Nachdem sie sich frisch gemacht haben, machen sich die Serben, die Zimmer auf der eleganten vierten Etage mit Blick auf den Markt bezogen haben, auf in die Stadt, um etwas Leichtes zu essen und gut zu trinken. Über den Platz, auf dem nur einige Polizisten herumstehen, spazieren sie zur Crêperie du Palais, ein wenig in Sorge, ob die trotz der Corona-Hysterie, wie Sascha die Situation nennt, geöffnet sein wird. Sie ist zu.
»Dabei ist doch sonst alles normal!«, sagt Sascha.
»Das ist es nicht«, antwortet sein Sohn. »Mach dir nichts vor, Papa.«
»Ich habe das Lager jetzt schon fünfundsiebzig Jahre lang überlebt, das ist eine Tatsache, sag du mir, ob das normal ist, und du siehst ja, dass es mir hier leichter fällt, zu Fuß zu gehen als sonst in der letzten Zeit. Die Straßen sind so leer … Nun, Weimar war ja auch sonst am Abend ausgestorben, wenn nichts Besonderes los war.«
Am Morgen kommt Sascha als Erster zum Frühstück. Er wacht immer zu früh auf, dagegen ist kein Kraut gewachsen. Die Hausdame und Leiterin des Restaurants, in dem das Frühstück serviert wird, kennt er von früheren Besuchen. Sie eilt freudig auf ihn zu, macht einen kleinen Knicks, was der älteren Frau gar nicht so gut steht, bemerkt es wohl selber und sagt ein wenig verwirrt: »Die Hand darf ich Ihnen ja nicht reichen. Wegen dieser blöden Infektionsgefahr. Ich freue mich, Sie zu sehen.«
»Ich mich auch.«
»Tee wie gewohnt, Earl Grey?«
Es ist schön, wenn man in einem Hotel persönlich bekannt ist und eine besondere Behandlung erfährt, es sind oft nur kleine Gesten. Das Angebot ist reichlich wie in den Vorjahren, auch Sekt gibt es auf Wunsch. Die Tische sind angenehm weit voneinander entfernt, das war hier immer so. Der Blick aus den großen Fenstern geht auf den einsamen Garten. Noch will es nicht Frühling werden hier oben im Norden. Norden? Ja, aus Belgrader Perspektive.
In der Lobby nahe an der Tür steht ein schlanker blonder junger Mann in gutem Anzug, weißem Hemd und Krawatte, ein ziemlich ungewöhnlicher Aufzug für sein Alter, Sascha schätzt ihn auf höchstens fünfundzwanzig. Er kommt sofort auf ihn zu, deutet eine knappe Verbeugung an, die hat er wahrscheinlich in Filmen bei preußischen Offizieren in Zivil gesehen: »Ich bin Patrick von der Gedenkstätte, ich wohne auch im Hotel und stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, darf ich Ihnen meine Karte geben …«
»Das ist nett. Alles schläft …«, witzelnd fährt Sascha fort, »einsam wacht, einsam wachen wir zu zweit, na ja, und die Frühstücksdame, die Küchenbrigade, die Rezeption. Wollen wir uns nicht setzen, Patrick?«
Dazu kommt es nicht. Die Tür des Aufzugs geht auf, und hustend auf seine Enkelin gestützt wankt Franco in die Halle, lässt sich zum ersten Sessel führen, fällt auf das weiche rote Leder, setzt dazu an, etwas zu sagen, winkt mit der Hand, aber es überfällt ihn ein solcher Hustenanfall, dass er schließlich ermattet und zitternd in sich zusammensinkt und Galilahi, unfrisiert, ungeschminkt und dabei noch hübscher als sonst, ruft:
»Help!«
Sie beugt sich über den alten Mann und streichelt sein weißes, aber noch volles Haar.
»Was hast du?«, fragt Sascha besorgt, aber er ahnt es, weiß es.
Patrick schreit in Richtung Rezeption:
»Wasser! Wo ist die Frau Doktor …«
»Kommt erst um acht …«
Aus der Bar läuft ein Kellner mit einem Glas Wasser auf einem silbernen Tablett. Patrick ruft die Rettung an. Franco winkt ab, dass er nicht trinken könne, der Hustenanfall geht von selbst vorüber. Schwach sagt er: »Ich scheine mich ein wenig erkältet zu haben …«
Schon hört man die Sirene der Rettung. Ein Arzt und zwei Pfleger stürzen herein.
»Zu viel Aufwand …«, versucht Franco abzuwehren, aber er muss neuerlich husten.
Die gerade noch so nette Stimmung in dem vornehmen Hotel ist in eine Horrorszenerie gekippt.
»Gehören Sie zu dem Herrn, Fräulein?«, fragt der Arzt, während er Francos Blutdruck misst, und als sie es bejaht, bohrt er weiter, »Von wo sind Sie angereist?«
»Aus Phoenix, Georgia, über die Schweiz. Auf dem Flughafen Zürich haben wir uns mit alten Freunden getroffen, die extra deswegen aus Italien gekommen sind …«
Der Arzt nickt, als hätte er so etwas geahnt.
