»Verzeihung … Herr Knurrhahn …«, murmelte Gitta erschrocken.
»So eine Frechheit!« brüllte der Regisseur los. »Was ist denn in dich gefahren, zu mir Knurrhahn zu sagen?«
Am liebsten hätte Gitta kehrtgemacht und wäre schnurstracks davongelaufen, aber sie raffte allen Mut zusammen und sagte verlegen lächelnd: »Ich weiß doch, daß Sie das gar nicht so meinen, Herr Knurrhahn!«
Der alte Knurrhahn blickte Gitta erstaunt an. Und plötzlich ganz ruhig fragte er: »Warum sagst du immer ›Herr Knurrhahn‹ zu mir?«
»Sie heißen doch so.«
»Wer hat dir gesagt, daß ich Knurrhahn heiße?«
»Mein Freund, der Herr Peter Paul. Er hat gesagt: ›Da hinten steht der alte Knurrhahn! Laß dich nicht einschüchtern, auch wenn er brüllt, er meint es gar nicht so!«
»So!« Der Regisseur konnte sich das Lachen kaum verkneifen. »Der Peter Paul hat das gesagt! Soso – der gute Peter Paul … Na wart nur, lieber Peter Paul.«
Gitta erfaßte plötzlich die ganze Lage.
»Heißen Sie etwa gar nicht ›Knurrhahn‹?«
»Nein! Ich heiße Curtius, Roland Curtius.«
»Na, so was – Das … das hab’ ich nicht gewußt, Herr Knurrhahn – Verzeihung, Herr Curtius«, stotterte Gitta.
»Diesem Peter Paul werde ich wohl die Ohren langziehen müssen. Was meinst du dazu – du kleiner Naseweis?«
»Tun Sie das nicht, Herr Curtius! Er hat es bestimmt nicht so gemeint. Ganz bestimmt nicht! Der Herr Peter Paul ist doch so nett! Und wenn er mir nicht geholfen hätte, wäre ich ja überhaupt nicht zu Ihnen gekommen!«
»Die Kleine ist gar nicht bestellt«, bestätigte die junge Dame mit der Brille.
»Du bist nicht bestellt?« fragte Herr Curtius erstaunt. »Ja, was willst du denn dann bei uns …?«
»Ich möchte Filmschauspielerin werden, Herr Curtius. Herr Reitmeier hat gesagt, daß Sie ein kleines Mädchen mit blonden Haaren suchen, und da habe ich mir gedacht, das wäre bestimmt eine Rolle für mich. Und darum bin ich da … Bitte, bitte Herr Curtius, machen Sie doch eine Probeaufnahme mit mir! Ich kann lachen und weinen, und tanzen und turnen kann ich auch! Es ist gar nicht wahr, wenn die Susy sagt, ich wäre steif! Und im Gedichteaufsagen bin ich die Beste in der Klasse …«
»Genug – genug!« Herr Curtius war guter Laune. »Ich merk’ schon, reden kannst du!«
»Freilich!«
»Ja – ja –! Nun halt mal fünf Minuten deinen Mund! Ja? Geh einen Schritt zurück … so! Dreh dich um, und laß dich anschauen!«
Gitta drehte sich wie ein Kreisel. Erwartungsvoll sah sie Herrn Curtius an.
Er wandte sich an die junge Dame mit der Brille. »Was meinen Sie?« Die Dame mit der Brille schaute Gitta an: »Wenn die Kleine vor der Kamera auch so – natürlich ist, sage ich ja.«
Herr Curtius überlegte einen Augenblick: »Wir werden eine Probeaufnahme von dir machen.«
»Oh …, vielen Dank!« Gitta konnte es kaum fassen.
»Freu dich nicht zu früh. Wir müssen erst schau’n, was bei der Probeaufnahme herauskommt!«
»Ich will mich sehr zusammennehmen – Herr Knurr – Herr Curtius!«
»Du bleibst in der Kantine und wartest mit den anderen, bis du aufgerufen wirst. Verstanden?«
»Ja, Herr Curtius!« Gitta lächelte ihn dankbar an.
»Also bis nachher … Wie heißt du eigentlich?«
»Gitta.«
»Bis nachher, Gitta!« Herr Curtius eilte, gefolgt von der jungen Dame mit der Brille, aus der Kantine.
Ein Wunderkind und eine Heulsuse
Gitta sah sich in der Kantine um. Alle Eltern und Kinder hatten Platz genommen. Sie setzte sich an einen freien Tisch. Die Tür, durch die Herr Curtius und die junge Dame hinausgegangen waren, konnte sie von hier aus sehen. Ob Herr Curtius dem Peter Paul wirklich die Ohren langzog? Ob sie die Filmrolle bekommen würde?
