„Well – Sie hätten ihn nicht nach einem Verwandten namens Walsh, sondern nach seinem Onkel Henry Fisher fragen sollen. Vielleicht hätte er sich dann erinnert.“
Der Leutnant schüttelte den Kopf.
„Entweder er hat Walsh umgebracht – dann weiß er sofort Bescheid, oder er hat nichts damit zu tun – dann interessieren mich seine Geschichten über Onkel. Henry nicht. Ich wollte nur sehen, wie er reagiert.“
„Und wie war Ihr Eindruck?“
„Nicht gut, nicht schlecht.“ Mahonny grinste plötzlich. „Wollen Sie sich etwa auch noch auf die Suche nach Walsh machen? Das ist eine Aufgabe, an der die gesamte New Yorker Polizei schon herumbastelt.“
„Ich bin ein leidenschaftlicher Bastler“, erwiderte Joe. „Überlassen Sie mir doch mal für eine halbe Stunde die vollständige Akte Walsh!“
„Das ist ein Staatsgeheimnis“, empörte sich der Leutnant. „Kennedy hat verboten, sie Außenstehenden zu zeigen.“
Dann ließ er Joe mit der Akte allein.
*
Minor Beach lag zu weit entfernt, um noch ein Vorort von New York zu sein aber nahe genug, um vielen Leuten, die in der Stadt arbeiteten, als Wohnort zu dienen. Um in Minor Beach ein Haus zu haben, waren zwei Dinge notwendig: Das eine waren Dollars, das andere noch mal Dollars.
Barrys spinatgrüner SL flitzte über die Uferstraße. Auf einer Anhöhe stoppte er. Joe breitete die Karte aus und studierte sie.
„Hier muß die Stelle sein“, sagte er, bog von der Straße ab und fuhr über den Sand langsam am Wasser entlang. Ein frischer Wind kam vom Meer her; die Wellen hatten weiße Schaumkronen.
„Der arme Onkel Henry“, sagte Stanley, der neben Barry saß, mindestens zum zwanzigsten Male. „Ich habe ihn das letztemal als Kind gesehen. Ich hatte immer geglaubt, er wäre im Krieg umgekommen.“
Joe hielt an und stieg aus.
„Hier fand man den Wagen von Walsh“, sagte er. „Die Polizei nimmt an, daß er hier ermordet und mit einem anderen Wagen fortgeschafft wurde.“
„Ja“, äußerte Stanley nicht übermäßig geistreich.
„Für einen Mord ist das die ungünstigste Stelle, die man sich denken kann“, fuhr Joe fort. „Die Gegend flach wie ein Brett; nur im Norden das Panorama von Minor Beach. Wie sollte Walsh hierhergekommen sein? Die Stelle taugt zu nichts, nicht einmal zu einem Rendezvous.“ Er dachte kurz nach. „Hier wurde lediglich Walshs Wagen hergebracht“, sagte er dann überzeugt. „Und zwar nicht von ihm selbst.“
„Woher weißt du das?“ fragte Stanley verblüfft.
„Ich weiß gar nichts. Ich stelle Vermutungen an.“ Joe klappte die Tür auf. „Vorwärts! Hier ist nichts mehr zu tun.“
Sie fuhren nach Minor Beach zurück. Nach einigem Suchen fanden sie das Haus von Henry Walsh. Ein uniformierter Cop machte ihnen auf. Er gehörte zur Mannschaft des Headquarters. Joe kannte ihn.
„Hallo, Fred!“ sagte er. „Was bewachst du hier?“
„Keine Ahnung“, antwortete der Cop grinsend. „Anordnung von Leutnant Mahonny.“
„Hier soll ein Hausmeister sein. Kann ich ihn sprechen?“
„Natürlich.“
Joe durchquerte die Halle und klopfte an der Tür, die der Cop ihm gezeigt hatte. Das Haus war im alten englischen Stil erbaut, mit Holz an den Wänden und offenen Kaminen.
„Der Alte ist schwerhörig“, sagte der Cop und stieß die Tür auf. „Gestern mußte ein Streifenwagen ihm erst neue Batterien für sein Hörgerät besorgen, bevor der Leutnant ihn verhören konnte.“
Joe sah sich um. Vor ihm lag ein kleines Zimmer. Es war leer.
„Verstehe ich nicht“, brummte der Cop. „Vor einer Stunde sah ich ihn reingehen, nachdem er die Halle gebohnert hatte. Er wollte seinen Mittagsschlaf halten.“
Joe entdeckte eine weitere Tür und öffnete sie. Dahinter lag eine kleine Wohnküche.
Schweigend sah Joe zu Boden. Der Cop trat hinter ihn. Seine Augen weiteten sich.
„Verdammt!“ entfuhr es ihm.
