Doch Doktor Lind, nach den Spielen des Tages noch immer bararmig und barbeinig, eilte schon aufs Haus zu, wie um der Dämmerung zuvorzukommen.
»Pelle und seine Kamera sind kaum auszuhalten«, seufzte sie und wischte sich die Stirn ab. »Er hat sie sich vor einigen Jahren angeschafft, um Leute aufzunehmen, Menschen, die er kannte. ›Ehe man es sich versieht, sind sie tot, und ein Jahr später kann man sich kaum noch erinnern, wie sie aussahen‹, hat er gesagt. Ich habe ihn aufgezogen und gemeint, er würde nur alte und kranke Leute ablichten und solche, die seiner Meinung nach bald sterben. Aber wenn ich es recht bedenke, dann kann einem angst und bange werden, so sehr trifft es zu. Im letzten Frühjahr waren wir bei meiner Mutter, und er hat sie bestimmt schon jahrelang nicht mehr aufgenommen, aber da verschoss er mehrere Filme. In der Nacht darauf verstarb sie plötzlich, ich hatte keine Ahnung, dass sie ein so schwaches Herz gehabt hat. Und letztes Osterfest waren wir zum Skilaufen in Åre, und da haben wir einen ganz sympathischen Grundstücksmakler kennengelernt, einen jungen, kerngesunden Mann, aber am letzten Tag wollte Pelle, der noch nicht mal seine Kamera ausgepackt hatte, ihn auf der Slalompiste fotografieren. Und als wir wieder zu Hause waren, erfuhren wir, dass er von einer Lawine erfasst und unter fünf Metern Schnee begraben worden war. Und ich habe gesagt: ›Jetzt darfst du deine Kamera nie mehr benutzen, die bringt nur Tod und Verderben!‹ Aber die allerschlimmste Katastrophe passierte dann beim letzten Weihnachtsfest bei Ysanders …«
Wir erfuhren nie, was Ysanders zugestoßen war, da jetzt Doktor Lind zurückgekehrt war. Die Kamera hielt er in der Hand, und sofern ich erkennen konnte, handelte es sich um eine ganz gewöhnliche Fotokamera mit einem kleinen schwarzen, hervorstehenden Auge aus Glas und Metall.
Er traf seine Vorkehrungen langsam und sorgfältig, wie ungeübte Fotografen es tun. Auf dem Rasen herrschte jetzt vollkommene Stille. Auch Frau Lind schwieg.
Plötzlich überkam mich eine eigentümliche Eingebung. Ich spürte mit lächerlicher, jeder Vernunft entbehrender Sicherheit, dass der Arzt dieses kalte, tückische Auge auf mich richten und ich danach sterben würde …
Ich blickte mich in der Schar um. Wir hatten uns wieder voneinander entfernt und schauten alle unverwandt auf den Mann zwischen uns und den Tischen. Jemand lachte etwas verkrampft.
Jetzt hatte er seine Vorkehrungen beendet, hatte den Abstand und das Licht eingestellt. Er hob den Fotoapparat, und ich hörte das leise, gleichmäßige Klicken.
Herr Lind hielt die Kamera vollkommen ruhig. Sie war auf Herrn Västermark gerichtet.
Er fuchtelte mit den Armen in der Luft und warf den Kopf in den Nacken wie jemand, der von einer Kugel getroffen worden war oder der sich vor der Kamera nur etwas aufspielen will, und er sah so unbeschreiblich lächerlich und zugleich lebendig aus, dass ich lachen musste. Und meine dumme Vorahnung war verflogen und nicht mehr da … Anschließend knipste Herr Lind uns alle, eine große, winkende Gruppe; wir begaben uns zu Tisch, und der Staatsminister hielt eine Begrüßungsrede, die nicht für die Nachwelt konserviert werden muss. (Er ist ein Redner, der beim Aufstehen nicht weiß, was er sagen soll, und wenn er redet nicht weiß, was er sagt, und beim Hinsetzen nicht mehr weiß, was er gesagt hat.)
