„Find’ ich auch. Also los, erst mal den Wagen aufgestellt. Oder spannen wir lieber vorher aus?“
Das erwies sich als das klügere. Die eine Deichsel war stark verbogen – zum Glück waren es Leichtmetalldeichseln und keine hölzernen.
„Die wären womöglich gesplittert, und das hätte Kerlchen verletzen können“, sagte Petra und bekam noch im nachhinein weiche Knie, wie sie sagte. „Mensch, wenn der Wagen kaputt ist, das macht nichts. Oder du oder ich. Aber Kerlchen – dem durfte nichts passieren.“
Petra hatte das Geschirr abgemacht und hob es dem Pferd über den Kopf. Dann nahm sie Kerlchen am Halfter.
„Komm, mein Süßer. Da hat der heilige Georg aber gut aufgepaßt, daß dir nichts passiert ist.“
Sie führte ihn den Weg hinauf in den Stall. Anja folgte mit dem Geschirr. Das hängte sie dann hinter die Tür und sah ihre Knie an.
„Die Hosenbeine sind durch. Nur gut, daß es meine alte Hose ist und nicht die Reithose.“
„Na, überhaupt. Glück haben wir schon gehabt. Der Wagen ist auch noch ganz, bis auf die verbogene Deichsel.“
„Das Sitzkissen haben wir verloren“, sagte Anja. „Ich geh’ es holen. Nein, laß mal, ich kann schon. Versuch du, die Deichsel geradezubiegen.“ Anja humpelte davon. Es ging bei jedem Schritt besser. Brennen tat es natürlich noch, aber wenn schon. Sie wanderte den Weg zurück, hob das Kissen auf und kehrte damit um. Während sie so ging und zur Reithalle hinaufsah, fiel ihr etwas auf. Sie blieb stehen und blickte genauer hin – das war doch Frau Taube, die da am Fenster winkte! Anja winkte zurück, setzte sich dann in Trab und kam im Stall an, als Petra eben den letzten Handgriff an Kerlchen getan hatte.
„Du, Frau Taube winkt. Wir gehen mal zu ihr.“
„Wahrscheinlich hat sie uns und unsere Fahrt ins Grüne beobachtet. Ach, die petzt schon nicht. Komm, los!“
Miteinander liefen sie über den festgetretenen Schnee der Halle zu.
„Na, ihr beiden? Kommt nur ruhig näher, ich freu’ mich sehr, daß ihr mich besucht“, sagte Frau Taube. Sie saß im Lehnstuhl und hatte vor sich auf dem Tischchen einen Kasten stehen, dessen Deckel zurückgeschlagen war. Petra machte den Hals lang, dann lachte sie.
„Verbandszeug! Was Sie nicht immer alles parat haben. Und immer genau das Richtige!“
„Kunststück! Ich habe ja aus dem Fenster geguckt. Und hinter mir im Regal steht alles, was ich so brauche: Bücher und Nähzeug, Verbandsachen und Papier und Kulis zum Schreiben. Mein Sohn räumt mir das immer alles ein, jeden Tag fragt er: ‚Was geruhen Eure Hoheit heute zu tun?‘ Und dann legt er mir alles griffbereit hin.“
„Und heute wußte er –“
„Daß ihr einen Dogcart-Ausflug mit Kerlchen machen würdet? Nein, in die Zukunft sehen kann er nicht. Aber der Verbandskasten steht immer vorne an. Und nun her mit den Knien, Anja.“
Anja kam heran. Frau Taube hatte eine so freundliche, herzliche Art, daß das gar nicht peinlich war. Sie wollte die Hosenbeine hochschieben, aber Frau Taube winkte ab.
„Ganz ausziehen, anders geht es nicht. Ich muß ja auch die Hosen flikken, nicht nur die Knie.“
Die waren ganz schön aufgeschürft. Frau Taube drückte Salbe auf ein breites Pflaster und klebte das auf das eine Knie, wickelte eine Mullbinde darum und tat dann dasselbe mit dem anderen. Danach fädelte sie einen dunklen Faden ein und ließ sich die beschädigte Hose reichen.
„Damit deine Mutter nicht in Ohnmacht fällt.“
Petra hatte inzwischen Kaffee gekocht. Sie brachte ihn herüber. Frau Taube lachte.
„Danke dir. Alles hat sein Gutes. Wenn ihr nicht mit dem Dogcart umgeschmissen hättet, bekäme ich jetzt keinen Kaffee.“
„Werden Sie es erzählen?“ fragte Petra gespannt.
„Daß du mir Kaffee gekocht hast? Vielleicht“, sagte Frau Taube harmlos. Petra lachte.
