„Himmel, muß das sein!“ stöhnte sie.
„Was denn?“ fragte Petra interessiert am anderen Ende der Leitung.
„Daß Volker sämtliche Dinge, die auf dem Tisch lagen, in alle Winde verstreut hat –“
„Du, ich hab’ eine Idee. Stopf die Jungen in den Kinderwagen, und fahr mir mit ihnen entgegen. Eine Hand wirst du ja frei haben – ich brauch’ dich wirklich. Bin an der Ecke der Fasanenstraße in der Telefonzelle.“ Petra beschrieb ihren derzeitigen Standort genau. Anja hörte zu und versuchte sich alles zu merken, während sie die beiden kleinen Jungen in Schach hielt. Ja, vielleicht ging es.
„Ich komme“, sagte sie nach einigem Zögern. Allein die Aussicht, hier nicht weiter aufpassen zu müssen, erschien ihr verlockend. Sie hörte sich an, wie Petra ihr den Weg beschrieb, damit sie einander auf keinen Fall verfehlten.
„Langsam komm’ ich dir entgegen, ich kann hier nicht stehen und warten, das kann ich wirklich nicht.“ Anja sah das ein. Petra war sicherlich der ungeduldigste Mensch der Welt, wenn es sich nicht um Pferde handelte. Da hatte sie Geduld …
So schnell wie möglich zog Anja ihre beiden kleinen Brüder an. Aufräumen konnte sie nicht mehr, das mußte sie auf nachher verschieben. Hoffentlich war dieses „Nachher“ ein Zeitpunkt vor Mutters Heimkunft. Sonst fiel die wahrscheinlich in Ohnmacht, wenn sie die Stube betrat.
Der breite Zwillingswagen stand gottlob im Flur. Den brachte sie allein die drei Stufen in den Garten hinunter, nachdem sie die beiden Kinder hineingepackt und angegurtet hatte. Nun los, im Sturmschritt Richtung Stadt, Petra entgegen.
Auf den Straßen lag kein Schnee mehr, nur noch in den Vorgärten. Das Wetter war undurchsichtig, es sah eigentlich nach Regen aus. Zu blöd, sie wollten doch draußen reiten, und wenn es regnete, würden sie bestimmt in der Halle bleiben müssen. Das war nur halb so schön, und Frau Taube würde überhaupt nichts vom Faschingszug sehen können.
Anjas Kostüm war fertig, auch den Westernsattel hatte sie. Sie freute sich unbändig, mitreiten zu dürfen, und zwar auf Kerlchen. Mit dem hatte sie bestimmt nicht die geringsten Schwierigkeiten. Vielleicht kamen auch ihre Eltern, um zuzusehen; Onkel Kurt würde sowieso dasein. Als was Cornelia kommen würde, hatte sie nicht verraten. Das gab dem Ganzen noch eine Spannung mehr.
Anja schob den Kinderwagen, so schnell sie konnte, vor sich her. Einmal rannte sie damit fast eine Frau um, die aus einem Laden kam. Die schimpfte, Anja entschuldigte sich und stürmte weiter. Hoffentlich war es der richtige Weg!
Jetzt mußte die Fasanenstraße kommen. Sie bog um die Ecke – und wirklich, dort hinten stand Petra und winkte mit beiden Armen. Ein einziges Glück! Anja nahm alle Kraft zusammen und fiel mit ihrem Wagen in Trab, wie der Reiter sagen würde. Atemlos und keuchend langte sie bei Petra an.
„Wa – was hast du denn da?“ fragte sie, ehe sie sich überhaupt begrüßt hatten. Petra stand neben einem hellgrauen, länglichen Blech, das sie an die Hausmauer gelehnt hatte und das sie an Länge weit überragte. „Was willst du denn damit?“
„Das ist – also, Bekannte von mir hatten eine Rutsche für den Garten gekauft, schon vor langer Zeit mal. Ihre Kinder sind jetzt zu groß zum Rutschen, aber früher war ich manchmal dort und – na, kurz und klein, ich hab’ gefragt und sie bekommen. Aber allein kann man so ein Ding nur sehr schwer tragen. Ich hab’ gesagt, ich werde abgeholt. Zu zweit schaffen wir es sicher, auch wenn wir außerdem diese Kutsche schieben müssen.“ Sie sah abschätzend von der Rutsche zum Kinderwagen und zurück. „Vielleicht können wir es sogar drauf laden?“
„Drauf laden? Den Jungen auf die Köpfe? Du bist ja plemplem“, sagte Anja. „Nee, das geht nicht. Aber – nun, einer faßt vorne an und einer hinten, und den Wagen schiebt der, der hinten geht, mit der anderen Hand.“
„Oooooder –“, sagte Petra und hob den Zeigefinger, „wir schieben es unten hinein, zwischen die Räder. Breit ist es ja nicht, aber der Zwillingswagen ist breit. Vorn und hinten kann es ja herausstehen.“
„Und wie willst du dann schieben?“ fragte Anja.