Auf dem Boden lag der Hausmeister.
Er war tot.
„Zwei Schüsse“, faßte Lieutenant Antony Starr, der Leiter der Mordkommission, das Resultat der Untersuchung zusammen.
„Der Schütze war im Garten, den er ungesehen erreichen konnte. Er benutzte ein Zielfernrohr und Schalldämpfer. Das Fenster stand offen. Wir wissen, wie der Mord geschehen ist. Wir wissen aber nicht, warum.“
„Die alte Gretchenfrage“, sagte Joe, „Habt ihr im Garten Spuren gefunden?“
„Ein paar Fußabdrücke im Gras, die aber nichts wert waren. Außerdem eine Patronenhülse. Nach der anderen wird noch gesucht. Sonst nichts.“
Stanley hatte mit bleichem Gesicht zugehört.
„Haben Sie irgendeine Erklärung für diesen Mord. Captain?“ fragte er.
„Noch nicht. Er verstärkt nur den Verdacht daß der verschwundene Henry Walsh ebenfalls ermordet wurde.“
Joe nickte zustimmend.
„Dieser alte Hausmeister war bestimmt völlig harmlos. Es gibt nur wenige denkbare Erklärungen dafür, daß er ermordet wurde. Eine davon ist, daß er wußte, wer Walsh ermordet hat.“
„Das hätte er gestern Leutnant Mahonny sagen können.“
„Vielleicht kannte er den Mörder, ohne Zeuge des Mordes gewesen zu sein. Vielleicht wußte er Dinge, die ihm unwichtig schienen, die aber doch auf die Spur des Mörders geführt hätten, wenn er sie erzählt hätte.“
Starr warf Stanley einen eigenartigen Blick zu und zog dann Joe auf die Seite.
„Hör zu, Alter! Du bist dir doch hoffentlich darüber im klaren, daß dein Schützling sofort hochgeht, wenn Walshs Leiche gefunden wird?“
Joe zuckte die Achseln.
„Ich glaube nicht, daß er irgend etwas mit dieser Geschichte zu tun hat.“
„Mag sein, aber die Tatsachen sprechen gegen ihn.“
Joe lächelte.
„Ich kenne die Spielregeln, Antony. Ich habe Stanley versprochen, mich um seinen Fall zu kümmern, und ich werde das tun, bis ich Gewißheit habe. Wenn ihr ihn festnehmt, werde ich Entlastungsmaterial heranschaffen – es sei denn, er ist schuldig.“
„Privatdetektiv Joe Barry, der Rächer der Enterbten“, sagte Antony mit ironischem Grinsen.
„Eure Geschichte steht auf schwachen Füßen“, fuhr Joe ungerührt fort. „Ich werde euch beweisen, daß Stanley erst gestern nach New York gekommen ist.“
„Du wirst dir noch mal selbst beweisen, daß du gar nicht du bist!“
Joe grinste.
„Wie wär’s mit einem Geschäft, Häuptling? Ihr laßt Stanley unter meiner Obhut frei umherlaufen, und dafür teile ich euch mit, was ich hierausfinde.“
„Die New Yorker Polizei ist unbestechlich“, schnaubte der Captain. „Im übrigen will ich mir die Sache mal überlegen.“
Sie kehrten in die Halle zurück. Dort hatten inzwischen die Leute vom Erkennungsdienst ihre Arbeit beendet. Es gab nicht viel festzustellen.
Der Polizeiarzt sagte, der Hausmeister wäre höchstens eine Stunde tot.
Eine Weile mühte sich der Captain damit ab, in der Nachbarschaft Leute zu suchen, die den Schützen gesehen hatten. Dann überließ er diese Aufgabe Leutnant Mahonny, der bald danach am Tatort eintraf.
Damit war in Minor Beach nichts mehr zu tun. Joe stieg in seinen Sportwagen und fuhr gemeinsam mit Stanley nach New York zurück.
Sie durchquerten die endlosen Vorstädte im Süden der Millionenstadt. Ab und zu warf Joe Stanley einen forschenden Blick zu. Es war offensichtlich, daß Stanley sich mit einem Problem herumschlug.
„Schieß los!“ ermunterte Barry ihn schließlich, „Woran denkst du gerade?“
Stanley schreckte hoch.
„Nichts! Mir fällt gerade ein Vorfall ein, der, gestern geschah. Aber es war sicher bedeutungslos.“
„Was bedeutungslos ist, bestimme ich“, wandelte Joe den Wahlspruch gewisser Diktatoren ab.
„Okay“, sagte Stanley. „Es war gestern nachmittag, nachdem ich in deiner Wohnung war. Ich ging zu Fuß die Straße vor deinem Haus entlang, um mir ein Taxi zu suchen.“
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