Während Leo den Wagen durch die Innenstadt lenkte, verdaute Keyra diese Informationen. Ist ja witzig, dass selbst der Orden nicht auf alles eine Antwort hat. Ich dachte, die hätten die ultimative Einsicht oder so .
„Aber die ersten Einträge kamen bereits, ehe wir beide uns kannten“, sagte sie zweifelnd.
„Denk nicht zu linear, schließlich bist du eine Zeitreisende“, sagte Leo. „Ich habe die Einträge natürlich später vorgenommen Du bist doch immer nur ein paar Sekunden weg, wie sollte ich in dieser kurzen Zeit so viele Informationen recherchieren und aufschreiben?“
Keyra stülpte die Unterlippe vor. „Das habe ich mich auch gefragt!“
„Auch das ist einer der Punkte, die schwierig zu beantworten sind. Sobald du eine Zeitreise antrittst, bekomme ich das mit. Und dann … wird es kompliziert.“
Keyra prustete. „Als ob hier etwas nicht kompliziert wäre.“ Dann stutzte sie. „Hey, wenn ich auch Einträge machen kann und wir unsere Einträge gegenseitig sehen können, dann müsste doch direkte Kommunikation miteinander möglich sein.“
Leo runzelte die Stirn. „Theoretisch ja. Das haben wir, glaube ich, nie versucht.“
Die beiden diskutierten diese neue Möglichkeit, bis Leo den Wagen in der Nähe der Zeil in der Töngesgasse vor einem imposanten Sandsteingebäude stoppte. Er griff an Keyras Knien vorbei in das Handschuhfach, holte eine verblichene, hellblaue Parkkarte hervor und warf sie auf das Armaturenbrett.
„Wir sind da.“
„Das ist es? Eindrucksvoll – was ist das für ein Gebäude?“
„Früher war es Teil eines Ordenshauses der Antoniter. Daher kommt der Name der Straße: Tönges leitet sich von Antonius ab.“ Leo stieg aus, und Keyra öffnete die Tür und schwang die Beine hinaus. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah an der Fassade empor.
„Die meisten Gebäude sind abgerissen oder im zweiten Weltkrieg zerstört worden, aber dieses wurde erhalten.“ Leo half ihr beim Aussteigen, was Keyra gleichzeitig charmant und altmodisch vorkam. „Der Eingang befindet sich dort vorne.“
Keyra folgte ihm zu einer kleinen Sandsteintreppe, die zu einer massiven Holztür führte. Über der Tür prangte ein Zeichen, das Keyra bereits gesehen hatte: eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biss. Darüber, bogenförmig, waren drei Worte eingemeißelt: Hen to pan .
Die Holztür öffnete sich knarrend, und ein breitschultriger Mann in einem eleganten Anzug kam heraus. Er hatte lange blonde Haare, die ihm auf die Schultern fielen, und freundliche braune Augen. „Da seid ihr endlich. Es war wohl viel Verkehr?“
Leopold nickte und drehte sich dann zu Keyra um. „Keyra, das ist Christopher Custos, der Schlüssel-Hüter.“
Der Mann reichte Keyra die Hand. „Herzlich willkommen, Keyra – Willkommen im Ordenshaus der Zeitwächter!“
Staunend sah Keyra sich um, während sie Leo und Christopher in eine Eingangshalle mit hohen Decken folgte. Die Decke war mit Stuck verziert, mehrere Säulen hatten wohl eher einen dekorativen als stützenden Zweck. Vier Türen gingen von der Halle ab, eine breite Freitreppe führte ins nächste Stockwerk.
