Es war fünf Uhr, und ich zog mich für eine kurze Ruhepause vor dem Abendessen in das Haus und in meine mit Platten verkleidete Suite zurück.
Doch auf dem Weg traten mir Hindernisse in Form von Kindern in den Weg, die verlangten, ich solle mit ihnen Verstecken spielen.
Es ist eine alte Tradition, dass ich am ersten Tag auf Lindö mit den Kindern Verstecken spiele. Wie die meisten Traditionen, die man in jüngeren und gesünderen Tagen ersonnen hat, werden sie mit jedem Jahr mehr zur Last. Aber wie dem auch sei, das Spiel stellt weder an Intellekt noch an Körperkraft große Ansprüche. Ich brauche nichts weiter zu tun als in einen Geräteschuppen zu gehen, die Hände vor die Augen zu halten (damit ich durch das Fenster nichts sehe) und bis hundert zu zählen. Dann werde ich die Tür öffnen und rufen: »Hundert! Jetzt komme ich!« und mich auf dem Grundstück in selbstgewählter Geschwindigkeit mal hierhin und mal dorthin begeben, bis ich ein Kind entdecke. Im Grunde ist es eine angenehme Zeit, eine der besten auf Lindö. Der Sinn des Spieles ist auch, dass sich die Teilnehmer so lange wie möglich still verhalten und unsichtbar bleiben. Für kurze Zeit kann man sich sogar einbilden, es gäbe auf der Insel gar keine Kinder. Kein Heulen, kein Lärm; leer hängen die Schaukeln der Kinder und alles ist Friede, alles ist von ruhigen Händen liebkost …
Der Schuppen liegt hinter dem Gebüsch, das das Becken umgibt. Ich wurde von zwei begeisterten Bürschchen hingeführt.
»Du musst versprechen, dass du die Hände vor die Augen hältst, wenn du zählst! Und dass du rufst, bevor du kommst!«
Ich versprach es.
Im Innern befinden sich hauptsächlich Möbel, Geräte und alter Plunder, wie in Schuppen auf dem Lande üblich. Ich muss zugeben, dass ich in meiner Einsamkeit weder zähle noch die Hände vor die Augen halte. Ich schaue stattdessen auf die Uhr, zwei Minuten reichen für gewöhnlich. Das Fenster ist im übrigen so schmutzig, dass ich keine unbefugten Beobachtungen machen könnte, selbst wenn ich wollte.
Ich kannte mich noch von vorangegangenen Sommern aus. Da lag das alte Vogelbecken aus hässlichem, grauem Beton, da stand die Sonnenuhr, die nie ein Fundament bekommen hatte, da war die ausgestopfte Küstenseeschwalbe, die der Staatsminister vor vielen Jahren auf einer Auktion erstanden hatte …
Aber jetzt war es bestimmt so weit.
Ich öffnete die Tür und rief »Hundert!« und (nur etwas weniger verlogen): »Jetzt komme ich!« und tappte hinaus in die Natur.
Wir wollten draußen zu Abend essen. Gedeckte lange Tische auf dem Rasen sprachen ihre erschreckend deutliche Sprache. Kinder liefen mit Schüsseln und Platten hin und her, und die Gäste standen in wartenden Gruppen herum, als ich nach einem kurzen Nickerchen ins Grüne hinauswackelte.
»Hallo, Onkel! Ist das nicht ein herrlicher Tag!«
Meine Nichte Eva ist ein sportliches und kräftiges Mädchen, vollkommen im Stande, selbstständig zu stehen, aber Niklas Svennberg hatte den Arm um sie gelegt, als gelte es, eine Hundertjährige zu stützen.
»Ja, dieser Rasen ist wie geschaffen für eine Volksspeisung«, versicherte der junge Privatsekretär, und die Locke hing in der Stirn, und seine Sonnenbräune stach hübsch von dem weißen, halsoffenen Hemd ab. (Ungeachtet der späten Nachmittagsstunde war es noch immer so heiß, dass ich ohne Hut und Mantel ging.) Ich erzählte Eva gerade von einem wunderbaren Fest unter freiem Himmel, an dem ich einmal in Budapest teilgenommen hatte. Hunderte von Wildschweinen wurden auf Spießen gebraten und alle …
An dieser Stelle begann Eva vollkommen unmotiviert ihren Kavalier mit einem Grashalm unter dem Kinn zu killern, und Herr Svennberg konnte sich dessen nur erwehren, indem er sie sorgfältig küsste, und das Ganze wurde so privat, dass ich beschloss, von einer ausführlichen Schilderung des Schweinefestes abzusehen, meinen Stock ergriff und zur nächsten Gruppe ging.
