Als mein Großvater starb, zerbrach etwas in mir. Zum ersten Mal wurde ich mit dem Thema Tod konfrontiert. Es war Herbst, Ende September, und ich ging in die fünfte Klasse des Gymnasiums. Bereits in der Früh wunderte ich mich, warum meine Mutter nicht zu Hause war. Dass sie das Haus vor uns Kindern verließ, kam eigentlich nie vor. Auf die Frage, wo Mama sei, antwortete mein Vater wortkarg, sie habe etwas zu erledigen, ich solle mir aber keine Sorgen machen. Aber ich spürte, irgendwas stimmte da nicht. Später erfuhren wir: Meine Mutter war am Abend ins Krankenhaus gerufen worden, wo sie die Nacht bei ihrem Vater verbracht hatte. Als ich mittags aus der Schule nach Hause kam, parkten die Wagen meiner Oma und meiner Tante vor unserer Einfahrt. Ich rannte ins Haus und fand meine Mutter in der Küche. Sie nahm mich in den Arm und sagte sanft: »Der Opa ist heute Nacht gestorben.« Ich dachte in dem Moment, sie meinte meinen lieben Uropa (er war damals schon achtundachtzig), und sagte: »Er war doch aber auch schon sehr, sehr alt, Mama.« – »Nein, mein Schatz, mein Papa ist gestorben. Nicht der Uropa. Dein Opa Albert hatte einen Herzinfarkt.« Das konnte doch nicht sein, dachte ich. Kurz zuvor noch hatte ich ihn besucht. Nein, bestimmt irrten sich alle. Es musste sich um meinen Urgroßvater handeln, er hatte einen Herzinfarkt, nicht mein Opa.
Mein Bruder Basti und ich (auf dem Arm meines Großvaters Albert)
Aber natürlich irrten sie sich nicht. Opa Albert, mein zweiter Vater, mein Heiligtum, war nicht mehr da. Er wurde nur zweiundsechzig Jahre alt. Meine Mutter war am Boden zerstört, ebenso meine Großmutter, wir alle konnten es nicht fassen. Das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte, da saßen mein Cousin und ich bei den Großeltern im Keller, schauten fern und aßen die Honigpops von Kellogg’s, unsere Lieblingsnascherei. Unser Opa kam die Treppe herunter, schick angezogen, mit weißem Hemd, und fragte, was wir hier so spät noch machten. Und mein Cousin und ich riefen mit vollem Mund: »Opa, wir essen Popsies und gucken Schlümpfe.« Mein Großvater musste schmunzeln und schickte uns nach Hause. Wir lachten nur und versprachen, gleich weg zu sein. Stattdessen schlichen wir uns zur Vorratskammer und plünderten die Eistruhe. Großvater musste das mitbekommen haben, wollte uns den Spaß aber nicht verderben. Seitdem träume ich davon, dass er mir noch einmal begegnet und dass ich ihm Lebewohl sagen kann.
Solange ich zurückdenken konnte, schaute ich fast täglich bei meinen Großeltern vorbei, und sei es nur, um kurz Hallo zu sagen. Nach dem Tod meines Opas änderte sich das. Ich brachte es nicht mehr übers Herz, in ihrem Haus zu sein. Es tat weh. Es tut heute immer noch weh. Alles sah noch genauso aus, äußerlich hatte sich kaum etwas verändert. Aber mein Opa fehlte. Im Nachhinein tut es mir leid für meine Großmutter. Auch sie ist ein herzensguter Mensch und wenn ich sehe, dass sie nun langsam körperlich abbaut, wünschte ich, ich hätte damals die Stärke gehabt, sie weiterhin so oft zu besuchen. Heute bereue ich das, aber damals konnte ich mich einfach nicht überwinden.
Großvater Albert starb, da war ich zehn. Und nur zwei Jahre später verlor ich meinen anderen Opa. Obwohl ich ihn nicht so gut kannte und nicht so häufig sah, liebte ich auch ihn abgöttisch. Er war eine beeindruckende Persönlichkeit. Ein Kosmopolit, ein Lebemann und zeitlebens ein kleiner Casanova. Monaco Franze in real. Die Tendenz zu einem ausschweifenden Lebensstil war ihm vielleicht in die Wiege gelegt. Beispielhaft dafür ist die Geschichte, als der Urgroßvater meines Vaters einen seiner Söhne, den »schönen Sebastian«, während der Weltwirtschaftskrise nach Berlin schickte, um einen Traktor zu kaufen. Zwei Wochen später kehrte er unverrichteter Dinge zurück von der Reise, ohne Traktor und völlig abgebrannt. Daraufhin fuhren mein Uropa und sein Sohn gemeinsam nach Berlin, um den Traktor zu kaufen. Kurze Zeit später waren sie wieder zu Hause, ohne Traktor und ohne Geld. Nur wenige Tage später erschien ein Bild in einer Zeitung, darauf zu sehen waren Vater und Sohn auf dem Kurfürstendamm, neben ihnen eine Prostituierte, und beide tranken Champagner aus einem Damenschuh, welcher offensichtlich der Dame gehörte.
