Angelika Kutsch - Nichts bleibt wie es ist

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Silke arbeitet als Schreibkraft in einem Großkonzern. Als sie befördert wird, freut sie sich auf die neue Wohnung, die sie sich bald leisten kann. Dann kann sie endlich mit ihrem Freund Armin zusammenziehen und sie müssen sich nicht mehr bei Silkes Großmutter treffen. Wenn sich doch nur Armin genauso für sie freuen könnte. Seit er aus Polen nach Deutschland gekommen ist, ist es für ihn bergab gegangen, bis er schließlich keine Arbeit mehr hatte. Armin entschließt sich, nach Polen zurückzukehren…AUTORENPORTRÄTAngelika Kutsch wurde am 28. September 1941 in Bremerhaven geboren. Nachdem sie zunächst einige Jahre als Büroangestellte tätig war, wurde sie Lektorin in einem Kinderbuchverlag in Hamburg. Heute arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin von Kinder- und Jugendbüchern. Inspiration für ihre ersten beiden Bücher «Der Sommer, der anders war» und «Abstecher nach Jämtland» fand sie in ihren zahlreichen Aufenthalten in Schweden, die auch zu ihrer Karriere als Übersetzerin schwedischer Literatur beigetragen haben. Ihr Jugendbuch «Man kriegt nichts geschenkt» wurde 1975 mit dem Sonderpreis zum deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet und 2012 erhielt Angelika Kutsch den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr übersetzerisches Gesamtwerk.-

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Angelika Kutsch

Nichts bleibt wie es ist

Saga

I

Wenn Silke sich auf Zehenspitzen stellte und so weit vorbeugte, daß ihre Nase die Fensterscheibe berührte, konnte sie sehen, ob Armin draußen vor dem Tor auf sie wartete.

Die Fensterscheibe hatte schon viele Flecken von ihrer Nase, denn jeden Tag um fünf Minuten vor halb fünf stellte Silke sich auf Zehenspitzen und drückte die Nase gegen die Fensterscheibe. »Kein Wunder, daß ich meine Kakteen nicht mehr zum Blühen bringe«, sagte Frau Kassun, wenn sie schlecht gelaunt war. »Das kommt nur daher, weil Sie dauernd auf der Fensterbank herumturnen!«

Um fünf Minuten vor halb fünf klang das Klappern der Schreibmaschinen im Saal nur noch wie vereinzeltes Tropfen aus einem Baum nach dem Regen, während es tagsüber wie das Geprassel eines endlosen, heftigen Regenschauers war. Kurz vor Feierabend klapperten nur noch die Nachzügler, die mit der letzten Platte nicht fertig geworden waren.

Obwohl Armin jeden Tag da draußen vor dem Tor stand, konnte Silke es nicht lassen, aus dem Fenster zu gucken. Ein bißchen war es der Test, ob sie ihn noch gern hatte. An dem Tag, an dem sie nicht mehr diesen Stich im Bauch fühlte vor lauter Freude, ihn zu sehen – an dem Tag war es aus mit der Liebe. Dachte sie. Ein bißchen war es auch die Angst, er könne eines Tages nicht mehr dastehen, obwohl sie ihn noch gern hatte. Er könnte einfach wegbleiben, weil er mit einer anderen ging oder weil er anfing, in Kneipen oder Spielhöllen herumzuhängen. Wundern würde es sie nicht, aber Angst hatte sie trotzdem. Ja, wenn er endlich wieder Arbeit fände, dann könnte sie es gut ertragen, ihn nicht am Tor zu sehen. Dann würde sie gern allein nach Hause gehen.

Aber Armin hatte keine Arbeit. Heute stand er genauso da wie gestern und vorgestern, wie in der letzten Woche und im letzten Monat. Er hatte den langen Schal bis über den Mund gewickelt und die Hände tief in die Jackentaschen vergraben. Mit hochgezogenen Schultern stand er zwischen wartenden Ehefrauen und Freundinnen.

Es war kalt. Im Februar erwartete man nichts anderes. Eigentlich gehörte Schnee dazu und klirrender Frost. Aber es war eben nur grau und naßkalt wie immer. In spätestens zehn Minuten mußten sie sich wieder mit den immer gleichen Fragen herumquälen: Was machen wir heute? Wohin gehen wir heute?

In spätestens zehn Minuten konnte sie ihm aber auch um den Hals fallen und erzählen, was heute passiert war. Denn dieser 19. Februar war ein besonderer Tag. Kündigungstermin, der Tag, an dem man »den Stuhl vor die Tür gestellt bekommt«. Oder der Tag, an dem man selbst kündigte, alles hinwarf, dem Chef die Meinung sagte.

Als Silke ins Personalbüro gerufen wurde, dachte sie, nun sei sie an der Reihe. Schon im letzten Quartal hatten einige dran glauben müssen. »Der Wasserkopf muß weg, die Rezession, Sie verstehen.« Auf dem Weg ins Personalbüro hörte sie in Gedanken schon alles, was man ihr gleich sagen würde. Eigentlich brauchte sie gar nicht mehr hineinzugehen. Ob es denen eigentlich leicht fiel, so etwas zu sagen? Was empfanden die eigentlich dabei? Vielleicht schlief der Personalchef schlecht vor dem Kündigungstermin? Vielleicht hatte er jetzt ein bißchen Magenkneifen?

Das mußte sie herauskriegen. Diesen letzten unangenehmen Augenblick wollte sie ihm nicht ersparen, wenn sie schon gehen mußte.

