1 ...8 9 10 12 13 14 ...24 »Guten Abend, hier ist Per Vittrup. Dein Staatsminister ... Wir kennen uns ja noch aus alten Tagen, nicht? Im Übrigen war dein Beitrag neulich auf dem Kongress ganz ausgezeichnet.«
»Danke«, antwortete sie heiser, während sich unter ihrem BH ein Schweißtropfen löste.
»Charlotte, sitzt du?«
»Jetzt schon«, sagte Charlotte und sank auf den Trip-Trap-Stuhl in der abgenutzten Einbauküche. Ihr Blick war starr auf den Kühlschrank fixiert, an dem Benachrichtigungen aus dem Kindergarten, Zahnarzttermine, Rezepte, Bilder und Weihnachtskarten hingen, mit bunten Magneten befestigt.
»Gut. Du weißt, dass ich dabeibin, eine Regierungsumbildung vorzunehmen?«
Charlotte nickte stumm.
»Ja, und um es kurz zu machen: Kann ich dich überreden, meine neue Umwelt- und Energieministerin zu werden?«
»Umweltministerin?«, wiederholte sie, während ein riesengroßes, orangefarbenes JA wie ein Sperrballon die ganze Küche ausfüllte. »Was ist mit Søren Schouw?«
»Um ihn kümmere ich mich«, antwortete der Staatsminister immer noch leutselig, allerdings mit einem Unterton, der deutlich machte, dass sie das nichts anging.
»Habe ich Bedenkzeit?«, fragte sie und befeuchtete ihre Lippen.
»Selbstverständlich. Eine halbe Stunde. Wir haben hier ein bisschen Hektik. Also sagen wir, du wirst in dreißig Minuten wieder angerufen?«
Später, als sie von Journalisten aufgefordert wurde, zu beschreiben, was sie gefühlt hatte, »als der Staatsminister anrief«, versuchte sie, den Augenblick zu rekonstruieren. Aber ihren ehrlichen Bemühungen zum Trotz musste sie sie damit enttäuschen, dass sie »nichts« fühlte. Nichts anderes als Leere, Unwirklichkeit und Schock. Der Lähmung nicht unähnlich, die sie an dem »schwarzen Sonntag« ihrer Kindheit empfunden hatte. Aber das erfuhren sie nicht. Sie sagte nur, dass sie weder Zeit zum Denken noch zum Fühlen gehabt hatte. Was nicht einmal wirklich gelogen war. Die ersten zehn Minuten hatte sie darauf verwendet, auf dem Trip-Trap sitzen zu bleiben und in die Luft zu starren. Sie wusste, was sie antworten würde, wenn sie denn könnte. Aber das war unmöglich. Sie musste nein sagen. Gerade als sie zu dieser Einsicht gelangt war, rief Elizabeth Meyer an. Um sich, wie sie ohne Umschweife erklärte, zu versichern, dass Charlotte »Danke, ja« sagte.
»Du kannst es dir nicht erlauben, nein zu sagen«, entschied sie, bevor Charlotte es geschafft hatte, ihre Vorbehalte zu äußern.
»Warum nicht?«
»Weil du die richtige Person zur richtigen Zeit bist. Sonst wärst du nicht gefragt worden.«
Im Anschluss rief sie Thomas auf dem Handy an. Ihre Stimme und ihre Hände zitterten, als sie ihn kurz angebunden bat, nach Hause zu kommen. JETZT.
»Was ist passiert?«, fragte er, erschrocken über ihren Tonfall, der eine Katastrophe größeren Ausmaßes verhieß. »Ist was passiert?«
»Ja. Aber nicht so was.«
»Ist was mit den Kindern?«
»Nein, nein. Komm einfach nach Hause!«
Er saß schon im Taxi und war in weniger als zehn Minuten da. Stürmte die Treppe hoch, schloss die Tür auf und fand sie versteinert und leichenblass in der Küche sitzen, in der Hand eine Zigarette und einen Cognac, eingeschenkt in ein Wasserglas.
»Was ist passiert?«, fragte er atemlos.
»Du wirst glauben, dass ich lüge«, setzte sie an und strahlte plötzlich von einem Ohr zum anderen.
»Was?«, fragte er und warf beunruhigt seine Handschuhe auf den Küchentisch.
»Der Staatsminister hat angerufen. Per Vittrup. Er will mich zur Umweltministerin machen.«
Man kann von niemandem, der nicht vorbereitet ist, erwarten, eine solche Aussage zu erfassen. Auch nicht, wenn sie wiederholt wird. Wieder und wieder.
»Du machst Witze.«
Erst als sie zum fünften Mal versicherte, dass es die Wahrheit war, drang es zu ihm durch. Er ließ sich auf den anderen Trip-Trap fallen. War an der Grenze zwischen Lachen und Weinen, erleichtert, dass es nichts Schlimmeres war, und gleichzeitig wie ausgebombt. Ein Volltreffer hatte seine Vorstellungen in Schutt und Asche gelegt, sein Luftschloss pulverisiert. Wie sollte er sich gegen eine solche Übermacht behaupten können? Der Staatsminister, fuck you!
