»Frauchen?« Das war Tyner, der seine temporäre Mitgliedschaft im Mädchenclub zu genießen schien. Tess kam es vor, als würde er ihr gleich einen Lippenstift oder ein Mascarabürstchen hinhalten. »Ich hätte nie gedacht, dass du mal so etwas Sexistisches sagen würdest, Whitney. Du meinst doch wohl Gattinnen.«
»Nein, ich meine Frauchen. Kleine Frauen. Helferinnen. Es gibt nur eine Frau in den oberen Rängen des Beacon, sie ist Managing Editor und hat die größten Eier von allen. Sie war mal verheiratet, vielleicht auch zweimal, aber ich glaube, die Typen sind jetzt im Zeugenschutzprogramm. Nun begnügt sie sich mit einem Sklavenjungen zu Hause, der nichts als eine gerüschte Schürze trägt und mit einem Scotch bereitsteht, wenn sie gegen zehn oder elf nach Hause kommt.«
»Klingt für mich nicht schlecht«, sagte Tess.
»Du hast doch auch so einen, oder?«
Die Familie Pfieffer, Gründer des Beacon , hatte vieles richtig eingeschätzt. Aber nicht die Entwicklung auf dem Immobilienmarkt. Die Familie war davon ausgegangen, dass sich die Stadtmitte über die Jahre nach Westen bewegen würde, über die großen Kaufhäuser hinweg in Richtung der Howard Street. Also hatte Pfieffer III. nach dem Zweiten Weltkrieg, als die wachsende Zeitung ein neues Gebäude benötigte, in der Saratoga Street gebaut, nahe dem zehnstöckigen Hutzler’s, dem größten aller Kaufhäuser. Das Ergebnis war ungeheuer langweilig, ein Gebäude aus braunen Ziegeln, das überhaupt keinen Stil hatte. Den einzigen Charme hatte ein echter Leuchtturm ausgestrahlt, ein Bakelit-Leuchtfeuer, das auf einer kleinen Plattform über dem Eingang strahlte. Doch diesen Leuchtturm hatte man in den Siebzigern abgebaut, er war jetzt der heilige Gral der Sammler. Das Stadtmuseum würde alles für ihn geben, aber gerüchteweise hieß es, dass ein ehemaliger Star-Kolumnist ihn auf einem Flohmarkt aufgetrieben hatte und jetzt im dritten Stock seines Stadthauses in Bolton Hill aufbewahrte, wo er quasi voodoohafte Rituale abhielt, um Baltimore zur ersten Großstadt ganz ohne Zeitung zu machen.
Tess schaute hoch zur leeren Plattform, als sie über die niedrigen, breiten Stufen schritt, sie ging zwischen vom Winde verwehten McDonald’s-Einwickelpapieren und zerknitterten Zeitungsseiten hindurch. Die wenigen Kaufhäuser, welche die Achtziger überlebt hatten, waren lange aus der Innenstadt verschwunden. Ein Penner schlief zwischen den Narzissensprösslingen in einem ungepflegten Blumenbeet. Scheibenwischer – genau genommen Scheiben wischende Erwachsene und sogar ein paar Scheiben wischende Rentner – standen an der Kreuzung. Wie die Pfieffers es vorhergesehen hatten, war der Stadtkern gewandert. Nur in die andere Richtung, gen Süden und Osten, zum Wasser hin. Der Beacon war ein einsamer und unbequemer Außenposten am Rande der städtischen Wildnis. Reporter trösteten sich mit der Nähe zu zwei der besten Essgelegenheiten in Baltimore, den offenen Ständen des Lexington Market und den weißen Tischtüchern des Marconi. Der Beacon lag auch angenehm nahe bei der Kirche Saint Jude Shrine. Glaubte man den Zeitungsgerüchten, pilgerten die Reporter nach Abgabe dorthin und beteten zum Heiligen der nutzlosen Wünsche: »Bitte, Heiliger Judas, lass die Chefs meine Story nicht kaputt machen.«
Feeney hatte Tess von diesem Ritual erzählt. Und jetzt musste sie sich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass Feeney derjenige war, der es vermasselt hatte. Es kam ihr unwahrscheinlich vor – ganz sicher war er zu betrunken gewesen, sich in das Gebäude zu schleichen, ein bisschen in den Computern herumzuhacken und spurlos zu verschwinden. Aber wenn die Spur zu ihm führte, dann war Tess entschlossen, ihn zu beschützen, selbst wenn sie noch keine Ahnung hatte, wie das gehen sollte.
