Der Sandstrand war nur kurz. Dahinter dehnte sich endlos der grüne Deich, in sanftem Bogen umschloß er die Flußmündung, so daß sie aussah wie eine Bucht. Weit draußen glitten Schiffe vorbei, die so klein aussahen, daß Agnes meinte, sie in der hohlen Hand halten zu können. Der Boden am Uferrand war schwarz wie im Hafen, geädert von vielen kleinen Prielen. Agnes hatte einmal gehört, daß Wattlaufen sehr gesund sei. Wenn sie schon nicht baden konnte, wollte sie wenigstens wattlaufen! Sie zog Schuhe und Strümpfe aus und krempelte die Hosenbeine hoch. Schon beim ersten Schritt sank sie bis tief über die Knöchel in den kalten, feuchten Schlick, der ihren Fuß nur widerwillig und mit leisem Schmatzen wieder freigab. Bei jedem Schritt sank sie tiefer. Schon reichte die schwarze Schicht bis unters Knie. Agnes gab auf. Sie kehrte ans Ufer zurück.
Der Wind trocknete den Schlick rasch zu einer harten, grauen Kruste. Agnes hätte sich am liebsten ins Gras gelegt und geheult vor Wut über den verdorbenen Urlaub. Was blieb denn noch? Wasser gab es keines, kalt war es und Wattlaufen geriet zum Schlammbad. Was hatte sie nur erwartet? Es war doch ganz klar, daß Frau Wilkens von all dem nichts wußte. Sie besaß sicher keinen Badeanzug. Ihr Urlaub beschränkte sich vermutlich auf ausgedehnte Deichspaziergänge und abendliches Fernsehen bei Brodersens.
Agnes klaubte ihre Sachen zusammen und humpelte durch den Sand. In der Nähe des Spielplatzes fand sie einige Wasserhähne, man war also eingerichtet auf schmutzige Füße. Wenigstens das.
Was nun? Der Tag war noch lang. Sie bummelte durchs Dorf. Bei der Kirche begegnete sie den ersten Menschen, alte Männer in ausgebeulten Hosen, die das Kopfsteinpflaster mit Strohbesen bearbeiteten. Von irgendwoher kam Kindergeschrei. Die Schule mußte ganz in der Nähe sein. Es war gerade Pause. Agnes ging dem Geschrei nach und spähte durch die Gitterstäbe. Kein Kind war älter als zwölf, dreizehn Jahre.
Während sie noch den tobenden Haufen betrachtete, gewahrte sie Brodersens Jüngste, die sich, ein riesiges Butterbrot in der Hand, dem Zaun näherte. Stumm kauend sah sie Agnes an.
»Guten Morgen«, sagte Agnes betont fröhlich. »Schmeckt’s?« Die Kleine verzog nur den Mund.
»Wo ist denn deine Mutter?«
»Arbeiten.«
»Und wann kommt sie wieder?«
»Spät!« Ulla machte auf dem Absatz kehrt und ließ Agnes stehen. Wohin bin ich geraten, dachte sie, die Kinder sind so komisch wie die Katzen. Niemand will etwas von mir wissen.
Ehe sie sich’s versah, hatte sie die Dorfgrenze erreicht. Die Schilder am Straßenrand wiesen in die Kreisstadt. Eine reizvolle Idee, die Koffer zu packen und heimzufahren. Zu Hause konnte sie sich wenigstens noch im Windschatten der weinumrankten Gartenmauer sonnen. Plötzlich hupte es neben ihr, und gleichzeitig quietschten Reifen. Agnes erschrak und machte einen großen Schritt zur Seite. Der Straßenrand gab unerwartet nach. Sie verlor das Gleichgewicht. Sie schwankte, fiel vornüber und konnte sich im letzten Augenblick im Gras an der jenseitigen Böschung abstützen. Ihre Haltung war sicher nicht sehr elegant. Die Hände gruben sich in den feuchten Boden. Das Auto war in einiger Entfernung zum Stehen gekommen. Jetzt fuhr es rückwärts und hielt neben ihr. Ein Seitenfenster wurde heruntergekurbelt, und ein rotgesichtiger junger Mann mit strähnigem Haar beugte sich heraus. »Entweder willst du einen Autostop oder du willst nicht!«
Agnes rieb sich den Knöchel. »Ich will nicht«, sagte sie unfreundlich. »Kann man nicht einmal ungestört spazierengehen?«
Der junge Mann schnaubte durch die Nase. »Die Landstraße ist doch kein Trampfelpfad!« Er gab Gas und fuhr davon.
Agnes hatte immer noch Herzklopfen. Sie war böse auf sich selbst, weil sie immer noch Angst vor Autos hatte. Vor Schreck in einen Straßengraben zu springen! Sie schielte zum Dorf, ob jemand den beschämenden Vorfall gesehen hatte. Der Schulhof war jetzt leer. Der kleine Zeitschriftenkiosk mit dem dunklen Guckloch zwischen den bunten Zeitschriften sah aus wie ein höhnischer Beobachter.
