Um in die Eifel zu kommen, fuhren wir mit dem Zug von Köln nach Erdorf, wo uns Tante Ninis Sohn Walter mit seinem Goggomobil abholte. Ich weiß bis heute nicht, wie Walter es schaffte, meine Oma in dieses Auto zu bugsieren, denn sie war eine ziemlich korpulente Frau – und dazu noch unser Gepäck, das hochkant auf dem Rücksitz Platz fand und mit mir in der Mitte. In späteren Jahren, als mein Vater sein erstes Auto gekauft hatte, einen schilfgrünen VW Käfer, kamen meine Eltern normalerweise gegen Ferienende nach Messerich, um uns abzuholen. Unser VW kam mir dann immer riesig vor im Vergleich zum Goggo – und das war er wohl auch.
Eine der Bahnfahrten in die Eifel ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Es war an einem heißen Sommertag. Wir fuhren natürlich zweiter Klasse, in der man auf Holzbänken saß (daher „Holzklasse“!), und durch die heruntergeschobenen Fenster drang die warme sommerliche Luft. Ich saß neben meiner Mutter mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Uns gegenüber saß ein Herr mittleren Alters in einem dunkelblauen Anzug, weißem Hemd und passender Krawatte. Ich hatte Keuchhusten, und zwischen zwei Hustenanfällen wollte ich unbedingt einmal aus dem Fenster spucken und bat meine Mutter – immerhin! – um Erlaubnis. Natürlich ließ sie das nicht zu. Aber ich muss wohl so gedrängt haben, dass sie ihrem kranken Sohn irgendwann nachgab, und so stellte ich mich ans Fenster und spuckte aus Leibeskräften nach draußen. Leider reichten diese jedoch nicht aus, einen dicken Batzen Schleim durch den Fahrtwind hindurch nach draußen zu befördern, denn er kam auf gleichem Weg durchs Fenster wieder hereingeflogen und landete auf dem makellosen Revers unseres Mitfahrers. Entweder war es blankes Entsetzen oder eine Art Schockstarre, in die der Mann verfiel. Aber er rührte keine Miene. Meine entsetzte Mutter versuchte sogleich, den Schaden mit einem Taschentuch zu beheben, was ihr mehr schlecht als recht gelang. Zum Glück war es nicht mehr weit bis nach Erdorf, wo wir endlich aussteigen und dieser peinlichen Situation entkommen konnten. Da ich damals auch zu keiner Entschuldigung mehr zu bewegen war, möchte ich mich jetzt (better late than never!) hier in aller Form bei diesem Herrn entschuldigen; wenn er noch unter uns weilen sollte, erinnert er sich vielleicht noch an den Bengel, der ihm seinen Anzug vollgerotzt hat!
Meine Aufenthalte in der Eifel waren durchaus prägend, weil sie auch eine Zeit völliger Unbekümmertheit waren – eine Zeit, in der ich die Schule ja noch vor mir hatte und damit alle ernster werdenden Aufgaben, die sich mir stellen sollten. Hinzu kam, dass es Ferienzeiten waren, losgelöst vom Kölner Alltag – jeder Tag war dort besonders, die Menschen und der Eifeler Dialekt, den ich noch heute für mein Leben gern höre, das Essen, die Luft und die Landschaft.
Doch auch aus dieser Zeit völliger Unbekümmertheit ist mir ein Erlebnis in Erinnerung, das mich noch heute schaudern lässt. Wir – meine Oma und ich - waren zu Besuch bei einem nahen Verwandten - nennen wir ihn hier Manfred - der aber schon seit vielen Jahren nicht mehr lebt. Im Haus war Jirina, eine polnische Haushaltshilfe beschäftigt, ein hübsches junges Mädchen von vielleicht 15 oder 16 Jahren, die sich auch um mich kümmerte und mit mir – einem damals vielleicht 5-jährigen Jungen spielte. An einem heißen Sommernachmittag spielten das polnische Mädchen und ich vor der Tür und direkt neben dem Misthaufen mit einem Ball, als Manfred, damals etwa Mitte dreißig, aus dem Haus trat. Er trug seine blaue Arbeitshose und ein Unterhemd. Er sah uns eine kurze Weile zu, dann schrie er das Mädchen an – sie solle sofort zu ihm kommen. Jirina kauerte sich darauf auf den Boden und wimmerte nur – offenbar vor Angst. Da öffnete Manfred seinen Gürtel und zog ihn aus den Hosenschlaufen, während er langsam und bedrohlich auf uns zukam. Auch mich befiel nun eine tiefgründige Angst, obwohl ich eigentlich nicht wusste, wovor oder warum ich Angst haben sollte – aber diese Situation war plötzlich äußerst unheimlich. Manfred trat zu uns, sagte zu mir „nein – nicht du“ und griff nach Jirinas Arm. Sie wimmerte laut vor Angst, doch Manfred zog sie hinter sich her und verschwand mit ihr in der Scheune. Ich wagte es nicht, den beiden hinterherzulaufen und versteckte mich im Haus, bis meine Oma abends von einem Ausflug wieder zurückkam und somit wieder Normalität einkehrte. Wir reisten am nächsten Morgen ab, und ich weiß nicht, was aus Jirina geworden ist. Damals habe ich diesen Vorfall offenbar verdrängt. Doch in all den langen Jahren habe ich ihn nicht vergessen – er hat sich also ziemlich tief in meinen Erinnerungen eingenistet. Ganz offenbar war ich Zeuge geworden eines Aktes des Missbrauchs, und wer weiß heute schon noch, in welchen Ausmaßen diese Verbrechen auch damals gerade auf dem Land stattgefunden haben - ohne, dass sie jemals ans Licht der Öffentlichkeit gelangt wären!