Im fünften Stock drängte die Sekretärin des Herausgebers, eine dieser merkwürdig besitzergreifenden Frauen, die immer an den Ellenbogen mächtiger Männer klebten, Tess in einen leeren Konferenzsaal, der sich neben dem Herausgeberbüro befand. Es war ein opulenter Saal, in dem man richtig auffahren konnte. Heutzutage gab es natürlich nur Kaffee und Croissants, aber früher wurden hier die wichtigsten Einwohner der Stadt verköstigt. Mahagonitisch, orientalischer Teppich, ein silbernes Teeservice auf einem Mahagoni-Sideboard, die unvermeidlichen Aquarelle Baltimores im 19. Jahrhundert. Wie mussten sich die Ressortleiter vorkommen, die immer wieder aus diesem schicken Saal runter in die chaotische Redaktion mussten? Diejenigen, die dazu da waren, die Brücke zu schlagen zwischen dieser Kommerzialität und den romantischen Idealen des Journalismus? Wie gelang es ihnen, diese beiden Welten miteinander zu verbinden, die Geschäfte und den Inhalt?
Amnesie, dachte sich Tess. Leitende Redakteure vergaßen ziemlich schnell, was sie von Reporterarbeit verstanden. Wenn ein Mann namens Smith mit seinem Laster in ein Restaurant fuhr und dabei fünf Leute umbrachte, verstanden leitende Redakteure nicht wirklich, wieso man den Kerl nicht anrief und nach allen Details fragte. »Seine Nummer steht doch bestimmt im Telefonbuch«, sagten sie, als gäbe es nur einen Smith und als wäre er nicht im Gefängnis, wo es kein Telefon gab. Und wenn man wie durch irgendein Wunder tatsächlich diesen Smith fand und die ganze Story anschleppte, sagten Redakteure: »Ja, dafür bezahlen wir dich auch.« Oder: »Morgen ist voll, das muss warten.«
Und jetzt musste sich Tess drei von diesen gedankenlosen Monstern zugleich stellen, und dazu noch dem Herausgeber. Dem Executive Editor, dem Managing Editor und dem Deputy Managing Editor.
»Gleich drei leitende Redakteure«, sagte sie laut und schaute zum Fenster raus gen Norden. »Na ja, Herkules hat ja auch die Hydra besiegt.«
»Und die hatte neun Köpfe.«
Ein Mann war hinter ihr in den Saal gekommen, ein Mann mit rosa Wangen und braun schimmerndem Haar, das ihm in die Augen fiel. In Bluejeans und T-Shirt wäre er für 25 durchgegangen. In seiner grauen Wollhose, mit dem roten Schlips und dem blau-weiß gestreiften Oxford-Hemd sah er mehr wie 45 aus. Aber wie niedliche 45, fand Tess und betrachtete seine muskulösen Unterarme, das breite Grinsen, die jungenhafte Art, mit der er sich das Haar aus den Augen strich.
»Jack Sterling«, sagte er und streckte die Hand aus. »Ich bin der Deputy Managing Editor.«
»Tess Monaghan.« Aus Gewohnheit packte sie seine Hand fest, so wie sie Rositas gedrückt hatte, als sie einander kennenlernten. Aber Jack Sterling drückte noch fester zurück. Nervös ließ sie los, sie verspürte ein Gefühl, das sie im Grunde gar nicht benennen wollte.
Er setzte sich auf die Kante des polierten Tisches. Er betrachtete sie ganz offen, ließ seine rechte Hand kreisen und massierte mit der linken das Handgelenk.
»Baltimore-Gewächs«, sagte er und sprach zu sich, als stünde sie auf der anderen Seite eines Einwegspiegels. »Aber mit irgendetwas gemischt. Etwas Solides, gute Landgene. Vielleicht 27 oder 28 Jahre alt. Sportlich. Mag weder Strumpfhosen noch Diätgetränke. Hab ich recht?«
»Aus dem Mittleren Westen«, entgegnete sie. Und fuhr fort: »Protestantischer Maisbauernjunge, einstmals Wunderkind, immer noch Wunder, aber nicht länger Kind. Spielt wahrscheinlich Rackettball – er dehnt die Gelenke und reibt sich die Unterarme, wenn er spricht, so wie es Sportler machen. Hab ich recht?«
Sterling lachte. Gut, er hatte Humor. »Nicht schlecht. Das Spiel ist Squash, wenn mein Rücken mitmacht, und mein Handgelenk tut weh, weil 22 Jahre in diesem Geschäft mir ein chronisches Karpaltunnel-Syndrom eingetragen haben.«
Wieder massierte er sein Handgelenk, dann ließ er die Hand plötzlich sinken, als hätte er jetzt erst bemerkt, was er da tat. »Mittlerer Westen? Ja, Oak Park, Illinois, ist wohl so sehr Mittlerer Westen, wie es nur geht. Wie sind Sie darauf gekommen? Ich dachte, ich hätte mir in den letzten paar Jahren ein bisschen Ostküstenschmiss zugelegt.«
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