Entschlossen ging sie auf den Kiosk zu. Niemand sollte denken, daß sie sich genierte. Sie rückte die verrutschte Sonnenbrille zurecht und betrachtete die Titelbilder. Zwischen all dem nackten Fleisch auf dem Papier, angeklebten Wimpern und gelackten Lippen entdeckte sie ein lebendiges Gesicht. Hinter den dunklen Gläsern fühlte sie sich wie unter einer Tarnkappe und musterte den Zeitungsverkäufer neugierig. Es war ein hübscher junger Mann mit dunklen Locken und hellen Augen. Nur die zusammengewachsenen Augenbrauen gaben ihm ein etwas düstres Aussehen. Er mußte ihren Blick doch bemerkt haben, denn er lächelte plötzlich und sagte: »Werfen Sie sich immer in den Straßengraben, wenn ein Auto kommt?«
Agnes versuchte, auf den Ton einzugehen. »Man weiß ja nie, ob der Fahrer nicht gerade schläft.«
»Sie brauchen keine Angst zu haben! Sogar auf dem Lande haben alle Fahrer einen Führerschein!«
Der ironische Ton gefiel ihr nicht. Ausgerechnet der einzige junge Mann des Dorfes schien ein Fiesling zu sein. Wie er sie ansah! Spöttisch, hochmütig, als sei nicht er ein Dorfbewohner sondern sie. Zur Strafe dürfte sie jetzt eigentlich nichts bei ihm kaufen. Sie suchte nach etwas Ausgefallenem, etwas, das er bestimmt nicht zu bieten hatte. Aber die Zeiten waren vorbei, daß ein Großstädter sich etwas auf seine Zeitung einbilden konnte, die es in keinem Dorf zu kaufen gab.
Der junge Mann beobachtete sie amüsiert. Um ihr die Wahl zu erleichtern, blätterte er ihr eine Reihe Heftchen vor, Comics, Krimis und Liebesromane. »Heute neu gekommen«, versicherte er, als habe er frischen Fisch zu verkaufen.
Agnes wurde wütend. Für was hielt er sie eigentlich? »Geben Sie mir eine Lokalzeitung«, sagte sie und legte alle Verachtung in das Wort »Lokalzeitung«.
»Die können Sie sich ersparen! Hier ist wirklich nichts los!«
»Eine Lokalzeitung«, wiederholte Agnes kühl. Sie wich seinem Blick aus. Wenigstens seine Hände waren hübsch, lang und schmal, fast ein bißchen zu zart. Aber die Hände söhnten sie nicht mit seiner spitzen Zunge aus. Außerdem strich er die Geldstücke ein, als seien sie schmutzig. Beleidigt ging Agnes davon.
»Auf Wiedersehen«, sagte er leise.
Agnes war ganz erschöpft, als sie bei Brodersens ankam. Sie setzte sich an den Küchentisch und trank den letzten Rest Kaffee, der jetzt bitter und scheußlich schmeckte. Nach einer Weile kam Ulla nach Hause. Sie riß die Küchentür auf, schleuderte ihre Schultasche in die Ecke neben dem Kühlschrank und starrte Agnes wortlos an.
Unter ihrem Blick fühlte Agnes sich wie ein Eindringling. Unsicher stand sie auf. »Hast du viele Schularbeiten zu machen?«
»Ja.«
»Ich könnte dir helfen!«
»Die mach’ ich jeden Tag allein!«
»Und – was tust du sonst so?« fragte Agnes weiter.
Ulla kniff die Augen zusammen und schwieg.
»Du«, sagte Agnes, »ich glaube, du magst Pensionsgäste nicht, oder?«
»Sie fragen so viel!« Die Antwort kam heftig. »Gehst du gern zur Schule? Wie alt bist du denn? Was willst du denn mal werden?« ahmte sie mit schriller Stimme die lästigen Fragen nach.
»So was habe ich doch noch gar nicht gefragt!«
»Aber du guckst so, als ob du das fragen wolltest.«
Die Abfuhr war deutlich. Agnes nahm ihre Zeitung und ging lächelnd hinaus. Ihr Lächeln war nicht echt. Ulla mußte ihre Unsicherheit spüren, ihre Herablassung, wenn sie mit ihr redete. Wie sehr mußte das kleine Mädchen die Fremden hassen, die sich in ihrem Haus breitmachten, in der Küche saßen, wenn man nach Hause kam, einem beim Schularbeitenmachen zusahen und auch noch dumme Fragen stellten.
Agnes drehte an dem Heizungsknopf in ihrem Zimmer. Die Heizung blieb kalt, und aus dem Wasserhahn kam auch nur kaltes Wasser. Wenn sie warm werden wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als unter die Bettdecke zu kriechen. Sie legte ein Paket Käsegebäck, das noch von der Reise übriggeblieben war, neben sich in Griffnähe und schlug die Zeitung auf. Der Junge hatte recht gehabt, hier war nichts los, wenn man von einer Versteigerung und einem Scheunenbrand absah. In der großen Kurve vor dem Ortseingang war ein Auto in den Straßengraben gefahren, und ein Paar feierte seine Diamantene Hochzeit.
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