Und dann saß er da hinter seinem Schreibtisch mit dem vollen Terminkalender und dem Apparat mit den vielen Knöpfen, lächelte sie an, als kenne er sie wieder, obwohl sie ihm nach der Einstellung nie mehr begegnet war, und setzte zu einer hübschen Rede an. Weil sie aber etwas ganz anderes erwartet hatte, konnte sie gar nicht gleich begreifen, worum es eigentlich ging, sagte nur immer »ja« und »danke«, als hätte sie etwas geschenkt gekriegt. Dabei stand es ihr doch zu, wenn sie seinen Worten glauben durfte, das Aufrücken und der Mehrverdienst. Weil sie so tüchtig war, so schnell und so zuverlässig, immer da, wenn man sie brauchte – jemand, der zu schade war, um im Schreibsaal nur Briefe nach Platten abzutippen.

Gleich würde sie es Armin erzählen. Sie hatte ja immer noch nicht begriffen, was es eigentlich bedeutete. Vielleicht würden sie sich bald ein eigenes Zimmer leisten können von dem neuen Gehalt? Vielleicht würden Armin und sie endlich zusammenziehen können?

Unter ihrem Fenster hörte sie schon vereinzelte Schritte. Gleich, wenn die Sirene heulte, würde das Geräusch zu einem einzigen Schlurfen und Schurren anwachsen. Spätestens in dem Augenblick war der Saal normalerweise wie leergefegt. Aber heute scharten sich alle um die kleine Blasse in der Ecke. Ihr war gekündigt worden. Ganz verheult war sie vom Gang aus dem Personalbüro wiedergekommen. Sie hatte zwar noch eine Schonzeit von sechs Wochen, räumte aber ihre Schubladen aus, als wolle sie nie wiederkommen. Süßstoffbehälter, Teebeutel und Salmiakpastillen verschwanden in ihrem Täschchen, und alle schauten ihr teilnahmsvoll zu.

Silke wollte sich an der Gruppe vorbeidrücken. Aber das Röschen, das eigentlich Fräulein Rose hieß, hielt sie auf.

»Was ist los? Sie haben mir gar nicht erzählt, was die von Ihnen wollten!«

Das Röschen war Silkes Nachbarin im Schreibmaschinensaal. Sie verstanden sich gut und fanden mitten in dem Geklapper und der Hektik immer noch ein bißchen Zeit, miteinander zu reden. Das Röschen hatte immer ein Stück Schokolade in der Schublade, wenn Silke Appetit darauf hatte, und für jedes Wehwehchen das richtige Medikament. Dafür hörte Silke sich alles an, was das Röschen, alleinstehend und schon Mitte Dreißig, am Wochenende erlebt hatte, wer sie angerufen und was gesagt hatte.

»Sie sind doch nicht gefeuert?« fragte das Röschen ängstlich. Ihr lag viel an Silkes Nachbarschaft.

»Das nicht.« Silke zögerte.

»Was denn also? Da sollte doch ein Aber kommen?«

»Ich werde zum 1. April versetzt.«

»Wieso versetzt? Der Laden hat doch keine Zweigstellen!«

Silke seufzte. Wie schwer es war, jemandem, den man gern hatte, beizubringen, daß man eins vorrückte, weg von den anderen. In diesem Augenblick kam es ihr wie Verrat vor.

Sie sagte schnell, was zu sagen war. Block V, dritter Stock, Sekretariat vom Vertriebsleiter. Da gab es individuelle Briefe zu tippen, Termine zu überwachen und Telefongespräche zu vermitteln. Da war man nur zu viert.

Das Röschen starrte sie an. »Zu den Schnepfen«, sagte sie gedehnt. »Diese eingebildeten Ziegen, die einen angucken, als ob man eine Klofrau wär, wenn man ihnen mal was bringen muß. Sie freuen sich doch nicht etwa drauf?«

»Ich kann das Geld brauchen«, sagte Silke. »Sie werde ich schon nicht so angucken, wenn Sie mich mal besuchen kommen. Klofrauen kann ich übrigens gut leiden.«

Röschen guckte nach, ob sie auch genügend Papiertaschentücher für den Heimweg hatte, denn sie war verschnupft. »Aus den Augen, aus dem Sinn«, murmelte sie in ihre Tasche hinein. »Quatsch«, sagte Silke. »Ich brauch Sie doch! Sie sind die einzige, mit der ich hier reden kann!«

»Weil ich neben Ihnen saß.«

»Wir sitzen ja noch eine Weile nebeneinander«, sagte Silke. »Sie werden schon sehen. In Zukunft rufe ich Sie auch sonntags an, und wir erzählen uns alles, was in der Woche passiert ist. Und wenn ich erst mal ein eigenes Zimmer habe, weil ich mir das vielleicht bald leisten kann, kommen Sie mich besuchen, und wir trinken russischen Tee. Den mögen Sie doch so gern.« Sie waren die letzten, die gingen. Der Weg zum Tor war nicht weit, denn ihr Schreibsaal war im ersten Gebäude der riesigen Anlage untergebracht.

»In Zukunft werden Sie ein bißchen länger brauchen, ehe Sie draußen sind», sagte das Röschen. »Ich werde auf Sie warten.« Dann sah sie Armin, der jetzt allein dastand. Die Frauen waren schon alle weg. »Wenn Ihr Freund Sie mal nicht abholt«, fügte sie schnell hinzu.

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