Herr Kork ist augenscheinlich ein erfahrener Politiker, er hält seine Rede ohne zu stocken und ohne Zettelchen, er hat sich gut vorbereitet. Einige klatschen nach der geschickten Darstellung, ohne zu bemerken, was sie damit begrüßen. Alle Achtung, denkt Sascha, zufrieden ist er aber keineswegs: »In der langen und nicht immer glorreichen Geschichte dieses Hotels wird das eine interessante Episode sein!«
»Ich freue mich, dass Sie den Humor nicht verloren haben Herr …«, Kork muss nur kurz überlegen, »Herr Mihályi.«
Die meisten stehen verlegen und dem Schicksal ergeben auf, der Russe steuert auf Sascha zu:
»Wir sind die Einzigen, die sich bemerkbar gemacht haben, ich habe versucht, die Barrikade zu brechen, du hast dich wenigstens zu Wort gemeldet, die übrigen haben gekuscht.«
»Dir ist ja auch kein Durchbruch gelungen.« Sascha mag es nicht so stehen lassen, wie der Mann verächtlich über alle anderen spricht und ihn dabei vereinnahmt.
»Na ja, wenn ich ein besonders hartnäckiger Mensch wäre, hätten mich die Deutschen schon damals umgebracht. Vor stärkerer Gewalt muss man zurückstecken, das wissen die Klugen, die Unklugen werden Helden der Sowjetunion …«
»Ja, und du?«
»Ich wäre es um ein Haar geworden. Übrigens sind wir beide einander vor fünfundsiebzig Jahren begegnet.«
Jetzt ist Sascha doch perplex. »Was? Wieso?«
»In Langenstein-Zwieberge, im Lager in den Malachitbergen. Du warst doch mit diesem Adler zusammen, nicht wahr?«
»Ja …«
»Ich gehörte zu denen, die am 12. April als Erste das Lager verlassen haben. Wir sind mit Kaninchen zurückgekommen und haben euch eines zum Braten überlassen.«
»Ja, ich erinnere mich. Du warst das?«
»Ja.«
Sascha fasst sich: »Hat es dir nachher in der Sowjetunion eigentlich geschadet, dass du am Leben geblieben bist?«
»Gute Frage. Mir nicht. Anderen schon. Ich war jung genug, dass man es mir nicht besonders übel genommen hat, dass ich am Leben geblieben bin. Mein Onkel war ein mittelhohes Tier in der Partei. Und ich habe im GRU Karriere gemacht.«
»Deshalb sprichst du so gut Deutsch?«
»Umgekehrt, weil ich Deutsch kann, hat mich der GRU genommen. Molodjetz!«
Sie gehen auseinander. Mila, die zufällig mitgehört hat, fragt: »Wer war Adler, wieso Langenstein-Zwieberge, was ist der GRU?«
»Adler war ein deutsch-tschechisch-jüdischer Dichter und Soziologe, Langenstein ein Außenlager von Buchenwald. Erkläre ich dir später genauer …«
»Und der GRU war und ist der sowjetische, jetzt russische militärische Geheimdienst«, fügt Marko hinzu.
Die lieben Gastgeber sind also Überwachungspersonal geworden. Die ehemaligen Häftlinge stellen unwillkürlich Vergleiche mit der Lage vor fünfundsiebzig Jahren an. Das sollte man nicht tun, wirklich nicht, das ist sinnlos, aber wie kann man gegen spontane Einfälle kämpfen? Logisch müssen die nicht sein. Dieses Hotel gleicht keiner Lagerbaracke, nicht im Mindesten. Herr Kork und Patrick sind keinen SS-Offiziere und sie sind freiwillig gekommen, mussten sich durchsetzen, um überhaupt kommen zu dürfen … Und jetzt? Ist das Freiheit? Ja, was haben sie sich eigentlich vorgestellt, dass die Infektion vor ihnen zurückschwappen würde wie das Rote Meer vor Moses, der seine Leute aus der Sklaverei führte? In die Freiheit? Zunächst gerieten sie ja erst einmal in die Wüste. Das war wohl Absicht des biblischen Herrn. Aber sie, die zwölf mit ihrer Begleitung? Sind sie nicht mit der unausgesprochenen Absicht gekommen, hier zu sterben? Zumindest haben sie damit kokettiert. Ein Fanal wollten sie setzen? Ja oder nein?
Die jungen Begleiter denken anders, ärgern sich, dass sie die Alten nicht von dieser Reise abgebracht haben, sie können sich die Begrenzung auf vier Wände, auch wenn sie noch so schön mit frischen Tapeten überzogen sind, nicht vorstellen. Wochenlang? Unbegrenzt? Das wird ja fürchterlich langweilig werden. Zu Hause – je nachdem, woher sie gekommen sind – knospt schon der Frühling.