Sie setzte sich aus Anwalt Burlin nebst Gattin und Staatssekretär Zander zusammen. Sie unterhielten sich leise und angeregt, begleitet von scheuen Blicken, die so typisch sind für weidende Gnus und Gäste, die ihre Gastgeber auf Gartenfesten verleumden.
Dazu wurde auch offensichtlich ich gezählt, denn das Gespräch erstarb, als ich nahte, und nach kurzem, vollkommenem Schweigen begannen alle, sich eifrig über die schöne Aussicht zu verbreiten.
»Das ist wirklich ein wunderschönes Plätzchen, nicht wahr?« lächelte Frau Burlin natürlich und schnell, wie es einer Person ansteht, die in der Kunst der Verstellung ausgebildet und lange tätig war.
»Tadellos«, ergänzte ihr weißhaariger Mann, und die Vokale klangen schön.
»So was sieht man nicht alle Tage«, erklärte Herr Zander, aber nicht einmal seiner hohen Stirn gelang es, in dieser bedrängten Lage besonders viel intellektuelle Kraft auszustrahlen.
Nachdem sie sich ihre Alibis verschafft hatten, pendelte sich die Konversation auf einem höheren, darum aber nicht erfreulicheren Niveau ein. Wir unterhielten uns über Umweltgifte und Gewässerverschmutzung, bis ich den Hals von Klärschlamm voll hatte und mich entfernte, um eine alkoholfreie Erfrischung zu besorgen. Auf dem Weg blieb ich an Herrn Västermark hängen, der mit Frau Klintestam und Herrn Andersson zusammenstand und von einer Frau erzählte, die im Register der Polizei gelandet war, weil sie eine kommunistische und eine neonazistische Zeitschrift bezog. Die Frau hatte auf Nachfrage angegeben, sie habe stets die Zentrumspartei unterstützt, aber in letzter Zeit das Bedürfnis nach einer handfesteren Ideologie verspürt. Zu einer neuen, sicheren Überzeugung sei sie durch die Zeitschriften dennoch nicht gelangt. »Beide scheinen auf ihre Art Recht zu haben«, hatte sie ihren Arbeitskollegen anvertraut.
Herr Andersson, der bestimmt früher schon von dem Fall gehört hatte, rang seinem Boxergesicht ein Lächeln ab, doch Birgitta Klintestam sagte ganz knapp, sie finde die Geschichte lächerlich und geschlechtsdiskriminierend, verließ die Gruppe und schloss sich Doktor Lind an, der allein stand und sein Glas in der Hand drehte.
Jetzt fiel mir auf, dass irgendetwas nicht stimmte. Die Gäste waren soeben ins Haus gegangen, um sich eine zweite Erfrischung zu holen, und zu dem Zeitpunkt erreichen Gemeinschaftsgefühl und Herzlichkeit in der Regel ihren Höhepunkt. Doch in diesem Fall war die Gesellschaft in leise Gruppen aufgelöst. Das war umso seltsamer, dachte ich, da alle außer Herrn Andersson von Norrön kamen. Und Leute von ein und derselben Sommerinsel sind bei Zusammentreffen im Kaufmannsladen und auf dem Postamt immer sehr gesprächig, und an örtlichem Klatsch und Gejammer über das Wetter fehlt es selten.
Täuschte ich mich oder war die Stimmung lauernd, nahezu feindselig?
Doch dann waren Gastgeber und Gastgeberin an den Tischen fertig, kamen je aus einer Richtung angerannt wie zwei Hirtenhunde und trieben die Gäste zusammen. Meine Schwester versprühte ihren gesamten Charme, und der Staatsminister füllte Gläser und schrie für zwei. (Er selbst trinkt zwar meistens Orangensaft, wirkt aber selten nüchtern.) Eine andere Person, die sich ebenfalls nicht dem Trübsinn hingab, war Frau Lind, die Frau Doktor. Das geblümte Kleid umspannte ihre Hausfrauenfigur, und das Gesicht war rosarot wie das eines Kindes auf dem Rodelberg. In der Schlussphase war sie beim Herbeitragen von Flaschen und Schüsseln behilflich gewesen, und ich glaube, sie hatte vielleicht ein bisschen genippt. Jetzt wollte sie das im ganzen sommerlichen Schweden obligatorische »Kleine Frösche« spielen, konnte aber nur die Kleinen dafür begeistern.
»Oh, wie anstrengend!« keuchte sie nach energischem Herumgehopse im Gras. »Aber das tut der Figur gut. Warum fotografierst du denn nicht, Pelle!«
Dann, als würde sie es bereuen: »Nein, das Licht ist zu schlecht!«
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