»Ich möchte Sie sofort in die Universitätsklinik in Jena bringen lassen.« Francos Versuch, etwas einzuwenden, lässt er gar nicht zu. »Darauf muss ich bestehen …«
»Gibt es denn in Weimar kein Krankenhaus?«, fragt Sascha.
»Selbstverständlich haben wir auch hier ein Klinikum, aber für diesen Fall sind wir nicht so gut gerüstet …«
»Sie meinen das Virus, Herr Doktor?«
»Das müssen wir noch abklären …«
»Und ich?«, fragt Galilahi dem Weinen nahe.
»Sie vorerst nicht. Bitte holen Sie, was der Herr mitnehmen möchte, Schlafanzug, Toilettzeug. Es gibt natürlich alles in der Klinik, aber …«
»Muss er dortbleiben?«
»Das weiß ich nicht, das wird man dort feststellen. Aber wir sollten mit allem rechnen und möglichst wenig Zeit verlieren. Bitte, beeilen Sie sich.« Die beiden Pfleger schnauzt er an. »Habt ihr die Masken mit? Na, worauf wartet ihr, setzt sie auf …« Erst jetzt besinnt er sich, dass er selbst es unterlassen hat, und holt schnell eine chirurgische Maske aus seiner Arzttasche, stülpt sie über Nase und Mund.
Die junge Ärztin Gerda stürzt ins Hotel: »Um Himmels willen, was ist los?«
»Auf ein Wort, Frau Kollegin …«
Die beiden Ärzte flüstern miteinander. Auch Gerda holt eine Maske aus ihrer Tasche und setzt sie auf. Die Pfleger haben eine Bahre geholt, Franco wehrt sich nicht mehr und wird auf ihr festgeschnallt. Sirenenheulend saust die Rettung mit dem Patienten ab, Gerda bleibt an der Rezeption stehen. Der Aufzug surrt, die Türen gehen auf und Marko und Mila steigen fröhlich, frisch, munter, bestens gelaunt aus: »Du wieder unter den Ersten, Papa? Gestern Abend haben wir keine Palatschinken, Crêpes oder wie sich hier das Zeug nennt, bekommen …«, will er erzählen, unterbricht sich aber, als er die Ärztin mit der Maske auf dem Gesicht bemerkt. »Ist etwas passiert?«
Sascha berichtet. Marko seufzt: »Du hast gestern Abend behauptet, alles sei wie immer, Papa. Wer hat jetzt recht gehabt? Ich hoffe, wir dürfen trotzdem im Saal Anna Amalia, falls er noch so heißt, frühstücken. Womöglich für einige Zeit zum letzten Mal …«
Patrick, der näher gekommen ist, um sich vorzustellen, hat zugehört und berichtigt:
»Der Saal wird jetzt einfach AnnA genannt. Mit großem A am Ende. Übrigens, Patrick mein Name …«
Aus dem Aufzug kommen nach und nach andere ältere Herren, einige mit Damen, die wohl ihre Gattinnen sind, oder mit junger Begleitung, alle mit den Kennkarten als Gäste der Gedenkstätte. Man nickt einander zu und begibt sich zum Frühstück. Platz gibt es ja mehr als genug, Abstand halten ist kein Problem. Sascha setzt sich zu seinem Sohn und dessen Freundin, bestellt sich noch einen Espresso.
»Es ist doch alles ziemlich normal, oder?«, besteht er auf seinem Standpunkt.
Patrick stellt sich in die Mitte des Saales, hebt ein Glas hoch, jedoch nicht um zu trinken, sondern um mit einem Kaffeelöffel darauf zu schlagen.
»Meine Damen und Herren, ich hoffe, mich Ihnen allen schon vorgestellt zu haben. Ich sage Ihnen noch einmal im Namen der Gedenkstätte, wie herzlich Sie willkommen sind, wie sehr wir Ihren Mut bewundern, und dass wir natürlich alles für Sie tun wollen, was in unserer Macht steht. Die Landesregierung und die Stadt Weimar haben mich beauftragt, Sie auch in ihrem Namen zu begrüßen, Sie werden sicher verstehen, dass die meisten leitenden Verantwortlichen zurzeit mit der Bewältigung der Pandemie beschäftigt sind. Ich darf jetzt eine Liste mit den Namen aller Gäste und einigen Angaben zu ihnen austeilen, damit Sie schneller und leichter miteinander in Kontakt treten können, obwohl sich einige von Ihnen sicher nicht zuletzt von früheren Veranstaltungen hier kennen. Und dann möchte ich Sie herzlich bitten, noch ein wenig hier im Saal zu bleiben, alle ihre Bestellungen gehen selbstverständlich auf unsere Rechnung.«
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