„Das doch nicht. Das mit Kerlchen – daß wir ihn genommen haben, heimlich.“
„So heimlich war das doch gar nicht. Wenn niemand hier ist, kann man ja niemanden fragen“, sagte Frau Taube. „Nein, ich werde nicht petzen“, setzte sie in anderem Ton hinzu. „Warum sollte ich auch. Ist ja alles gutgegangen.“
„Na, so gut auch wieder nicht. Ich hatte gedacht, so ein Wagen ist sicherer. Wir würden Sie nämlich gern einmal damit ausfahren“, sagte Petra jetzt geradeheraus, setzte sich auf einen Stuhl am Fenster und betrachtete ihre Hände von innen. „Anja wird natürlich verbunden und gesalbt, und mit ihr wird ‚ei, ei‘ gemacht, aber ob Petra Wunden davongetragen hat, darum kümmert sich kein –“ Sie hielt inne.
„Kein?“ fragte Frau Taube verschmitzt.
„Kein – kein Täubchen“, sagte Petra vergnügt. „Hatten Sie etwas anderes erwartet? Ist übrigens nicht schlimm. Nein, braucht nicht verbunden zu werden. Das würde nur auffallen. – Ja, wir hätten Sie gern spazierengefahren, aber jetzt, wo Sie gesehen haben, wie leicht so ein Dogcart kippt, da wird Ihnen wohl die Lust vergangen sein.“
„Ach was, mehr als rausfliegen kann man nicht“, sagte Frau Taube und nahm sich das zweite Hosenbein vor. „Ich müßte eben nur unten wohnen. Dann führe ich sofort mit euch. Aber zu ebener Erde gibt es leider keine Dachstübchen, so ist das im Leben.“
„Und umziehen möchten Sie nicht?“ fragte Petra.
„Nein, denk mal an. Ich hab’ mich hier sehr gut eingewöhnt, und im Sommer sehe ich ja auch mehr. – Zieht mal die Schublade dort auf, die zweite von der Kommode, und guckt hinein. Da muß noch was Süßes drin sein, ein Kasten mit Keksen. Ja, dort. Also wie wär’s? Wenn ihr mich schon mal besucht …“
„Du, die wäre wirklich gern mitgefahren. Das heißt, sie möchte das immer noch“, sagte Petra, als sie nach einer Weile miteinander die Treppe hinunterstiegen. „Wir müssen mal gut überlegen, wie wir ihr helfen könnten. Sie ist wirklich ein Schatz.“
„Und sie petzt bestimmt nicht. Kerlchen ist ja auch nichts passiert“, sagte Anja. Nebeneinander rannten sie über den Platz vor dem Stall. Petra holte ihr Fahrrad, das an der hinteren Stallwand lehnte, und befahl: „Los, auf den Gepäckträger! Ich fahr’ dich heim. Es ist schon wieder so spät.“
Spät wurde es immer, wenn man im Reitverein war. Das sagte auch Mutter, als Anja heimkam. Anja brummte, sie wäre heute gar nicht geritten, und dann erzählte sie von der Mutter des Reitlehrers, die sie besucht und der sie Kaffee gekocht hatten. Mutter schwieg. Ganz überzeugt von Anjas Edelmut war sie anscheinend aber nicht.
Ach ja, der Reitverein.
Schularbeiten waren auch noch nicht gemacht, das aber fiel Anja erst ein, als Mutter sie zum Einkaufen schicken wollte. Da wurde Mutter ärgerlich und schalt, und Anja bockte. In diese reizende Familienszene hinein platzten Vater und Onkel Kurt, den er vor dem Haus getroffen und dem er ein lustiges Abendessen versprochen hatte. Das paßte ja wundervoll.
„Ich fürchte, hier hängt der Haussegen schief“, sagte Onkel Kurt, zog den Kopf ein und machte ein Gesicht, als stünde er allein auf weiter Flur unter einem Gewitter, das sich haargenau über seinem Kopf entlud. „Bei so was hilft nur Tapetenwechsel. Darf ich was vorschlagen? Ich ruf’ Cornelia an, daß wir sie allesamt zum Abendbrot überraschen und die Hähnchen dazu mitbringen. Die beiden Kleinen werden mitgenommen, damit Mutter sich keine Gedanken machen muß. Na, was meint ihr?“
„Wundervoll“, sagte Vater und öffnete die Tür zu seinem Zimmer. „Bitte ruf an. Cornelia wird vor Freude auf einem Bein hüpfen, wenn sie hört, daß wir zu sechst kommen.“
„Du wirst lachen, sie freut sich wirklich!“ verkündete Onkel Kurt, nachdem er mindestens eine Viertelstunde am Telefon „geturtelt“ hatte. „Auf geht’s, schlüpft in die Pelze, und steigt in meinen Rolls-Royce, der vor der Tür wartet. Ich fahre dann am Wienerwald vorbei und besorge die Flattermänner. Wie ist das, essen die Buben jeder schon ein ganzes Hähnchen, oder genügt ihnen ein halbes?“
Читать дальше