Zwölf Überlebende, teils von ihren Gattinnen, teils von Kindern oder Enkelkindern und deren Lebensgefährten oder von jungen Freunden begleitet, würden also im Hotel Elephant ihre schönen Zimmer beziehen. Die Hoteldirektion hatte nach der Absage der Feier und der Stornierung aller Zimmer keine neuen Reservierungen mehr angenommen, die Zimmer waren ja glücklicherweise schon bezahlt gewesen, das Personal in Urlaub geschickt. Nun musste zumindest ein Teil der Leute wieder in den Dienst zurückgerufen werden. Wunderbar. Der sterngeschmückte Chefkoch freute sich ganz besonders, dass es weniger Gäste geben würde, so konnte er seine Kunst mit besonderer Aufmerksamkeit beweisen.
Einer nach dem anderen kommen sie an, die Trotzigen, die sich der Naturgewalt nicht haben unterwerfen wollen. Vor dem Hotel werden sie von einem Mitarbeiter der Gedenkstätte empfangen, dem der Fahrer im Voraus angekündigt hat, wer wann ankommen würde. Polizeibeamte in Zivil begrüßen sie. Weitere uniformierte Polizisten gehen schweigend vor dem Hotel auf und ab.
Als Erster ist der Serbe Alexander Mihályi-Mihajlović, genannt Sascha, am Flughafen abgeholt worden, den sein Sohn und dessen Lebensgefährtin begleiten. Der Fahrer bittet sie, noch einige Minuten zu warten, gleich komme ein weiterer Flieger an, mit dem ein Herr aus Amerika erwartet werde – auch wenn der eigentlich Italiener sei. Als er eintrifft, machen die Herren sich bekannt, umarmen einander fast, obwohl sie sich nicht von früheren Veranstaltungen hier aneinander erinnern können, sie sehen dann aber davon ab. Das blöde Virus. Die Begleiterin des amerikanischen Italieners Franco Miculetti ist seine sehr gut aussehende, kreolisch anmutende Enkeltochter Galilahi.
»Was für ein schöner Name! Den habe ich noch nie gehört. Hat er eine Bedeutung?«, fragt Saschas Sohn Marko, er duzt jedermann, wie das in seiner Generation üblich ist.
Sie antwortet verschnupft: »Es ist ein indianischer Name, drei meiner Großeltern sind Navajo. Der Name bedeutet ungefähr ›Sie ist ein hübsches Mädchen‹. Man könnte ihn auch mit ›die Attraktive‹ übersetzen. Passt das zu mir? Was meinst du?«
»Ich finde, er passt. Ich heiße übrigens Mila, das bedeutet, ich sei lieb«, mischt sich Markos Freundin ein. »Wer hat dir diesen Namen gegeben, wie konnte er wissen, wie du einmal aussehen wirst?«
»Mein Urgroßvater mütterlicherseits. Er war ein großer Medizinmann.«
Der Fahrer mahnt die Herrschaften höflich zur Eile und alle nehmen im Kombi Platz, Sascha und die Seinen auf der hinteren, der Italoamerikaner nebst Enkelin auf der mittleren Bank. Während der langen Fahrt spricht keiner. Am späten Nachmittag kommt die kleine Gesellschaft im Hotel Elephant an. Franco und Sascha sind schon öfter hier gewesen und wundern sich ein wenig, weil die Renovierung die Lobby stark verändert hat. Sie sollte wohl gediegen wirken, es ist jedoch reinster Kitsch geworden.
»Entschuldigt«, sagt der Italiener mit etwas rauer Stimme. »Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich bin Franco Miculetti. Und wie heißt du, Kamerad? Ich kann doch Kamerad sagen und dich duzen, unter alten Buchenwaldianern? Der Fahrer hat dich als Herr Mihályi angesprochen, der Beamte hier vor der Hoteltür als Herr Michailovitsch, deine Schwiegertochter hat Sascha zu dir gesagt, wie heißt du nun wirklich?«
Sascha und sein Sohn lachen, der Serbe erklärt: »Zugegeben, es ist kompliziert, aber gleich kommt es noch schlimmer. Es ist ein Durcheinander, fast ein wenig peinlich, aber es war lebensrettend. Also: Mein Großvater hieß Mandelbaum. Er wohnte im Banat, das gehörte damals zum ungarischen Teil von Österreich-Ungarn, und es war unter Juden Mode, ihre Nachnamen zu magyarisieren. So nahm er den Namen Mihályi an. Mein Vater und ich wurden als Mihályis geboren und ich sollte eigentlich Sándor Mihályi heißen. Aber mein Vater wollte ein guter Bürger des neuen jugoslawischen Staates sein und ließ seinen Namen amtlich auf Mihajlović ändern. Sándor ist Alexander, auf Serbisch Aleksandar, also war mein Name nun Aleksandar Mihajlović. Beschnitten nach jüdischem Ritual wurde ich nicht, meine Eltern waren Atheisten. Als Hitlers Bewegung immer mächtiger und Österreich heim ins Reich beordert wurde, ließ mein Vater mich bei einem befreundeten reformierten Pfarrer taufen. Der stellte mir einen Taufschein mit rückdatiertem Taufdatum aus, auch den Schülerausweis fälschten wir: Jetzt war ich Sándor Mihályi. So kam ich während des Krieges in den von den Ungarn besetzten Teil Jugoslawiens, in die Batschka, und konnte mich ohne Weiteres als Ungar ins Gymnasium einschreiben …«
Galilahi muss lachen, sie begreift das alles nicht ganz, es ist wie aus einem schlechten Film. Franco stützt sich auf die Lehne eines großen Sessels, er sieht tatsächlich abgespannt aus, sie unterhalten sich stehend und er hat ja selbst den Redeschwall angezettelt, nun muss er durchhalten. Der serbische Jude mit den vielen Namen bemerkt seine Unruhe gar nicht, sondern setzt fort.