Sie griff nach seiner Hand.
»Du musst keine Angst haben. Ich werde ablehnen. Ich habe eine halbe Stunde Bedenkzeit bekommen. Sie rufen in ein paar Minuten wieder an.«
Thomas schüttelte den Kopf. Er war schon vorher leicht angetrunken gewesen, aber jetzt war ihm komplett schwindelig. Aber noch bevor er wieder klar im Kopf werden konnte, durchbrach das Läuten des Telefons die Pause.
Sie fuhren zusammen wie ratlose Kinder, die gegenseitig Hilfe in ihrem Blick suchten.
»Sag ja«, sagte Thomas da.
»Bist du sicher?«
Er nickte.
»Was ist mit Afrika?«
»Afrika kann warten. Das regeln wir schon. Machen es später.«
Das Telefon klingelte wieder. Charlotte griff danach, aber stoppte die Bewegung.
»Bist du sicher?«
»Ja! Nimm schon ab und sag ja! Ich liebe dich!«
»Wirklich?«
»Ja!«
»Warum?«
»Es ist deine Pflicht. Du kannst es dir nicht erlauben, nein zu sagen.«
Charlotte nickte, ohne noch weiterer Vertiefung zu bedürfen. So einfach war es eben. Sie musste.
»Okay!« Charlotte räusperte sich, nahm den Hörer und sprach wieder mit der Sekretärin, die erneut durchstellte.
»Aber ich werde keine Geisel sein«, murmelte sie mahnend am Hörer vorbei, während sie wartete, länger als das letzte Mal. Inzwischen saß Thomas da und vertiefte sich in ihre grünbraunen Augen, bis sie zu einem Strom wurden, der ihn mitriss. Nicht, weil er fünf Schnäpse zu viel gehabt hatte – es war die Art, wie er sie wahrnahm. Für ihn war sie alle Kontinente auf einmal, sie war Norden und Süden, Kälte und Wärme, Trockenheit und Regen. Von Anfang an, vom ersten Tag an, dem ersten Sommer an, hatte er ihre Klüfte und Schluchten geliebt, ihre Täler und Bergpässe, die undurchdringlichen Wälder und blühenden Felder. Wenn es ihm zugestanden hätte, hätte er sie damals auf der Stelle mitgezogen, direkt in sein Bett, statt Wochen auf eine vorsichtige Annäherung zu verwenden. Als sie sich ihm an dem frühen Morgen endlich hingegeben hatte, berauscht und fröhlich, war es, wie er es erträumt hatte. Ein Geheimnis, das sich Blatt für Blatt entfaltete. Seither hatte es für ihn keine anderen Frauen auf dieser Welt gegeben. Dass er auch der einzige Mann in ihrem Leben war, daran hatte er keinen Zweifel. Das war es nicht, wovor er Angst hatte. Er hatte Angst, sie zu verlieren, auf dieselbe Weise, wie man plötzlich den Halt verlieren kann. Und vielleicht war das das drängendste Gefühl in diesem Moment, bevor der Staatsminister ans Telefon kam. Das Gefühl von Gefahr. Und als sich der Staatsminister offenbar meldete und sie sich halb wegdrehte, wusste er es. Dass sie sich schon ein wenig entfernt hatte.
Charlotte bemühte sich, gefasst und wohl überlegt zu klingen, als der Staatsminister sie fragte, ob sie den ersten Schock überwunden hatte.
»Ja«, antwortete sie.
»Habt ihr Familienrat gehalten?«
»Ja, das haben wir.«
Jetzt klang sie so nüchtern und gefasst, dass Per Vittrup schon anfing zu befürchten, dass sie nein sagen würde. Was Meyer als Risiko angesehen hatte. Aber das gehörte wohl größtenteils zum Spiel gegenüber Gert, der immer noch stinksauer war. Um ihn glauben zu machen, dass diese Charlotte Damgaard wahrlich nicht nur irgendjemand war, der schwanzwedelnd Order parierte.
»Also, was sagst du?«, fragte er leicht, mit einem Lächeln in der Stimme.
»Ich sage, ja, danke ...«
»Das freut mich zu hören!«
»... unter der Bedingung, dass ich nicht zur Geisel der Regierung werde.«
»Geisel? Könntest du das erläutern?«
»Dass ich nicht gezwungen werde, meine Ansichten zu ändern, dass ich das Recht habe, die Entscheidungen zu treffen, die ich für richtig halte, und dass ich einen gewissen Spielraum habe im Verhältnis zur Regierungspolitik. Ich bin ja doch radikaler als Søren Schouw, und das würde ich auch gerne bleiben.«
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