Der Tag, an dem ich von Opa Ludwigs Tod erfuhr, ist mir noch sehr präsent. Wir hatten ihn schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen, als ich meinen Vater fragte, ob wir demnächst mal wieder nach Spanien fahren würden. »Der Opa will euch bald mal wieder besuchen kommen«, sagte er nur. Einige Tage später klingelte das Telefon. Mein Großvater war dran und bat nur darum, meinen Vater zu sprechen. Mehr sagte er nicht. »Papa ist nicht da, aber wann sehen wir uns denn wieder?« – »Sehr bald, ich komme irgendwann zu euch«, antwortete er kurz angebunden. So hatte ich ihn bislang nie erlebt. Zwei Wochen später war er tot. Sein Herz hatte plötzlich aufgehört zu schlagen. Er war einfach fort aus unserem Leben, keiner von uns hatte die Gelegenheit, sich zu verabschieden.
Wieder zwei Jahre später starb dann mein Urgroßvater, Johann Wald. Er wohnte in Unterschleißheim direkt neben meiner Oma, seiner Tochter, die sich bis zum Schluss um ihn kümmerte, sein Essen kochte, mit ihm spazieren ging. Manchmal hatte er uns von seinen Kriegserlebnissen erzählt. Schon vor dem Krieg war er als Sanitäter für das Rote Kreuz im Einsatz gewesen, und später in Frankreich hatte er sich, obwohl nur einfacher Soldat, an der Front um die Verwundeten gekümmert. Einmal gerieten sie in einen Hinterhalt, einige flüchteten, um sich in Sicherheit zu bringen; er blieb zurück, weil er die verletzten Kameraden nicht ihrem Schicksal überlassen wollte. Dieser Mut rettete ihm das Leben. Sie waren noch nicht weit gekommen, da erfasste die Flüchtenden eine Granate. Keiner überlebte, nur mein Großvater und die zurückgebliebenen Verwundeten. Die Splitter verletzten ihn allerdings schwer, zeitweise verlor er sein Augenlicht, erst nach einem Jahr konnte er wieder sehen. Rückblickend glaube ich, dass das Erzählen dieser Geschichten seine Art war, die Kriegsgeschehnisse zu verarbeiten. Er zeigte uns die Narben, die die Granatsplitter in seinem Nacken hinterlassen hatten. Teilweise steckten noch Splitter in ihm. Im Alter kamen sie immer weiter zum Vorschein, einer nach dem anderen. Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, was er damals erlebt haben mag. Trotzdem hat er mich durch seine Erzählungen geprägt, und obwohl ich mit dem Thema Krieg kaum in Berührung kam, so war es mir durch ihn doch irgendwie nah.
4
Als mir die Luft wegblieb
Mit Allergien kenne ich mich – leider – bestens aus. Viele Jahre waren sie meine treuen Begleiter. Zu jeder Jahreszeit und bei jeder Gelegenheit gab es etwas, das mein Körper nicht vertrug: von Hausstaub über Pollen bis zu Tierhaaren und manches mehr – ich könnte von allem ein Lied singen. Am stärksten schränkte mich im Alltag allerdings das Asthma ein.
Vor meinem sechsten Lebensjahr war mir – und auch meinen Eltern – überhaupt nicht bewusst, dass ich damit ein Problem hatte. Bis dahin war ich beschwerdefrei. Doch dann kam der Tag X – mein erster Asthmaanfall. Wir waren, wie ich erwähnte, mit meiner Oma zu Besuch in Ungarn. Urlaub auf dem Bauernhof. Es war Sommer, alles grünte, alles blühte. Wir wälzten uns auf den Wiesen und tollten im Heu herum. Das absolute Highlight war in der Scheune eine Maschine für Maiskolben. Man warf den Maiskolben oben hinein, und die Maschine trennte die Körner vom Kolben ab. Dabei staubte es gewaltig, machte aber einen irren Spaß. Wir wollten gar nicht mehr aufhören und schmissen immer wieder neue Maiskolben hinein. Natürlich gab es auch Tiere auf dem Hof, die wir zum Streicheln und Schmusen besuchten. Alles in allem ein Paradies für Kinder. Bis zu dem Zeitpunkt, als mir plötzlich die Luft wegblieb. Dazu war mir nur noch schwindelig. Im ersten Moment glaubten meine Eltern, ich hätte mir etwas eingefangen. Oder der Staub und die Tierhaare wären vielleicht nur ungewohnt für ein Stadtkind. Nachdem weder feuchte Tücher noch andere Hausmittelchen meinen Zustand verbesserten, brachen wir die Ferien verfrüht ab und fuhren nach Hause. Dort erholte ich mich bald. Gut, dachten sich meine Eltern, war wohl alles etwas viel für Cathy.
