Ich überlasse ihn seinem Schicksal, das Kätzchen immer noch auf dem Arm haltend. Sie hat ein glänzend schwarzes Fell und strahlend blaue Augen, von einem silbernen Kranz gesäumt. Ungewöhnlich und absolut faszinierend.
„Hast du schon einen Namen?“, frage ich, aber sie ist noch zu jung, um mich zu verstehen. Sie kann kaum älter als zwei Wochen sein, und Katzen entwickeln die Fähigkeit, mich in meiner menschlichen Gestalt zu verstehen, erst nach ungefähr acht Wochen. Ich könnte mich wandeln, aber vielleicht muss ich das sowieso bald tun, und zweimal kurz hintereinander verbraucht zu viel Energie.
Vor dieser nächsten Gestaltwandlung graut mir. Nicht wegen dem Vorgang an sich, aber dem Gespräch, das ich dann führen muss. Mit Ryker. Der Katze, die nicht wirklich eine Katze ist. Der mich von Anfang an hintergangen hat. Zugegeben, er hat sich nie vor mich hingestellt, mir in die Augen geschaut und gesagt „Ich bin Ryker, ich bin eine Katze, ich bin kein Gestaltwandler“, aber es sollte doch zum Katzen-Anstand gehören, sich einem Wandler-Kollegen gegenüber zu offenbaren.
Er war ein paar Tage nicht in der Stadt, genug Zeit für mich, unser bevorstehendes Gespräch wieder und wieder zu üben. Wir haben ihre Labore und Forschungen zerstört, die vergifteten Kinder ausfindig gemacht und ihnen das Gegenmittel gegeben und einige Leute dabei umgebracht. Lennox, Griffon und ich sind dabei zu einem recht guten Team zusammengewachsen. Zum Glück hatten wir so viel zu tun, dass ich nicht dazu gekommen bin, über Gefühle nachzudenken. Emotionen. Anziehung.
Ich werde dem so lange wie möglich weiter aus dem Weg gehen. Das Leben ist schwer genug, auch ohne irgendwelche Bindungen einzugehen.
Jetzt, wo die Heiler ausgemerzt worden sind, geht das Leben hoffentlich wieder normal weiter. Ich habe einige Aufträge abzuarbeiten. Gute alte Auftragsmorde, nichts Besonderes. Ich bin froh darüber. So bald werde ich nicht wieder irgendwelche Nachforschungen anstellen. Nicht nach diesem Erlebnis. Natürlich freue ich mich, dass wir all diesen Kindern helfen konnten, aber ich will nicht wieder in solche Dinge verwickelt werden. Seit ich M.I.A.U. gestartet habe, habe ich immer versucht, so wenig wie möglich Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, der Meute nicht aufzufallen, fürchte aber, dass dieser Fall Wellen geschlagen hat, die unübersehbar waren.
Lennox macht Druck, wir sollten Pläne machen, wie wir die Meute angreifen könnten, weil die Kinder zu Experimentierzwecken verkauft haben, aber ich kann mich dazu nicht durchringen. Wir sind nicht stark genug, denen entgegen zu treten, selbst mit Griffon auf unserer Seite. Drei gegen mindestens hundert ist nicht wirklich realistisch.
Ich ziehe mich in mein Büro zurück, das schnurrende Kätzchen auf dem Arm. Ich setze sie in meinen Schoß und gehe die Post durch. Das ist der langweilige Teil des Geschäftslebens. Rechnungen, Rechnungen und noch mehr Rechnungen. Kindlers Bruder hat mich noch nicht bezahlt. Ich habe während meiner Ermittlungen einiges an Geld eingespielt, weil die Bösewichte immer irgendwo Bargeld rumliegen hatten, aber ansonsten bin ich darauf angewiesen, dass die Kunden meine Honorare bezahlen. Also werde ich dem noch eine Mahnung schicken, und wenn er dann seine Schulden nicht bezahlt, muss ich ihm wohl mit meinen Messern einen Besuch abstatten. Ich bezweifle, dass er an den Giftanschlägen beteiligt war, sonst hätte er wohl niemanden beauftragt, den Tod seines Bruders zu untersuchen, aber wenn er nicht zahlt, werde ich gnadenlos sein.
Ein Brief mit einem bekannten Prägezeichen auf dickem Papier ist dabei. Eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Mein geheimnisvoller Gönner. Ich habe nichts von ihm gehört, seit er mir erzählt hat, seine Enkelin sei gestorben. Ehrlich gesagt, bin ich darüber ganz froh. Ich wüsste nicht, was ich jetzt zu ihm sagen sollte. „Herzliches Beileid“ wäre wohl bei weitem nicht ausreichend.
