Ein plötzlicher Windstoß fährt ihr in die Haare, sie hebt die Hand, um sie wieder aus dem Gesicht zu streichen, und ihre Aufmerksamkeit wird von einer Gestalt gefangen genommen, die, aus der Frederiksgade kommend, über den Schlossplatz trottet, eine gelbe Nett o-Tüte in der Hand. Ein buckliger Mann in einem ausgeblichenen grünen Parka, der nur einen flüchtigen Blick in Richtung dieses monströsen Aufmarsches wirft, bevor er weiterschlurft auf seiner Jagd nach Flaschen. Sie schnappt erschrocken nach Luft, Reaktion auf das Erkennen und zugleich auf das Entsetzen darüber, dass sie es immer noch glaubt. Dass es ihn gibt. Dass er auftaucht wie ein Phantom, in Verkleidung oder als er selbst in seiner Strickjacke, immer, wenn sie ihm etwas Besonderes zu zeigen hat. Etwas, worauf er stolz sein kann. So wie zu ihrer Konfirmation. So wie zur Abschlussfeier, wo sie ununterbrochen ihre Studentenmütze aufhatte, weil es ihn glücklich gemacht hätte. Stolz und glücklich auf dieselbe strahlende Art wie damals, das Frühjahr davor, als Lisbeth und sie eine Prämie für ihren Kürbis beim Treffen der Landjugend bekamen.
Nicht, dass ihre Mutter nicht auch verflucht glücklich gewesen wäre, als ihre Tochter sie kurz nach sieben mit der Neuigkeit angerufen hatte. Sogar so glücklich, dass sie »kurz davor war zu weinen«. Kurz davor. Aber okay, sie kam gerade von einer hektischen Nachtwache, also, was wollte man erwarten. Charlotte hatte sie gebeten, Lisbeth und Erik darüber zu informieren, ihre Schwester und deren Mann, den Schweinebaron, der vermutlich nicht in Jubel über ihren neuen Job ausbrechen würde. Sie waren, um es vorsichtig auszudrücken, äußerst uneins in ihren Analysen über die Verantwortung der Landwirtschaft gegenüber dem Umweltschutz. Lars, ihren lieben kleinen Bruder, hatte sie selbst angerufen – lang lebe das Handy –; er saß auf einem Rastplatz in Österreich im Lastwagen und trank Kaffee, mit Hilfsgütern auf dem Weg in den Kosovo. Er war ganz außer sich, Großartig, der Wahnsinn!, und hatte sie später noch einmal anrufen müssen, um sicherzugehen, dass er es nicht nur geträumt oder sich in morgendlicher Verwirrtheit eingebildet hatte. Thomas hatte sich um die Schwiegereltern gekümmert, und ihre Reaktion war absehbar gewesen. Eine gewisse Verlegenheit gegenüber Titeln, gemischt mit dem Unwillen darüber, dass ihr Sohn schon wieder betrogen worden war. Und dann hielten sie auch nicht gerade viel vom Staatsminister, der Regierung und der Sozialdemokratie an sich.
»Na, Charlotte«, sagt Per Vittrup zu ihr und drückt ihr leicht die Schulter. »Du hast es nicht bereut?«
»Nein«, sagt sie und wird von einem plötzlichen Schaudern geschüttelt.
Per Vittrup lässt sie los.
»Wärt ihr jetzt so nett, das Shooting zu beenden!«, teilt er mit. »Die Mädchen frieren. Wir sehen uns zur Pressekonferenz im Speisesaal!«
Wie auf Stichwort gellt plötzlich ein zweistimmiges »MAAMMAA!« über Amalienborgs Schlossplatz, und dann kann sie das Lachen nicht länger zurückhalten – Thomas kommt mit Jens und Johanne angesprintet, die Kinder wie zwei bunte Astronauten im Fahrradanhänger sitzend. Er hält erst, als er auf einer Linie mit der Mauer aus Presseleuten ist, die gerade dabei war, auseinander zu fallen, sich aber jetzt mit einem Mal wieder formiert, die Kameras auf die Zwillinge der Umweltministerin gerichtet, die, als sie abgeschnallt sind, sofort auf ihre Mutter zustürmen. Ihre Ministerkollegen, die sich gerade in alle Richtungen verteilen, lachen, als sie in die Hocke geht und ihre Kinder in den Arm nimmt, die nicht mal bemerken, dass sie unter kräftigem Medienfeuer stehen.
»Hast du den König gesehen?«, fragt Johanne.
»Die Königin«, verbessert Charlotte und versucht ihre Strümpfe vor Stiefelabdrücken zu bewahren.
»Bist du jetzt Staatsministerin?«, fragt Jens.
»Noch nicht!«, bemerkt Per Vittrup und tätschelt ihnen den Kopf. Die Journalisten haben die Blöcke gezückt, endlich passiert was.
