Christine entschloß sich, keine Erwägungen theoretischer Natur über etwas anzustellen, von dem sie sich in Kürze praktisch überzeugen konnte. Aber sie verspürte eine gewisse Spannung, als sie nun Waldham vor sich sah. Ihre wachsamen Augen stellten fest, daß es sich um einen hübschen geräumigen Ort handle, halb Dorf, halb Siedlung mit netten kleinen Häusern, die alle aussahen, als seien sie von Rentnern bewohnt. Die einschlägigen Geschäfte, Metzgerei, Bäckerei und Gemischtwarenhandlung, lagen an der Hauptstraße. Christine vermerkte es mit Befriedigung, als gehe es sie schon etwas an. Aber nachdem sie die Hauptstraße durchfahren hätte, sah sie sich genötigt, abzusteigen und nach der Alpenstraße zu fragen. Eine Frau erteilte bereitwillig Auskunft.
„Da müssens durch die Bahnunterführung durch“, erläuterte sie, „und dann gleich rechts. Zu wem wollens denn?“
Christine verspürte keine Lust, müßige Neugier zu befriedigen, sie dankte und schwang sich wieder auf ihr Rad. Sie fuhr am Wirtshaus „Zum Wilden Mann“, ausgeübt von Michael Schmiededer, vorbei, dann kam die Unterführung. Sie flitzte hindurch, auf der änderen Seite ging es wieder ein Stückchen bergauf, und endlich fand sie sich vor einem kleinen weißgetünchten Haus mit grünen Fensterläden und einem Giebel aus dunklem Holz. Es stand mitten in einem Stück eingezäunten Waldes, ein paar Leberblümchen blühten im Tannenschatten, über der Gartenpforte wölbte sich ein Bogen aus Rosen, die noch in einer winterlichen Umhüllung steckten. Als Christine auf die Klingel drückte, neben der sich ein Messingschild mit dem Namen Gregor Sommerhoff befand, erscholl im Innern des Hauses unverzüglich die Baßstimme eines großen Hundes, übertönt von einem hysterischen Zetern, wie es Schoßhündchen von sich geben.
,Hunde!‘ dachte Christine beglückt. Daß sie darauf nicht gekommen war!
Die IIaustür wurde geöffnet, ein helles zappelndes Etwas schoß hervor, gefolgt von einem schwarzen Neufundländer im Zockeltrab, und in der Tür erschien ein untersetzter breitschultriger Mann in einem weißen Kittel, wie ihn Ärzte tragen, Nur war der Kittel nicht so sauber.
„Kommen Sie nur herein!“ rief eine unwirsche Stimme. „Die Gartentür ist offen. Kaspar, Bibi hierher!“
Der Neufundländer gab ein letztes pflichtbewußtes Bellen von sich, bevor er schweifwedelnd zu dem Mann in der Haustür zurückkehrte. Das zappelnde Etwas aber hörte nicht auf zu kläffen und zu zetern. Während Christine den kurzen Weg zum Hause zurücklegte, sprang es an ihr hoch in dem hoffnungslosen Bemühen, ihren Rocksaum zu erwischen.
„Bibi!“ donnerte der Mann in der Tür.
„Lassen Sie nur!“ sagte Christine lachend. „Er wird mich nicht fressen.“
Sie lehnte ihr Rad gegen die Hauswand. Dann stand sie vor dem Mann im weißen Kittel und sah in ein großes, ziemlich verwittertes Gesicht mit hellen durchdringenden Augen unter buschigen Brauen. Es war nicht zu verkennen, daß diese Augen sie mit unverhohlenem Mißvergnügen betrachteten.
„Was wünschen Sie?“ fragte Sommerhoff mürrisch.
„Ich komme wegen der Anzeige.“ Christine kramte aus ihrer Tasche den Zeitungsausschnitt als Beweisstück hervor. ,Er sieht mich an, als halte er mich für eine Hochstaplerin‘, dachte sie beklommen, aber nun schien er sich zu erinnern.
„Kommen Sie herein“, sagte er, und, während er die Haustür hinter ihr schloß: „Es sind heute schon zwei dagewesen.“
„So?“ sagte Christine töricht. Sie wünschte sehr, Bibi möchte aufhören zu bellen. Sein durchdringendes Organ zwang sie beide zu einem Stimmaufwand, der einer Verständigung nicht förderlich sein konnte. Man mußte schon gute Nerven haben, um dieses Gezeter ohne Wutausbruch zu ertragen. Vielleicht war es das, was Herr Sommerhoff unter Tierliebe verstand? Gottseidank schien er ebenfalls genug zu haben, denn er ergriff Bibi kurzerhand beim Wickel und beförderte ihn in ein Gemach, dessen Tür er schnell wieder schloß, jedoch nicht, ohne daß Christine einen Blick auf einen Tisch, vollbepackt mit Töpfen und Geschirr, hätte werfen können. Dann öffnete er eine zweite Tür und ließ sie eintreten.