In den folgenden Jahren verbrachte ich immer wieder mit meiner Oma ein paar Tage bei dieser Familie, und ich fuhr seit dem beschriebenen Vorfall nie mehr mit meiner kindlichen Unbekümmertheit dorthin. Meine Gefühle waren vielmehr ambivalent – auf der einen Seite gab es dort Kühe und Schweine und Hühner, Hunde und Katzen, und Manfred war zu mir immer die Freundlichkeit in Person. Aber auf Haus und Hof lastete aus meiner Sicht ein bedrohlicher Schatten, den ich nie mehr verdrängen konnte.
Die Eifel ist eine rauhe Gegend mit einem rustikalen Charme, und nirgendwo habe ich je freundlichere und offenere Herzen kennengelernt. Die Menschen dort lebten früher alle einmal von der Landwirtschaft – bis die zunehmende Industrialisierung – der Ausbau der Bahn und in Bitburg vor allem die Brauerei – neue Ausbildungen anbot und somit einen Ausweg aus der harten Landarbeit. Gerade die Bitburger Brauerei avancierte zu einem der größten, wenn nicht zum größten Arbeitgeber in der Region, und es gab kaum eine Familie, die nicht einen Sohn oder eine Tochter dort unterbrachten. Arbeitete man nicht in der Brauerei, dann vielleicht bei den Amerikanern, die auch heute noch in Bitburg eine große Air Base unterhalten. Insofern wandelte sich ab 1945 das Leben der Menschen in dieser Gegend sehr stark, und eine neue Mittelschicht entstand, man baute sich schmucke Häuser, während die alten Gehöfte zunehmend verfielen – eine neue Zeit löste die alte ab. Ich fuhr als Kind oft so nah wie möglich an den Flughafen, um die dicht über meinen Kopf hinweg startenden Düsenjäger zu beobachten. Das Donnern ihrer Nachbrenner ließ die Luft vibrieren, und ich sah ihnen fasziniert hinterher, bis sie als winziger flammender Punkt vom Himmel verschluckt wurden.
In Köln wohnten wir damals überaus bescheiden. Unseren Hausstand habe ich ja bereits beschrieben. Doch hatte uns mein Vater immer versprochen, dass es uns bald besser gehen würde. Er hatte Träume und Visionen von Wohlstand und wirtschaftlicher Sicherheit – ja, wir würden vielleicht sogar eines Tages ein Telefon haben – und das war für Mama damals noch vollkommen unvorstellbar. Aber mit der Zeit ging es tatsächlich aufwärts, und es kamen dann andere Dinge hinzu wie eine Wohnzimmercouch und zwei Sessel, mein Vater bekam einen Schreibtisch und ich ein Wandbett, das neben dem Schreibtisch meines Vaters stand und tagsüber hochgeklappt und mit einem Vorhang mehr oder weniger unsichtbar gemacht wurde. Im selben Zimmer stand auch unser Esstisch, ein Ausziehtisch für ca. 10 Personen und eine weitere Schlafcouch. Mein Zimmer war also gleichzeitig Büro, Ess- und Gästezimmer. Mamas Zwillingsbruder Onkel Hans hatte die Wohnung tapeziert und gestrichen, und überhaupt war er immer derjenige, der bei handwerklichen Problemen zur Stelle war und aushalf. Er war Schreibmaschinenmechaniker und schleppte auch nach Arbeitsschluss noch ein paar Schreibmaschinen zu sich nach Hause, wo er sie bis tief in die Nacht zerlegte, reinigte und reparierte. Onkel Hans und seine Frau Christel hatten zwei Söhne, Franz und Barry, und wir sahen sie in der Regel an den Wochenenden, wenn sie uns besuchten oder wir sie. Ihre erste Wohnung nach Kriegsende war in der Siebachstraße in Köln Nippes, wo sie in zwei Zimmern wohnten – einer Wohnküche und einem gemeinsamen Schlafzimmer. In Ermangelung eines Badezimmers wusch man sich in der Küche; die Toilette war auf dem Hausflur und wurde von allen Bewohnern des Hauses benutzt, und das waren drei weitere Familien. Es gab einen langen, schmalen Hinterhof, in dem wir Jungs Fußball spielten, wobei oft die eine oder andere Fensterscheibe zu Bruch ging, was fast immer mit Prügel von Onkel Hans geahndet wurde. Aber ich möchte ihn keineswegs als üblen Prügler bezeichnen – er war nämlich das genaue Gegenteil, ein herzensguter, immer hilfsbereiter Mann mit einem unglaublichen sonnigen Humor, eine echte kölsche Seele von einem Mann, den wir über alles liebten. In den meisten Familien wurden Kinder mit Schlägen bestraft, und wenn ich auch nicht der Meinung bin: ‚Was uns nicht geschadet hat, das schadet auch nicht meinen Kindern‘ – so waren die Prügelstrafe oder eine Ohrfeige damals nicht unüblich. Man mag sich das aus heutiger Sicht nur nicht mehr vorstellen! Ich hingegen hatte das Glück, einen Vater mit pazifistischem Hintergrund zu haben, dem Gewalt völlig fremd war und der mich nie auch nur ein einziges Mal geschlagen hätte. Von meiner Mutter mag ich die eine oder andere Ohrfeige bekommen haben – jedoch erinnere ich mich nicht mehr daran, was mir sagt, dass dies unbedeutende Ausrutscher waren, für die ich – sollten sie stattgefunden haben – sehr wahrscheinlich einen ausreichenden Grund gegeben hatte!
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