Ich öffne den Umschlag mit einem meiner Messer – dieses hier war in einer Scheide, die an meiner Wade befestigt ist – und nehme den Brief heraus. An den Rändern sind überall Tintenflecke. Hätte nicht gedacht, dass der geheimnisvolle Unbekannte solch einen schmuddeligen Brief schicken würde. Seine Kleidung war immer tadellos sauber, von oben bis zu den blitzblank geputzten Schuhen.
Für wen es angeht
Mein Vater starb vor zwei Tagen. Bei Durchsicht seiner geschäftlichen Unterlagen fand ich heraus, dass er Ihnen eines seiner Häuser zum alleinigen Gebrauch überlassen hatte. Da ich mit dieser Seite seiner Geschäfte nichts zu tun haben will, werde ich Ihnen die Eigentumsurkunden für dieses Haus zukommen lassen und verlange im Gegenzug eine Geheimhaltungserklärung wie auch eine Verzichtserklärung bezüglich jedweder künftiger Forderung nach Geld oder Hilfsleistungen.
Anbei die entsprechenden Dokumente.
Ich lese ihn wieder. Und wieder.
Das Haus gehört mir. Auch wenn der geheimnisvolle Unbekannte es bei unserer ersten Begegnung schon so dargestellt hatte, war bei mir im Hinterkopf doch nie der Gedanke gewichen, er könne es eines Tages zurückfordern. Jetzt war ich diese Sorge los.
Oh. Und gestorben ist er also. Wie schade. Ob ich Blumen schicken soll? Macht man das so, wenn man einen Toten nicht selber umgebracht hat?
Eigentlich sollte ich wohl traurig sein. Bin ich aber nicht. Ich hab ihn nicht wirklich gekannt. Er blieb in allem geheimnisvoll. Ich bin ihm dankbar, sehr sogar, aber das reicht für ein Gefühl der Trauer nicht aus. Zumal das Haus jetzt auch offiziell mir gehört.
Ich werfe einen schnellen Blick auf den Vertrag und die Papiere, die mir die Tochter geschickt hat und unterschreibe sie sofort. Ich werde wohl kaum ein besseres Angebot bekommen. Ich lege den Brief in mein Ausgangskörbchen – ja, so was habe ich tatsächlich, kann’s selber kaum glauben – und beschließe, dass dies genug Büroarbeit für einen Tag war. Irgendwann muss ich mich um die Finanzen kümmern, aber nicht heute. Ich bin in Trauer. Das ist meine Entschuldigung.
Das Katzenjunge miaut.
„Ja, ich hab dich ganz vergessen“, murmele ich und kraule es am Kopf. Die Kleine fängt sofort an zu schnurren. So ein süßes Ding.
Ich höre Lily lange bevor sie das Büro betritt. Ohne zu klopfen natürlich.
„Was seid ihr beiden süß“, sagt sie mit Blick auf das Junge auf meinem Schoß. „Willst du ein bisschen Katzenminze?“ Das Kleine schaut sie unbeeindruckt an und leckt dann weiter meinen Arm. Die kennt die unwiderstehliche Versuchung von Katzenminze noch nicht. Damit muss ich sie noch bekannt machen. Oder, nein. Dann muss ich ja teilen. Und das geht mir gegen den Strich, besonders bei Katzenminze. Das Zeug ist Manna vom Katzenhimmel. Lily ist die einzige, die meine heimliche Sucht danach kennt.
„Katzenminze?“ frage ich und tue so, als ob mich das nicht besonders interessiert. „Wo?“
Sie lacht böse. „Hab nur Spaß gemacht. Die musst du dir schon selber besorgen. Ich unterstütze deine Sucht nicht, nicht seit dem letzten Mal.“
Dieser Vorfall ist mir beinahe peinlich. Beinahe. Schließlich kann es den anderen ja egal sein, wenn ich mit einem Wollknäuel auf dem Boden rum rolle. In meiner menschlichen Gestalt. Das kommt doch mal vor, oder?
Lily lehnt an der Wand, wobei einer ihrer schmutzigen Stiefel Spuren an der Tapete hinterlässt. Vorher hätte mir das nichts ausgemacht, aber jetzt ist das mein Haus. Mein Eigentum.
„Füße von der Wand“, knurre ich und ziehe die Augenbrauen zusammen.
„Wassn nu los?“
Ich zucke mit den Schultern. „Unser mysteriöser Unbekannter ist gestorben, das Haus gehört jetzt mir. Kein Dreck an der Wand, kein Dreck auf dem Boden, nirgends Blut außer im Keller. Verstanden?“
Sie grinst. „Du bist jetzt Hauseigentümer? Wie so’n ganz normaler Mensch? Wie jemand, der einen Job hat und zur Arbeit geht und Fernsehen schaut und niemanden umbringt?“
Читать дальше