleiben.
Doch er war schon ein wenig selbständiger. Das Schwimmen machte ihm Spaß, auch bei Nacht, unter dem fernen Glitzern der Sterne. Pfeilschnell schoß er dann durch die dunklen Fluten, dicht bei seiner Mutter.
Wenn eine Welle ihn abtrieb und er für Augenblicke den Kontakt zu ihr verlor, heulte er kläglich auf. Einsamkeit konnte er nicht ertragen. Erst wenn seine Mutter herbeischwamm und ihm einen tröstenden Nasenkuß gab, fühlte er sich beruhigt.
Dafür war er auf der trockenen Sandbank um so neugieriger. Hier konnte er seine Mutter nicht verlieren. Auf jedes unbekannte Wesen robbte er vertrauensvoll zu, um damit zu spielen.
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