„Seitlich, du Depp. Natürlich geht es so. Komm, los, wir probieren es. Na, was hab’ ich gesagt? Geht wunderbar! Nun los.“ Petra hatte den Griff des Kinderwagens an der einen Seite gepackt und schob an, Anja folgte auf der anderen. Es ging.
„Aber eins – warte! Ehe wir jemanden auf die Hörner nehmen …“ Soeben hatten sie nämlich einen älteren Herrn, der zwar den Kinderwagen, aber nicht das herausstehende Blech gesehen hatte, um ein Haar angefahren. „Wenn man sperrige Güter transportiert, muß man einen roten Lappen anhängen. Einen richtigen Blickpunkt, der auffällt. Warte, ich hab’ was.“ Sie hatte ihren roten Anorak schon ausgezogen, warf ihn über den Kinderwagen, zerrte ihren Pullover, der tatsächlich knallrot war, über den Kopf und befestigte ihn nicht ohne Mühe vorn an der Blechrutsche. Dann schlüpfte sie wieder in den Anorak und kam nun zufrieden an den Wagen, um zu schieben. „So, nun kommen wir, ohne Schaden anzurichten, zum Reitverein.“
„Und was willst du damit?“ fragte Anja jetzt endlich. Bisher hatte sie diese Frage nirgends dazwischenschieben können.
„Dreimal darfst du raten – kannst du es dir wirklich nicht denken? Wer möchte denn so gern den Faschingszug sehen? Und kann die Treppe nicht runter? Na? Frau Taube doch wohl, oder nicht? Die Treppe, die zu ihr hinaufführt, ist genauso lang wie die Rutsche, ich hab’ es ausgemessen. Wenn wir die Rutsche drauflegen und oben richtig festmachen, dann kann Frau Taube morgen bis ins Reiterstübel hinunterrutschen, sich dort ans Fenster setzen und den ganzen Fasching miterleben. Was sagst du dazu?“
„Klasse! Und du hast dir das ganz allein ausgedacht? Du bist wirklich ein Genie, Petra!“
„Nicht wahr? Aber keiner darf es wissen. Auch Frau Taube nicht. Sonst erzählt sie es womöglich jemandem, und wenn Erwachsene sich bei so was einmischen, wird es immer nichts, weil sie tausend Bedenken haben. Überall sehen sie Schwierigkeiten, wo keine sind.“
Das fand Anja auch. Sie schoben also den Kinderwagen mit der langen Blechschiene weiter durch die Straßen, mußten immer wieder „Vorsicht!“ und „Achtung!“ schreien und kamen endlich an den Weg, der zum Reitverein abzweigte. Sie fuhren um den Stall herum und an die hintere Schmalseite der Halle. Dort kam nicht jeden Tag jemand hin. Hier luden sie die Rutsche ab.
„So, und nun marsch, marsch nach Hause“, sagte Anja. „Du kommst doch mit? Bei uns sieht es aus wie nach dem Türkenkrieg, und ich möchte meiner Mutter diesen Anblick ersparen.“
Petra erklärte sich sofort einverstanden zu helfen. Sie erreichten Anjas Wohnung zum großen Glück noch vor den Eltern.
„So, jetzt können sie kommen“, erklärte Petra, als sie den letzten Buntstift vom Boden aufgehoben und ins Etui gesteckt hatte. „Morgen mußt du aber zeitig drüben sein, lange, bevor es losgeht. Ich geh’ gleich von der Schule aus hin, hab’ zu Hause gesagt, ich müßte helfen. Muß ich ja auch, und wie! Tschüs, bis dahin! Vergiß nicht deine Cowboy-Ausrüstung.“
„Werd’ ich schon nicht“, sagte Anja und winkte ihr nach. Etwas vergessen, auf das man sich wochenlang freut!
Am anderen Tag regnete es tatsächlich. Anja hatte sich sofort nach Tisch verdrückt und auf dem Küchentisch einen Zettel hinterlassen: „Beginn um vier. Kommt bitte pünktlich.“
Denn zusehen sollten ihre Eltern, das wünschte sie sich sehr.
Beim Reitverein angekommen, traf sie sogleich auf Petra. Sonst waren noch nicht viele Mitglieder da. Herr Anders kehrte die Stallgasse, in der Halle hingen bunte Girlanden.
„Hoffentlich scheuen die Pferde deswegen nicht“, sagte Anja, aber Petra lachte. „Besonders dein Kerlchen!“
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