»Aber 1944, als die Pfeilkreuzler in Ungarn an die Macht kamen …«
»Was sind Pfeilkreuzler?«, will Galilahi wissen. Marko springt ein:
»Bitte, darüber ein anderes Mal. Weiter, Papa, aber komm bitte zum Schluss!«
»Gewiss doch. Also, ich flog 1944 auf und zu meinem Glück wurde ich als Jude nach Auschwitz gebracht, aber als arbeitsfähig nicht sofort vergast, sondern weiter nach Buchenwald geschickt, nicht wegen Urkundenfälschung als Kommunist angeklagt und erschossen. Und als ich zurückkam und in Titos Kommunistische Partei eintrat, passte mir dieses Mihályi nicht mehr und ich wechselte den Nachnamen zurück auf Mihajlović. Moment, noch bin ich nicht fertig. Inzwischen habe ich auch die österreichische Staatsbürgerschaft und einen legalen Pass, in dem Alexander Mihályi als Pseudonym des Schriftstellers Mihajlović angegeben wird. Ich muss nur immer aufpassen, wenn ich wo unterschreibe, besonders auf Verträgen, Geldüberweisungen und so, in Serbien unterzeichne ich außerdem in kyrillischer Schrift, sonst natürlich in lateinischer. Dein Sascha zu Diensten, Franco. Natürlich sind wir Kameraden.«
Nach und nach treffen weitere Gäste ein. Die alten Buchenwaldianer erhalten Kennkarten, die sie sich anheften. Verwirrt nicken sie einander zu, kennt man einander von früher, von Feiern zu anderen Gedenktagen? Betagte Menschen sind nun einmal vergesslich. Zeit für Umarmungen und erste Gespräche findet sich jedenfalls nicht. Bevor man ihnen die Zimmerschlüssel überreicht, werden sie einzeln in einen kleinen Salon gebeten, in dem sie die Ärztin, Frau Doktor Gerda Meier, erwartet. Sie entschuldigt sich, dass diese Formalität notwendig sei, man sei ihn liebevoller Sorge um das Wohl der verehrten Gäste. Vorerst füllt sie jedoch nur einen Fragebogen aus, der die Krankengeschichte der Gäste, insbesondere ihre Beschwerden im Laufe des letzten Jahres erfasst. Am liebsten würde sie sie gerne alle gleich untersuchen, erklärt sie, zumindest das Fieber messen, aber sie seien sicher müde von der Reise. Sie wolle sie aber so bald wie möglich, bei aller Rücksicht auf ihre Bequemlichkeit, reihum in ihren Zimmern besuchen, um das nachzuholen. Sie stehe zudem täglich von neun bis siebzehn Uhr bereit und sei zu jeder Tages- oder Nachtzeit telefonisch erreichbar. Abschließend verteilt sie ihre Visitenkarten und eine Liste mit wichtigen Telefonnummern verschiedener Behörden, der Unfallstation und der Polizei.
Sascha und Marko wollen gleich eine Tour durch die Stadt machen. Franco, der Italiener, will nicht mehr ausgehen, sondern lieber gleich im Hotel speisen. Also ermuntern die beiden Serben Galilahi, doch mitzukommen, weil sie noch nie in Weimar, ja nie in Europa gewesen ist. Sie blickt ihren Großvater fragend an, und als er kopfschüttelnd verneint, zuckt sie nur folgsam die Achseln. Sie tut das auf entzückende Art. Man verabredet sich also für nach dem Frühstück im ehemaligen Rauchersalon neben der Lobby.
Читать дальше