Das Abendessen im Garten einzunehmen ist eine Qual und als solche zudem vollkommen sinnlos. Denn wozu soll es gut sein, das Service und das Essen lange Wege ins Freie zu tragen? Allen ergeht es dabei nur schlechter, sowohl den Essern wie den Trägern. Da saßen wir nun, eine Schar solider Erwachsener – alles andere als eine Gruppe von Pfadfindern – auf unbequemen Stühlen an einem rechteckigen Tisch und zerrten an dicken, halbrohen Scheiben von etwas, das der Staatsminister über dem Feuer beim Steinhaufen geschwärzt hatte. Das Futter lag auf Papptellern – solchen, die wegrutschen –, wir arbeiteten mit Plastikbesteck, das zu Stummeln abbrach, die Gläser bestanden aus Plastikbechern, die umkippten, die Kartoffeln waren nicht geschält, und nur kleine Papierservietten hatten wir zu unserem Schutz. Ein Gastgeberpaar, das eine solche Mahlzeit in seinem Esszimmer serviert hätte, hätte sich in Grund und Boden geschämt, und das vollkommen zu Recht. Aber hier draußen auf dem Rasen stumpfte die Urteilskraft auf unerklärliche Weise ab, und bald riefen die Gäste dem Gastgeber und seiner Frau spontan Komplimente zu. Und die Mücken surrten, Russpartikel vom Feuer fielen auf das blutige und verbrannte Etwas, der Wind strich über die Bucht, die Kinder waren wie ein Rauschen im Hintergrund zu hören, und ich entdeckte, dass wir am Tisch dreizehn waren.
Neben mir saß Frau Klintestam, und das war alles andere als langweilig. Die Kinnspitze war auch von der Seite scharf, und bei fortschreitendem Verzehr des Roastbeefs entwickelte sich die gefürchtete Reichstagsabgeordnete und Regierungskritikerin regelrecht zu einer Kichererbse. Ich schäkerte ein wenig und sagte, dass sie einem Leid tun konnte, weil sie einen alten Kauz als Tischherrn bekommen hatte, und sie setzte das Plastik ab und rief fröhlich: »Aber ich liebe alte Käuze!«
Wir lachten zusammen – ich ein wenig angestrengt, denn so ist der Mensch als Mann – und ich erfuhr, dass sie zweiunddreißig Jahre alt war, neben dem Studium als Hilfsschwester gearbeitet hatte, einen kleinen Sohn besaß, den sie vermisste, und über die Widerstandsbewegung in Deutschland während des Zweiten Weltkrieges promoviert hatte.
»Aber die Aussicht auf eine Professur ist minimal. Und im Reichstag gelte ich schon seit einer Legislaturperiode als unbequem. Mal sehen, ob ich wieder reinkomme, ich stehe mehr schlecht als recht auf einem wählbaren Platz. Generaldirektorin für lange und treue Dienste wie Västermark dürfte ich jedenfalls nicht werden!«
Zu meiner Linken saß Frau Burlin. Die Schauspielerin wurde leider auf der anderen Seite durch den Staatsminister und sein Gerede stark blockiert. Während er die Flaschen entkorkte, erzählte sie mir indessen, dass sie bisweilen mitten in der Nacht vor Schreck wie gelähmt aus dem Schlaf auffahre und denke: »Was mache ich da eigentlich? Lasse mich wieder darauf ein, Kritik und Publikum ausgeliefert zu sein, im Alter von fünfzig Jahren und nachdem ich seit zehn Jahren nicht mehr auf der Bühne gestanden habe? Ich muss verrückt sein!« Ich dachte bei mir, wenn sie es jetzt so empfindet, wie würde es ihr erst einen Monat, eine Woche, einen Tag vor der Premiere gehen? Als wir uns beim Anstoßen näherkamen, sah ich, wie der kleine Muskel am Auge zuckte, pulsierte, sein Eigenleben führte …
Umgeben von zwei so charmanten Damen (die Sonne in den Augen und mit all den Verdrießlichkeiten eines Essens unter freiem Himmel beschäftigt), hatte ich kein großes Interesse am Rest des Tisches. Jetzt entsinne ich mich auch nicht mehr an viel: lediglich an die Gesichter, einige Sätze, die Atmosphäre eines alkoholisierten Picknicks. Die kleine Frau Lind mit ihrem runden, roten Gesicht rief plötzlich durch das Gemurmel: »Pelle ist ein hoffnungsloser Fall! Ich verreise liebend gern, aber er sammelt Ansichtskarten und sagt: ›Warum soll ich denn in der Welt herumreisen? Ich weiß genau, wie es dort aussieht!‹« Pelle Lind, der auch etwas verkrampft mitlacht und sich an den Koteletten zupft, die sein Gesicht ein wenig wie einen moosbewachsenen Fußball aussehen lassen. Zanders Indianerprofil ganz weit rechts, meistens über Schüsseln und Gläser gebeugt. Västermark, der mir schreiend anvertraut, er trinke nur, um andere Menschen für sich interessant zu machen. Andersson, der eine Weinflasche umstößt und im ganzen massigen, ernsten Gesicht rot anläuft. Burlins Verärgerung – eine beherrschte, vereinsmäßige Verärgerung –, als er entdeckt, dass seine Frau sich darauf eingestellt hat, als Chauffeurin nach Hause zu fungieren, da sie nur an ihrem Weinglas nippt und somit seine eigene Enthaltsamkeit überflüssig gewesen ist.
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