Ell Wendt
Saga
Die stolze Nymphe Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1942, 2020 Ell Wendt und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726629279
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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Pünktlich um sechs Uhr dreißig rasselte der Wecker. Christine krauste im Schlaf die Stirn. Sie ging gerade mit Klaus über eine blühende Sommerwiese, Schwalben schossen durch den blauen Himmel, die Luft war erfüllt vom Zirpen der Grillen. „Sieh nur, wie schön!“ sagte die träumende Christine zu Klaus, aber das Zirpen der Grillen wurde stärker und stärker, es schwoll zu einem ohrenbetäubenden Geräusch an. Christine riß entsetzt die Augen auf; sie konnte sich nicht länger der Erkenntnis verschließen, daß sie sich nicht auf einer blühenden Wiese, sondern in ihrem Bett in der Dirrmoserschen Wohnung befand und zwar in der einzigen Gesellschaft eines Weckers, von dem sie nicht begriff, daß seine mißtönende Stimme sie auch nur einen Augenblick an das Zirpen von Grillen hatte denken lassen. Sie streckte die Hand aus, um den Wecker zum Schweigen zu bringen, aber tückisch, wie Dinge zuweilen sind, verstummte er mit einem letzten röchelnden Laut von selbst.
Christine legte sich zurück, ein wenig ärgerlich, weil sie aus Gewohnheit am Abend zuvor den Wecker auf sechs Uhr dreißig gestellt hatte, obwohl es nicht mehr so eilte mit dem Aufstehen, seitdem sie den vertretungsweise übernommenen Posten in der Leihbücherei wieder an ihre Freundin Mimi abgegeben hatte. Die Arme hinter dem Köpf verschränkt, versuchte sie geschlossenen Auges zur Sommerwiese zurückzufinden, aber nun machte ein auf der Straße vorbeidröhnender Lastwagen die Scheiben erklirren, während sich im Nebenzimmer das Erwachen der Eheleute Dirrmoser unter mannigfachen Geräuschen vollzog. Da die Wände im Hause dünn waren, wurde Christine zur unfreiwilligen Zeugin des Dirrmoserschen Ehelebens, das zu einem erheblichen Teil aus langen vorwurfsvollen Ansprachen bestand, die Frau Dirrmoser an ihren wortkargen Gatten richtete. Den Rest bildeten die allnächtlichen Schnarchduette, ein akustischer Wettbewerb, aus dem Herr Dirrmoser als unbestrittener Sieger hervorging.
Tagsüber war er mit einem schmucken Taxi, dessen Besitzer er war, am Odeonsplatz zu finden. Rechtschaffenheit und Biedersinn standen ihm im Gesicht geschrieben; er sei durch nichts „aus dem Häusl zu bringen“, wie seine Frau behauptete, eine Eigenschaft, die seinem verantwortungsvollen Beruf nur zum Vorteil gereichen konnte. Unbegreiflicherweise fand Frau Dirrmoser hierin einen Grund zur Klage; sie beantwortete Christines Einwand, es müsse doch angenehmer sein, einen ruhigen Mann zu haben als einen, der die Wohnung mit den Ausbrüchen eines überschäumenden Temperaments erfülle, mit einem „O mei, Fräulein!“, das tiefes Mitleid mit Christines Unbewandertheit in ehelichen Dingen verriet.
Christine hatte das Zimmer bei Dirrmosers, das in der Zeitung als „Couchzimmer mit modernem Komfort“ angepriesen worden war, gemietet, weil es den Vorzug der Billigkeit mit einem Ausblick auf unbebaute Grünflächen verband, auf denen zu Christines Entzücken manchmal eine Schafherde weidete. Was den Komfort betraf, so verstand Frau Dirrmoser darunter wohl den alten Rohrsessel mit dem kreuzstichbestickten Polster sowie ein Bärenfell, das sie auf einer Auktion ersteigert hatte, ohne zu ahnen, daß Motten darin hausten. Der Ärger über diese Entdeckung hatte sie veranlaßt, den Bären von seinem Platz vor dem Sofa in der Wohnstube fort in Christines Zimmer zu verbannen, wo er sich, quer über das Linoleum gebreitet, sehr wohlhabend ausnahm. Über der Couch hing ein schwarz gerahmter Stahlstich: „Napoleon auf der Flucht über die Beresina“. Er zeigte den großen Korsen, wie er im Schlitten eine verschneite und äußerst unwirtliche Landschaft durcheilte. Zu seinen Häupten kreisten einige Raben, wodurch wohl symbolisch der nahende Untergang angedeutet werden sollte.