Staunend überschritt Christine die Schwelle zu einem großen weiß getünchten Raum, der sein Licht durch ein Atelierfenster empfing. Der erste Eindruck vermittelte Kühle und Nüchternheit. Ein großer Tisch mit vielerlei Werkzeug nahm die Mitte ein, daneben erhob sich auf hölzernem Sockel die unvollendete Tonplastik eines Kinderkopfes. Statuetten in Bronze und Gips standen herum, das kalte Weiß einer Wand war durch einen herrlichen Wandteppich in leuchtenden Farben gemildert. An Möbeln gab es nur das Nötigste: ein paar Stühle, eine schöne alte Truhe, ein Regal mit Büchern und ein Tischchen mit Rauchgerät vor dem breiten Diwan in der Ecke, der das einzige Zugeständnis an Bequemlichkeit zu sein schien, das der Bildhauer Sommerhoff sich gestattete.
„Setzen Sie sich“, forderte er Christine mit einer Handbewegung zum Diwan hin auf.
Christine ließ sich unter dem feindseligen Blick einer hellblonden Angorakatze auf einer Ecke des Diwans nieder. Dabei entdeckte sie neben den Büchern einen Käfig mit einem türkisfarbenen Wellensittich.
„Idomeneo!“ sagte Sommerhoff, der ihrem Blick gefolgt war, und unter Hinweis auf die Katze: „Agathe!“ Er stand breitbeinig vor ihr, die Hände in den Taschen seines Kittels, und sah sie unter gerunzelten Brauen prüfend an. Neben ihm saß der Neufundländer Kaspar und hielt ebenfalls den Blick seiner goldgelben Augen wachsam auf sie gerichtet.
Christine lächelte. Zwei Hunde, eine Katze, ein Wellensittich! Und sie hatte an Affen, Papageien und Silberfüchse gedacht! Nun, auch so war es eine nette kleine Menagerie!
„Haben Sie Zeugnisse?“ fragte die unwirsche Stimme.
Das Lächeln erstarb auf Christines Lippen. Sie besaß keine Zeugnisse, außer einem, das ihre Leistungen im Buchhandel würdigte. Aber damit dürfte ihr in diesem Fall kaum gedient sein.
„Ich bin — ich habe —“ stotterte sie.
Sommerhoff winkte ungeduldig ab. „Was können Sie?“ wollte er kategorisch wissen.
Christines Verwirrung wuchs. Seine Art, einem die Pistole auf die Brust zu setzen, hatte etwas Atemraubendes. „Ich kenne mich ziemlich gut im Haushalt aus“, sagte sie vorsichtig, „und —“ ihre Stimme wurde sicherer: „ich liebe Tiere.“
Nun zog Sommerhoff einen Schemel heran und ließ sich darauf nieder. Sein bemerkenswerter Kopf, von wirrem graublondem Haar umstanden, war dicht vor Christines Augen. Sie versuchte sein Alter einzuschätzen und kam zu dem Ergebnis, daß er ebenso gut fünfzig wie sechzig Jahre zählen könne.
„Es kommt mir darauf an“, sagte er, „jemand zu bekommen, der dies alles —“ er wies mit einer ausladenden Gebärde um sich — „in Ordnung hält, ohne mich zu behelligen. Ich habe genug von den Putzweibern“, fügte er mit Abscheu hinzu.
Christine nickte teilnehmend. Er sah verdrossen und verbittert aus, ganz wie ein Mensch, der schlechte Erfahrungen gemacht hat.
„Sie arbeiten ohne Sinn und Verstand, bringen alles durcheinander und verstehen nicht, mit Tieren umzugehen“, faßte Sommerhoff sein Urteil über die „Putzweiber“ zusammen. „Obwohl es wahrhaftig kein Kunststück ist, Idomeneos Käfig geschlossen zu halten, so lange das Fenster offen steht. Dreimal hatte ich die größte Mühe, ihn wiederzubekommen. Und was die Hunde betrifft — nur Dummheit kann sie dafür verantwortlich machen wollen, daß sie Schmutz ins Haus bringen.“ Er lachte grimmig. „Ich für meine Person will nichts als in Ruhe gelassen werden. Aber das ist Putzweibern nicht beizubringen. Sie kommen mit ihren Eimern herein und setzen das Atelier unter Wasser. Ich möchte wirklich wissen“, schloß er erbittert, „ob es unmöglich ist, Ordnung zu schaffen, ohne vorher ein Chaos zu entfesseln!“
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