»Das ist der Staatsminister«, lächelt Charlotte und drückt sie noch einmal, bevor sie Thomas ein Zeichen gibt, der sich, überrumpelt von der Dreistigkeit der Presse, aus dem Verhör der Journalisten befreien muss. Wie heißen die Kinder? Sind das Zwillinge? Wie alt sind sie? Sind sie im Kindergarten? Wie heißen Sie? Was machen Sie? Sind Sie beide verheiratet?
»Entschuldige, war vielleicht keine so gute Idee«, sagt er, als er zu ihr vorgedrungen ist, küsst sie flüchtig auf die Wange und schnappt sich die Kinder.
»Ich fand nur, sie sollten das erleben ...«
»Das ist okay«, sagt sie und nickt zu den Palastwachen, die dafür sorgen sollen, dass sie mit ihren Kollegen durch das Tor kommt, bevor es wieder geschlossen wird. Eine Armada frisch geputzter Ministerautos wartet im Hof, sie sollen geordnet und in der richtigen Reihenfolge abfahren. Sie als eine der Letzten.
»Ich muss mich beeilen«, sagt sie, küsst die Kinder, lenkt sie ab, indem sie auf die Gardisten hinter sich zeigt – »Schaut mal, ihre Mützen sind aus Bären gemacht!« –, und steht auf. »Bis nachher!«
»Verflixt«, sagt Thomas. »Du siehst schön aus.«
Wie man begeistert notiert, lächelt sie ihn »liebevoll« an, bevor sie durch das Tor in den Hof verschwindet, wo sie den kolossalen silberfarbenen BMW vorfindet, der sie in Zukunft standesgemäß befördern wird. Ihr Chauffeur, den sie schon auf dem Weg hierher hatte begrüßen können, öffnet ihr mit einem höflichen »Glückwunsch!« verlegen die rechte Rücksitztür.
»Danke«, sagt sie, holt tief Luft und steigt ein, auf den glatten, cremefarbenen Sitz.
»Was für ein Schlitten!«, platzt sie heraus, als der Chauffeur sich hinter das Lenkrad gesetzt hat und weich anfährt.
»Ein BMW 7351, falls Ihr Mann fragen sollte.«
»Mein Mann?«, lacht sie laut. »Der versteht wirklich gar nichts von Autos! Der fährt Fahrrad. Ist das ein Fernseher, den wir da haben?«, fragt sie und zeigt auf den Monitor, der in der Rückenlehne des Vordersitzes eingebaut ist.
Es ist einer. Und es gibt auch ein Telefon und einen kleinen Kühlschrank.
»Wahnsinn«, kichert sie kopfschüttelnd und lehnt sich im Sitz zurück, um sich dekorativ aufzurichten, als sie an der Reihe sind, durch das Tor zu gleiten, als vorletzter Wagen in der Ministerkolonne.
»So, und jetzt müssen Sie es genießen«, klingt es vom Vordersitz. »Es gibt zwei Touren, an die sich alle Minister für immer erinnern. Die erste und die letzte ...«
»Und die letzte pflegt kein Genuss zu sein?«, fragt sie trocken und winkt ein paar standhaft Neugierigen zu, die immer noch auf dem Schlossplatz stehen. Thomas und die Kinder sind nicht mehr zu sehen.
»Nein, das ist es ja gerade«, sagt er und trifft ihren Blick im Rückspiegel. »Na, jetzt haben Sie fünf Minuten zum Entspannen.«
Sie lächelt vor sich hin, kneift sich heimlich in den Arm. Freddy heißt er, der Chauffeur. Und er kommt aus Århus. Das ist irgendwie beruhigend.
*
Das ganze Blumengeschäft ist in Aufruhr, als Ingrid Damgaard kommt und einen Fleurop-Strauß für ihre Tochter bestellt. Schließlich kommt es nicht jeden Tag vor, dass so eine nordjütländische Kleinstadt auf die Dänemarkkarte gesetzt wird.
»Glückwunsch! Ich habe es gerade im Radio gehört«, ruft die redselige, mollige Blumenhändlerin, als Ingrid den Laden betritt. »Die vom Rathaus haben auch schon angerufen, der Bürgermeister schickt auch einen Strauß, das wäre ja noch schöner gewesen! Was musst du stolz sein, Ingrid!«
»Ja, das bin ich ja auch«, lächelt sie die Inhaberin, deren mageren Mann und die beiden anderen Kunden, die auch an dem Plausch teilhaben, gezwungen an. Nicht weil sie nicht stolz ist – sie ist absolut außer sich, hätte gute Lust, eine ganze Wagenladung Blumen nach Kopenhagen zu schicken –, aber irgendwie ist es fast zu überwältigend. Zu viel, um es selbst zu fassen. Und steht es ihr überhaupt zu, stolz zu sein?
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