Ich weiß nicht, ob diese Geschichte wirklich stimmt, in unserer Familie zumindest galt sie immer als Beleg dafür, dass mein Opa für sein flamboyantes Auftreten ja gar nichts konnte. Hinzu kam, dass er ein sehr attraktiver Mann war. Mit ganz viel Charme. Ein echter Charmebolzen. Eine Geschichte, die ihn als Typ charakterisiert, spielte sich anlässlich der Taufe meines Vaters ab. Dieser sollte ursprünglich Alfredo heißen, inspiriert durch den Charakter irgendeiner Seifenoper. Das missfiel Opa Ludwig. Am Tag der Taufe wendete sich das Blatt. Mein Großvater zündete sich eine Zigarre an und brannte mit ihrer Glutspitze ganz nonchalant auf der Urkunde das »o« aus dem »Alfredo« heraus. So kam es, dass mein Vater ein Alfred wurde. Das war eine ganz typische Opa-Ludwig-Aktion.
Als Architekt baute mein Großvater wunderschöne Häuser und verdiente eine Menge Geld in Zeiten, in denen es in Deutschland wirtschaftlich immer nur bergauf ging. Er bewegte sich in den sogenannten »besseren Kreisen«, also bei denen, die das nötige Kleingeld besaßen, um seine Prachthäuser zu erwerben. Karl-Heinz Rummenigge zum Beispiel gehörte zu seinem Kundenstamm. Die meiste Zeit arbeitete er von Nürnberg aus, war aber, wie schon erwähnt, international tätig. Er besaß ein Boot und eine Villa in Spanien zwischen Valencia und Alicante, Moraira hieß der Ort, wo er seine letzten Jahre verbrachte. Das Haus war imposant, hatte diverse Gästezimmer und einen großen Pool. In der Garage gab es einen kleinen Fuhrpark.
Da Opa Ludwig nur noch selten nach Deutschland kam, sah ich ihn nicht häufig. Trotzdem hing ich an ihm – und er an mir. Ich erinnerte ihn an seine eigene Mutter, an meine Uroma Katharina. Ich sei ihr, meinte er, von den Gesichtszügen, aber auch vom Charakter her ähnlich. Vielleicht war ich deswegen ein bisschen sein Liebling. Wenn wir ihn in den Ferien in Spanien besuchten, wollte ich am liebsten Pizza essen gehen. Ja, ich weiß, das klingt verrückt. Fand auch seine neue Frau. »Wir sind in Spanien, also essen wir etwas Spanisches«, hielt sie mir vor. Ludwig schlug sich jedes Mal auf meine Seite. Ich gebe zu, er ließ sich schnell von seiner Enkelin um den Finger wickeln. Dann zwinkerte er mir zu und ich wusste: Meine Pizza war nicht weit.
Seine Frau und ich waren uns nicht grün. Ich schaffte es immer wieder, sie in Rage zu bringen. Legte ich es darauf an? Na ja, vielleicht ein bisschen. Mein Bruder und ich hatten zum Beispiel die Angewohnheit, aus den Liegestühlen am Pool eine Höhle zu bauen. Dazu schoben wir alle Liegen zusammen, stapelten darüber die Polster und zusätzlich die Kissen der Stühle – fertig war unser Eigenheim in bester Pool-Lage. Einmal hatten wir gerade alles schön aufgebaut, gingen essen (Pizza!) und ließen die Höhle zurück. Zwischenzeitlich zog eine Gewitterfront auf, und es fing furchtbar an zu regnen. Als wir zurückkehrten, hatte der Sturm unsere Höhle über das gesamte Grundstück verteilt. Die Sofagarnitur und die wertvollen handbestickten Kissen waren im Pool gelandet – und unbrauchbar geworden. Meine Stiefoma kochte vor Wut. Sie sah es auch mit Argwohn, wenn ich wieder mal zu viele Badetücher benutzt hatte. Am Pool gab es einen Schuppen, in dem die Handtücher akkurat und säuberlich sortiert gestapelt lagen. Wenn wir den ganzen Tag am Pool verbrachten, konnte es passieren, dass der Schuppen am Abend leer und alle Handtücher in Haus und Garten verteilt waren. Mein Bruder machte sich dann über mich lustig, dass ich mich verhielt wie eine kleine Diva. Ach ja, Spanien war immer ein Erlebnis.
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