Gitta spürte einen gewaltigen Hunger. Ihre Augen wurden ganz groß, als sie sehen mußte, wie die Kellnerinnen große Tassen mit Kakao und Teller mit Kuchen auf die Tische stellten. Wenn sie doch ihr Geldtäschchen nicht vergessen hätte. Wenn der Vati hier wäre, hätte er ihr bestimmt auch Kuchen bestellt!
Eine Kellnerin, mit einem Kuchenteller in der Hand, kam auf ihren Tisch zu und stellte den Teller mit Sahnekuchen und eine Tasse Kakao vor Gitta hin. Eine Weile saß Gitta sprachlos vor den Herrlichkeiten. Als die Kellnerin wieder bei ihr vorbeikam, flüsterte sie schüchtern:
»Bitte, Fräulein, ich habe kein Geld!«
Verständnislos sah die Kellnerin Gitta an.
»Ich kann das nicht bezahlen!«
Die Kellnerin lachte. »Das brauchst du gar nicht zu bezahlen – du bist doch eingeladen!«
»Eingeladen? Von Herrn Curtius?«
»Von der Filmgesellschaft. Alle Kinder sind zu Kakao und Kuchen eingeladen!«
»Oh, vielen Dank!«
»Laß es dir gut schmecken!«
Gitta aß den Kuchen bis auf das letzte Krümelchen auf. Am liebsten hätte sie den Teller abgeleckt.
Die junge Dame mit der Brille war schon ein paarmal in der Tür erschienen, hatte einen Namen aufgerufen, und dann war ein Kind mit ihr hinausgegangen. Manchmal wollten Mutter oder Vater mitgehen, aber das erlaubte die junge Dame nicht. Jedesmal, wenn sie kam, brachte sie eines der Kinder, das sie vorher mitgenommen hatte, wieder zurück.
Gitta versuchte zu zählen, wieviel Kinder schon hinausgegangen waren. Sie war immer noch nicht an der Reihe. Wenn nun Herr Curtius sie vergessen hatte?
Die junge Dame rief Anita, das Wunderkind. Schnell stand Gitta auf und lief hinter Anita her. Als die junge Dame mit der Brille eine Tür öffnete und Anita in eine Garderobe hineinließ, bemerkte sie Gitta.
»Nanu? Was willst du hier?«
»Ich … Ich hatte Angst, daß Sie mich vergessen!« gestand Gitta.
»Vergessen haben wir dich nicht. Du mußt aber warten, bis du an der Reihe bist!«
»Aber … Meine Eltern wissen doch nicht, wo ich bin.«
Die junge Dame sah Gitta durch ihre Brillengläser kritisch an und begann zu lachen: »Du bist mir schon die Rechte! Na schön, komm mit.« Sie schob Gitta in die Garderobe.
Anita hatte sich in den Sessel vor dem großen Spiegel gesetzt. Eine freundliche Frau hüllte Anita in ein weißes Laken ein und begann, auf ihr Gesicht eine Salbe aufzulegen. Gitta schaute neugierig zu.
Die Frau kämmte Anita und hielt die blonden Locken fest. »Dauerwellen?« fragte sie sachverständig.
Anita sagte stolz: »Ja … Gut, nicht wahr?«
Gitta konnte den Mund nicht halten. »Was! Du hast schon Dauerwellen? Ein Kind mit Dauerwellen … nein, so was Blödes!«
»Bei gewöhnlichen Kindern ist das vielleicht blöd«, antwortete Anita spitz, »bei mir ist das etwas anderes … Ich bin ein Wunderkind!«
»Was bist du?«
»Ein Wunderkind! Weißt du nicht, was das bedeutet?«
»Kannst du Klavier spielen oder komponieren?« fragte Gitta.
»Wie kommst du darauf?«
»Mozart war ein Wunderkind. Der konnte komponieren und Klavier spielen, als er noch nicht einmal zur Schule ging.«
»Mozart war ein musikalisches Wunderkind, aber ich bin ein schauspielerisches! Das ist viel mehr!«
Die Tür wurde geöffnet. Die junge Dame schob ein kleines, heulendes Mädchen herein. Tränen liefen ihm über die Wangen und hinterließen Spuren in der braunen Schminke. Die schwarze Wimperntusche schwamm über die Nasenspitze.
Die junge Dame tröstete: »Nun hör auf zu weinen, Edelgard! Das ist doch alles nicht so schlimm!«
Edelgard schluchzte. Gitta fragte die junge Dame: »Was … was hat sie denn?«
»Sie hat es nicht geschafft!«
»Oh, meine Mama!« schluchzte Edelgard. »Meine Mama wird mit mir schimpfen!«
»Das wird sie nicht. Ich werde mit deiner Mama reden! Stell dir vor, wenn alle Kinder geweint hätten, die es nicht geschafft haben! Das wäre ein schönes Geheule geworden!«
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