Alle gehen folgsam in die Zimmer hinauf. Nach einem kurzen Auftritt der Sonne bewölkt sich der Himmel wieder und Regen beginnt gegen die Hotelfenster zu trommeln, als wäre es ein Trost, dass jetzt ohnehin niemand durch die Straßen und Gassen schlendern könnte, ohne nass zu werden und zu frösteln. Die Unterkunft ist bequem, da von den neunundneunzig Zimmern und Suiten nur einundzwanzig für die Überlebenden und ihre Begleiter benötigt werden, haben sie die besten in den oberen Stockwerken bezogen. Betten und Sessel sind neu und komfortabel, jede Menge Hand- und Frottiertücher, Bademäntel und Pantoffeln stehen zu ihrer Verfügung, die Fernsehschirme sind groß, Schreibtischchen stehen für die Laptops bereit, in den Schränken ist viel Platz, in den kleinen Kühlschränken befindet sich eine anständige Auswahl von scharfen Getränken, Bier, Wein und Knabberzeug, auch Schalen mit Obst hat die Hoteldirektion als Gruß auf die Zimmer stellen lassen. Erst einmal wird es sich hier aushalten lassen. Muss man aushalten. Erst einmal …
Fußgetrappel auf den Fluren. Wer vor die Tür schaut, sieht mehrere hin und her huschende Gestalten, wie Astronauten gekleidet, aber auch normal gekleidete Männer und Frauen mit Masken vor Mund und Nase. Kabel werden gelegt. Bald wird es wieder still. Auch wenn sich noch kein großer Hunger eingestellt hat, bestellt jeder das Mittagessen aufs Zimmer, um die Zeit zu vertreiben. Beginnt jetzt das große Warten? Glücklicherweise wird das Warten erst einmal fast im Stundentakt unterbrochen, an eine richtige Siesta ist nicht zu denken, aber für die Abwechslung ist jeder dankbar.
Zuerst kommen Techniker, bringen nun doch allen Gästen neue Laptops, installieren sie und legen Betriebsanweisungen für die Videoschaltung dazu. Ab siebzehn Uhr werde man die Schaltung ausprobieren.
»Jetzt ist Ihr Zimmer videokonferenzfähig.«
Der Mann trägt einen bis unters Kinn zugeknöpften blauen Kittel, eine weiße Maske, über der nur seine kleinen blauen Augen und die buschigen Brauen zu sehen sind. Kann man sich so kennenlernen? Sascha fehlt es sehr, Gesichter zu sehen. Trägt dieser kräftige Techniker vielleicht einen gepflegten Schnurrbart, der jetzt verborgen bleibt? Einen kleinen wie Hitler, einen spitzen oder gar einen gezwirbelten?
Später erscheint Frau Doktor Meier in Begleitung eines Pflegers reihum in allen Zimmern, misst Temperatur, Blutdruck, nimmt Virustests ab, füllt neue Formulare aus und bittet um Unterschriften.
»So einfach ist das?«, wundert sich Noémi Barna.
»Ist ohnehin Quatsch«, meint ihr stets skeptischer Mann.
Michael Jung wehrt sich zuerst und will seinen Mund nicht aufmachen, gibt aber schließlich nach und lässt sich testen. Über so etwas steht nichts in der Heiligen Schrift.
Als die Mediziner sein Zimmer wieder verlassen haben, sagt Botschafter Pharoux: »Man erlebt allerlei in diesem Leben, Dominique. Insbesondere, wenn man lange genug lebt. Das ist jetzt auch wieder eine unerwartete neue Erfahrung.«
»Wann erhalten wir die Ergebnisse?«, fragt Sascha. Wie die Ärztin ohne Maske aussieht, weiß er glücklicherweise, sie hat ein hübsches Gesicht.
»Kann ich leider nicht sagen«, antwortet Frau Doktor Meier ein wenig ungeduldig. »Sobald wir sie bekommen, teilen wir sie Ihnen natürlich mit.«
»Könnten Sie bitte später einmal, wenn Sie mehr Zeit haben, noch einmal zu mir kommen?«
»Selbstverständlich«, die Ärztin ist an der Tür stehen geblieben. »Dafür bin ich doch da, aber wenn Sie sich unwohl fühlen, sagen Sie mir bitte sofort, worum es geht.«
»Mir geht es gut, danke. Ich wollte ein paar ziemlich allgemeine Fragen mit Ihnen besprechen, wenn Sie gestatten …«
Sie nickt und weg ist sie.
Kurz vor fünf klopft es wieder, es ist aber nicht die Ärztin, sondern Patrick.
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