„Schauderhaft!“ hatte Klaus beeindruckt ausgerufen, als er Christine zum erstenmal in ihrem Domizil besuchte. Aber Christine ließ sich nicht entmutigen. Sie fand, daß Männer sehr leicht dem Schein erliegen, und begab sich tapfer daran, den Dirrmoserschen Scheußlichkeiten mit Decken, Kissen und Büchern aus eigenem Besitz zu Leibe zu gehen. Als Klaus das nächste Mal gekommen war, hatte er die Augen aufgerissen und etwas von Feenhänden gemurmelt. Im Gedanken daran lächelte Christine. Es war so komisch, wenn Klaus versuchte, sich poetisch auszudrücken. Nicht etwa, als mangle es ihm an Phantasie, aber seine Phantasie äußerte sich weniger auf geistigem als auf praktischem Gebiet.
Klaus, Elektroingenieur von Beruf, war in erster Linie und mit Leib und Seele Erfinder. Zwar ging es ihm nicht um weltbewegende Neuerungen wie Raketenflugzeuge oder Unterseetunnels; er fühlte nur den unbezwinglichen Drang, die Welt im kleinen zu verbessern, indem er Dinge erfand, die der Erleichterung des täglichen Lebens dienen sollten. Im Anfang ihrer Bekanntschaft hatte er Christine erzählt, wie es ihn als halbwüchsigen Jungen beeindruckt habe, seine Mutter morgens, mittags und abends Berge von Geschirr abwaschen zu sehen. Nicht mit Unrecht vermutete Christine, daß dieser Eindruck weniger stark gewesen wäre, wenn Klaus nicht zur Hilfeleistung beim Geschirrabwaschen und sonstigen Aufgaben in dem kinderreichen Haushalt befohlen worden wäre. Offenbar hatte seine Tätigkeit als Tellerwäscher den Wunsch in ihm reifen lassen, menschliche Hände durch Maschinen ersetzt zu sehen. Schon als Vierzehnjähriger hatte er an einem Apparat gebastelt, der Geschirr selbsttätig reinigen sollte. Damals war er ausgelacht und mit Ohrfeigen in die Wirklichkeit der mütterlichen Küche zurückgetrieben worden. Aber das hinderte ihn nicht, den Plan später wieder aufzunehmen. Er verbrachte seine ganze Freizeit und die halben Nächte mit der Konstruktion eines Apparates, der, elektrisch betrieben, die Hausfrau davor bewahren würde, kostbare Stunden ihres Lebens mit Geschirrabwaschen zu verlieren. Als er damit fertig war, mußte er zu seinem Leidwesen erfahren, daß schon andere Tellerwäscher auf denselben Gedanken gekommen waren. Hotels und Krankenhäuser bedienten sich dieser Erfindung, während sie sich für den heimischen Herd als zu kostspielig erwies. Klaus jedoch, von echtem Erfindergeist beseelt, warf die Flinte nicht ins Korn.
„Die Zeit schreit nach Fortschritt!“ eröffnete er Christine auf ihrem ersten gemeinsamen Spaziergang, und später, als sie schon vertrauter miteinander waren: „Ich will nicht, daß meine Frau einmal den ganzen Tag im Haushalt wurschtelt!“
Es war dies ein Idealismus, den Christine schön und löblich fand, aber inzwischen hatte Klaus ein Patentbügeleisen und einen elektrischen Stopfapparat erfunden, ohne daß beides ihm etwas eingebracht hätte außer der Erkenntnis, daß es offenbar nichts auf der Welt gab, was es nicht schon gegeben hätte, und Christine begann zu hoffen, Klaus möge aus dieser Erkenntnis Nutzen ziehen und sein Sinnen und Trachten auf erreichbare Ziele richten. Nur sagen durfte sie ihm das nicht. Klaus war sehr empfindlich in diesem Punkt und würde sogleich behauptet haben, Christine glaube nicht an ihn. Womit er ihr bitter unrecht getan hätte, denn Christine glaubte mit der ganzen Kraft ihres einundzwanzigjährigen verliebten Herzens an Klaus. Sie bewunderte seine unleugbaren Fähigkeiten ebenso wie seinen zähen Fleiß, und wenn sie etwas wünschte, so war es höchstens, daß er beides stärker in den Dienst der Firma Kienagl & Eisenmann, Elektrische Artikel en gros, stellen möge, anstatt alles von seinen Erfindungen zu erwarten.
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