„Kommen Sie, Keyra – ich darf Sie doch Keyra nennen?“ Christopher winkte ihr zu, ihm zu folgen. „Ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen.“
„Ich freue mich auch, hier zu sein.“ Keyra ging hinter Christopher die Treppe hinauf, Leo blieb dicht hinter ihr. „Ehrlich gesagt, habe ich geglaubt, der Orden interessiere sich nicht sonderlich für mich, bis Leo aufgetaucht ist.“
„Da haben Sie einen völlig falschen Eindruck bekommen.“ Sie erreichten den ersten Stock und standen in einem langen, geraden Gang. Er war weiß getüncht, und an den Wänden hingen zahlreiche Rahmen. Während sie weitergingen, betrachtete Keyra fasziniert die vielen Urkunden, Stammbäume, historische Dokumente und alte Karten. Christopher fuhr fort: „Ich muss zugeben, dass es eigentlich so war, dass wir von Ihrer Existenz nichts wussten, bis Ihre Großmutter Clara uns kontaktiert hat.“
„Das verstehe ich nicht. Es muss dem Orden doch bekannt gewesen sein, dass meine Mutter verheiratet war und ein Kind hatte.“
„Das war es. Ich will es Ihnen gerne erklären.“ Christopher hielt vor einer massiven Holztür an, öffnete sie und machte eine einladende Geste. „Hier ist mein Büro. Bitte, kommen Sie herein.“
Das Zimmer, das Keyra nun betrat, war eines der bemerkenswertesten, in denen sie je gewesen war. Ein riesiger Eichenschreibtisch dominierte den Raum von der Mitte aus. Die polierte Arbeitsfläche war über und über mit ledergebundenen Büchern, Folianten und losen Pergamentschriftstücken bedeckt, sodass der Laptop, der auf der Tischplatte stand, wie ein kleiner, aggressiver Eindringling aus der Moderne wirkte. Die Wände waren ausnahmslos mit Regalen zugestellt. In den meisten davon standen Bücher – nicht nur alte Exemplare, auch neuere Bände. Keyra erkannte geschichtliche Fachliteratur, physikalische Abhandlungen und klassische Romane.
Andere Regale waren mit merkwürdigen Apparaturen verschiedenster Zwecke gefüllt. Keyra erkannte unter anderem einen Sextanten, ein urtümliches Mikroskop, eine Laterna Magica, eine kleine Truhe und eine Porzellanpuppe in einem Biedermeierkleidchen. Vor einem zweiflügeligen Fenster stand ein Globus, der Keyra bis zur Brust reichte und in einem Holzgestell befestigte war. Von der Decke hingen ein hölzerner Käfig mit einem ausgestopften Vogel und das Modell von Leonardo da Vincis Flugmaschine. Über dem Schreibtisch war an der Decke die Schnitzerei der sich in den Schwanz beißenden Schlange in die Holzdecke eingelassen. Keyra kam sich vor wie in einem Antiquitätenladen.
„Setzt euch bitte“, sagte Christopher und wies auf zwei Ledersessel vor dem Schreibtisch. Er ging zu einem Teewagen und nahm eine Kanne und eine Tasse in die Hand. „Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Keyra?“
„Nein, danke, ich trinke keinen Kaffee“, sagte sie und ließ sich auf den angebotenen Sessel sinken. Der Sitzbezug knirschte, und sofort stieg ihr der Lederduft in die Nase. „Wenn Sie einfach ein Glas Wasser für mich hätten, Herr Custos?“
„Bitte, nennen Sie mich Christopher.“ Er schenkte aus einer Kristallkaraffe Wasser in ein schmales Glas ein, gab es Keyra, reichte Leo einen Kaffee und setzte sich schließlich selbst in einen Ledersessel hinter dem Schreibtisch. „Wir haben einiges zu besprechen.“
„Das stimmt. Verraten Sie mir, warum Sie von meiner Existenz nichts wussten?“
Christopher lachte leise. „Nun, wir wussten natürlich, dass Clara eine Enkelin hat. Aber wir sind davon ausgegangen, dass Ihnen die Gabe nicht vererbt wurde.“
„Die Gabe durch die Zeit zu reisen, meinen Sie?“ Keyra nippte an ihrem Wasser. „Wie kamen Sie darauf?“
„Normalerweise zeigt sich diese Gabe recht früh. Wir hatten allerdings nicht bedacht, dass Sie niemals Kontakt zu einem Schlüssel hatten, da ihre Mutter … nun ja, schon so lange verschwunden ist.“
Keyras Finger umklammerten das eiskalte Glas fester. Sie schwieg abwartend.
„Außerdem hatten Sie die Veranlagung nur von einer Seite geerbt. Wir waren deswegen sehr überrascht, von ihrer ersten, ungeplanten Reise zu hören.“
„Von meiner Großmutter?“
„Ja, sie hat uns informiert, ehe sie erkrankte.“
Keyra biss sich auf die Lippen. Ihre Großmutter war nach einem Streit mit ihr zusammengebrochen, und sie gab sich noch immer die Schuld dafür, dass Clara Schlosser nicht ansprechbar war und in der Seniorendependance in Marköbel untergebracht werden musste. „Sie konnte mir nicht viel erzählen. Nur, dass ich eine Zeitwächterin bin und Dinge in der Vergangenheit in Ordnung bringen soll.“
Christopher und Leo tauschten einen raschen Blick. „Das ist richtig“, sagte Christopher. „Und um Sie dafür zu trainieren, stellt Ihnen der Orden einen Mentoren zur Seite. Er ist, wenn Sie in der Vergangenheit sind, Ihre Verbindung zur Gegenwart.“
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