Angelika Kutsch - Eine Brücke für Joachim

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Nach einem Autounfall wird Agnes schwerverletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Sie überlebt, doch das Mitleid ihrer Familie und Freunde sind für sie noch schlimmer zu ertragen als die körperlichen Verletzungen. Ihre Familie schickt sie zu Erholung ans Meer, damit sie Abstand gewinnen kann. In dem langweiligen Dorf angekommen lernt sie Joachim kennen. Die beiden haben ein ähnliches Schicksal, denn auch Joachim leidet hauptsächlich unter der Anteilnahem seiner Eltern und nicht den Folgen einer Kinderlähmung. Beide sehnen sich nach Normalität und fröhlichen Menschen um sie herum. Sie müssen versuchen, ihre Probleme zu überwinden und wieder ein normales Leben zu beginnen. Biografische Anmerkung Angelika Kutsch wurde am 28. September 1941 in Bremerhaven geboren. Nachdem sie zunächst einige Jahre als Büroangestellt tätig war, wurde sie Lektorin in einem Kinderbuchverlag in Hamburg. Heute arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin von Kinder- und Jugendbüchern. Inspiration für ihre ersten beiden Bücher «Der Sommer, der anders war» und «Abstecher nach Jämtland» fand sie in ihren zahlreichen Aufenthalten in Schweden, die auch zu ihrer Karriere als Übersetzerin schwedischer Literatur beigetragen haben. Ihr Jugendbuch «Man kriegt nichts geschenkt» wurde 1975 mit dem Sonderpreis zum deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet und 2012 erhielt Angelika Kutsch den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr übersetzerisches Gesamtwerk.

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Agnes schleuderte die Zeitung von sich. Wie langweilig alles war! In ihrer Enttäuschung wollte sie den Eltern schreiben. Die sollten ruhig wissen, was sie ihr da ausgesucht hatten! Sie legte sich den Briefblock auf die Knie und ließ den Kugelschreiber auf- und zuschnappen. Es war gar nicht so einfach, der Wut Ausdruck zu geben. Auf dem Papier sah alles anders aus. Konnte sie den Eltern das überhaupt antun? Schließlich hatten sie ihr die Reise geschenkt und das großzügige Taschengeld dazu. Aus dem Alter, in dem man Briefe schreibt wie: »Mir geht es gut, wie geht es Euch? Es grüßt Euch Eure ...«, war sie heraus. Wütend warf Agnes den Briefblock aus dem Bett.

Nach einer Weile erwachte das Haus zum Leben. Türen wurden aufgeschlossen, fröhliche Stimmen mischten sich mit lauter Musik, und es dauerte gar nicht lang, da drang Essensgeruch zu ihr herauf, und sie merkte, wie hungrig sie war. Aber als es endlich an die Tür klopfte, überlegte sie trotzig, ob sie hinuntergehen sollte. Warum luden sie überhaupt Pensionsgäste ein, wenn sie ihnen zur Last wurden?

Der Hunger trieb sie dann doch aus dem Bett und hinunter. Durch die angelehnte Küchentür sah sie als erstes Lena, die auf der Eckbank saß und gelangweilt in einer Zeitschrift blätterte. Ulla fuhrwerkte mit ihrem Besteck auf dem leeren Teller herum. Frau Brodersen stand noch am Herd und wendete Koteletts in der Pfanne.

Lena legte die Zeitschrift beiseite und entdeckte Agnes. »Warum stehst du draußen herum? Komm ’rein. Ich dachte schon, ich würde dich während deines ganzen Urlaubs nicht zu Gesicht kriegen!« Sie war ein ausgesprochen hübsches Mädchen, so, wie man sich immer wünscht auszusehen, wenn man dreizehn ist. Viel älter schien Lena noch nicht zu sein. Darüber täuschten auch ihre hüftlangen Haare nicht hinweg. Wenn sie ihr ins Gesicht fielen, verdeckten sie die runden Babywangen.

»Ich heiße Marlene«, sagte sie, »aber alle nennen mich Lena.«

»Das möchte sie bloß«, brummte Ulla.

»Sei still, sonst sag’ ich Uschi zu dir! Denk an unsere Abmachung! Komm, Agnes, setz dich zu mir. Wie hast du den Tag verbracht?«

Agnes schob sich in die Bank, und Ulla rückte nur widerwillig zur Seite. »Im Bett«, sagte sie anklagend, »mir blieb nichts anderes übrig. Da oben war es eiskalt.«

Frau Brodersen legte ihnen die Koteletts vor. »Ach ja«, seufzte sie, »daran haben wir nicht gedacht. Wir hatten ja noch nie Pensionsgäste im Herbst. Bei uns wird immer erst abends die Heizung angestellt.«

»Agnes ist nicht unser Pensionsgast«, protestierte Lena. »Sie soll sich wie zu Hause fühlen. Du hast es selbst gesagt!«

»Natürlich, natürlich. Aber jetzt wollen wir essen!« Frau Brodersen redete sehr förmlich. Die Mütterlichkeit von gestern war ihr an einem langen Arbeitstag abhanden gekommen. Sie stöhnte, daß es ein schlimmer Tag gewesen sei, und ob man nicht wenigstens während des Essens das Radio abstellen könne. Es gab nur Salat in einer Fertigsauce, die künstlich schmeckte, dazu Weißbrot anstelle von Kartoffeln. Weil es schneller geht. Frau Brodersen entschuldigte sich, und Agnes mußte ihr versichern, daß es trotzdem gut schmecke. Agnes gegenüber war sie sehr zuvorkommend, als sei sie eine Erwachsene, die Verständnis für ihre Probleme hatte, die Probleme einer alleinstehenden Frau mit zwei Kindern und einem anstrengenden Job. Sie war Kassiererin in einem Supermarkt, das hatte sie sich in ihrer Jugend weiß Gott nicht träumen lassen. Aber was soll man machen? Nichts gelernt, außer einen Mann und später die Kinder zu bemuttern, geschieden, plötzlich ist alles anders, ein Haus ist da, aber das Geld reicht nicht hin und nicht her, schließlich soll aus den Kindern mal was Ordentliches werden. Da nimmt man jeden Job, der sich bietet.