Wir hatten den Vorfall beinahe vergessen bis zu dem Tag, an dem meine Freundin Marina zu Hause ihren Geburtstag feierte. Eine typische Kinderparty. Wir tranken Cola, aßen Erdnussflips, spielten Sackhüpfen und Topfschlagen, hatten eine Menge Spaß. Ein Detail dieses Tages ist mir noch im Gedächtnis. Ich sah eine Schachtel rote Marlboro auf dem Tisch im Flur liegen. Dazu muss ich erklären, dass ich schon als Kind einen Ekel vor Zigarettenrauch hatte und Menschen mied, die rauchten. Nein, ich mied sie nicht nur, ich wollte sie am liebsten bekehren. Mein Urgroßvater hatte mit über achtzig Jahren eine Bypass-Operation überlebt, und ich weiß noch, dass der Arzt, während er meiner Mutter erläuterte, wie sie nun weiter verfahren würden, selbst eine Zigarette rauchte. »Wieso rauchst du? Davon wird die Lunge schwarz und der Bauch auch«, sagte ich altklug. Der Arzt schaute verdutzt, was denn die Kleine da redete, dann lächelte er, drückte die Zigarette aus und meinte: »Hast ja recht. Es ist nicht gut, dass ich rauche.« Mein Urgroßvater litt an einer Arterienverkalkung und natürlich hatte die Familie im Vorfeld ihre Bedenken bezüglich der OP geäußert, sie hatten Sorge, eines seiner Beine müsse möglicherweise abgenommen werden. Und dann war da seine schwarze Lunge von den Zigaretten, die er in seinem langen Leben inhaliert hatte. Alle diese Bilder prägten sehr früh meine Einstellung zum Thema Rauchen. Kein Wunder, dass ich jeden bekehren wollte. Meine Mutter gestand mir später, sie selbst habe sich kaum noch getraut, sich ab und an mal eine Zigarette anzustecken. Dass das bloß die Cathy nicht mitbekommt, hieß es. Ich machte alle um mich herum ganz kirre mit meiner direkten Art. Dabei hatte ich immer nur die Angst, einen Menschen zu verlieren.
An jenem Tag im Haus meiner Freundin Marina fiel mein Blick auf diese Zigarettenschachtel und sofort war ich darauf fixiert. Plötzlich roch ich überall Zigarettenrauch, der gar nicht vorhanden war, und mir gingen solche Gedanken durch den Kopf wie: »Wenn die Mama von Marina raucht, dann fängt die auch irgendwann damit an, und dann verliere ich sie …« Total blöd eigentlich, aber so dachte ich damals. Während wir gegen Nachmittag in Marinas Zimmer spielten, merkte ich, wie ich immer schlapper wurde, bis ich mich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Wie Kinder so sind, wollte ich natürlich nicht die Party verlassen. »Mir ist nur etwas schwindelig«, beruhigte ich meine Freundin. Und hatte keine Ahnung, was mit mir los war. Wir gingen in ein anderes Zimmer, um Marinas Meerschweinchen zu streicheln. Und das war’s dann, ich kippte einfach um.
Ich hatte eine extrem starke Tier- und Hausstaubmilbenallergie, die einen Asthmaanfall auslöste – was aber keiner bis dahin wusste. Mir blieb die Luft weg, ich konnte einfach nicht mehr atmen. Marinas Mutter war sofort zur Stelle, packte mich und brachte mich nach draußen an die frische Luft. »Atme«, rief sie, »atme tief ein.« Es ging nicht, mittlerweile war ich schon apathisch, die Lippen liefen blau an. Sie rief meine Mutter an, die in wenigen Minuten da war und mich umgehend zum Kinderarzt schleppte, dessen Praxis ganz in der Nähe lag. Dem war sofort klar, dass die Situation ernst war. Er spritzte mir zwei Ampullen Cortison in die Vene und rief einen Krankenwagen. Erst in der Klinik normalisierte sich mein Zustand. Ich war fix und fertig; ich lag in der Notaufnahme, an das meiste kann ich mich nicht erinnern, aber dass ich einen lilafarbenen Pullover mit dem Aufdruck »ABC« trug, komisch, dieses Detail weiß ich noch. Im Krankenhaus wurde ich rundum durchgecheckt. Die Diagnose lautete Asthma.
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