Agnes hörte schweigend zu und hatte den Eindruck, daß Frau Brodersen trotzdem nicht gar so unzufrieden war. Es war immerhin eine verantwortungsvolle Sache, so eine Kasse, und dann zu Hause die beiden Mädchen. Das waren Aufgaben! Was war sie denn? Sie lebte in den Tag hinein, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was nach dem Urlaub kam. Irgendwann mußte sie sich entscheiden. Zu Hause hatten sie das Thema ängstlich gemieden. So, wie sie nie wieder ein Auto besteigen wollte, konnte sie sich nicht vorstellen, jemals wieder ins Büro zurückzukehren zu denselben Leuten, die auch Herrn Döpke gekannt hatten.

»Können wir nicht von was anderem reden?« maulte Lena. »Immer dieselbe Leier! Das Geschäft, das Haus, die Kinder ...«

»Du könntest mir das Dorf zeigen«, schlug Agnes vor. »Ich hab’ heute morgen wenig davon gesehen.«

»Müßt ihr gleich am ersten Tag weglaufen? Ich dachte, wir machen uns einen schönen Abend«, sagte Frau Brodersen weinerlich.

»Solche Abende kenne ich«, flüsterte Lena und klapperte kräftig mit dem Besteck, damit es nicht bis zur Mutter drang.

»Was macht man abends? Gibt es denn kein Nachtleben für Kurgäste?« fragte Agnes ironisch. Jetzt hatte sie sogar Lena gegen sich.

»Willst du uns auf den Arm nehmen? Wir leben auf einem Dorf, am Ende der Welt, sage ich immer! Wenn du dich amüsieren willst, mußt du in die Stadt fahren.«

»Aber nur sonnabends!« sagte Frau Brodersen streng. »Und um zehn seid ihr zu Hause! Ich trage die Verantwortung!«

»Heute ist doch erst Freitag! Du brauchst dich erst morgen aufzuregen«, brummte Lena.

»Jetzt werd nur nicht frech! Sonst kommst du morgen gar nicht weg! Merk dir das!« Frau Brodersens Stimme verstieg sich schnell zu riskanten Höhen. »Du vergißt immer, daß du hier nicht eine deiner Freundinnen vor dir hast!« Gespräche dieser Art hatte es bei Agnes zu Hause schon lange nicht mehr gegeben, obwohl sie ihr nicht vollkommen neu waren. Lag das auch an ihrer Krankheit?

»Also machen wir uns einen schönen Abend zu Hause«, sagte Lena einlenkend. »Aber den Plattenspieler drehen wir so laut, wie wir wollen!«

Frau Brodersen seufzte, aber sie erhob keinen Einspruch. Später brachte sie ihnen sogar ein Tablett mit Saft und Gebäck und sorgte dafür, daß Ulla draußen blieb.

Der Plattenspieler röhrte. Lena saß auf dem Bett, das gleichzeitig als Couch diente, und ruckte rhythmisch mit dem Oberkörper. Wie jung sie noch ist, dachte Agnes beim Zusehen. Frau Wilkens scheint nicht zu wissen, wieviel drei Jahre Altersunterschied ausmachen, als sie mir vorschwärmte, wie gut wir zusammenpassen werden. Was soll ich mit ihr anfangen? Und sie mit mir?

Was sollte sie mit Lena reden? Agnes mußte nicht nur Selbständigkeit lernen, wie der Arzt meinte. Sie mußte auch lernen, mit anderen zu reden, auf sie einzugehen. Im Krankenhaus hatte sie in einem Dreibettzimmer gelegen mit lauter schwierigen Fällen, die nicht von heute auf morgen entlassen wurden. Als sie einander noch nicht so gut kannten, hatten sie sich dieses und jenes von ihrem Leben »draußen« und »vorher« erzählt. Aber bald war alles gesagt. Was vorher gewesen war, wurde schnell unwichtig. In der weißen, sterilen Atmosphäre des Krankenhauses, die nicht nur Infektionen von ihnen fernhielt, lösten sich die Probleme nicht auf, aber sie wurden verdrängt und überlagert vom täglichen Einerlei.

»Kannst du das Ding nicht leiser drehen?« bat sie Lena schließlich. Lärm, laute Musik waren ihr auch zuwider seit der Krankenhausstille.

»Magst du keine Musik?« Lena war enttäuscht.

»Wir wollen uns lieber was erzählen!«

Das wirkte. Lena drehte die Musik leiser. Sie beugte sich vor. »Ich wollte dich sowieso was fragen. Aber ich dachte, gleich am ersten Tag ...!«

»Frag ruhig!« Agnes lächelte mütterlich.

»Meine Mutter tat so geheimnisvoll, als hättest du wunders was hinter dir. Wir sollten bloß nett zu dir sein, hat sie uns eingeschärft, Rücksicht nehmen. Manchmal behandelt sie mich wirklich wie ein Baby, anstatt mir gleich alles zu sagen! Hast du eine unglückliche Liebesgeschichte hinter dir oder was?«

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