Ein anderes Brandes-Echo in Buddenbrooks stammt aus der Einleitung zum sechsten Band, Das junge Deutschland . Dort las Thomas Mann von den deutschen Burschenschaften in der nach-napoleonischen Restauration[142] und wendete dieses Wissen auf Morten Schwarzkopf an. (1.I, 146, 149–151). – In der Szene gegen Ende des Romans, in der Thomas Buddenbrook seiner Schwester seine zunehmenden Depressionen erklärt, kommt das »türkische Sprichwort« vor, das Thomas Buddenbrook irgendwo gelesen haben will: »Wenn das Haus fertig ist, so kommt der Tod« (1.I, 473). Der Autor der Buddenbrooks hat dieses Sprichwort in Brandes’ fünftem Band (in Heinrich Manns Besitz) gelesen, wo er Balzacs Tod kommentiert.[143]
Heinrich Manns Roman In einer Familie und Thomas Manns Gefallen
Heinrich hatte nach dem Tod des Vaters seinen ersten Roman, In einer Familie , begonnen, den er Paul Bourget widmete. Die Hauptfigur, Erich Wellkamp, verlässt den Vater, der mit fragwürdigen Methoden reich geworden ist, und den Sohn tyrannisiert. Im Fiktiven seines Romans rächt Heinrich sich an seinem wirklichen Vater, der ihm nicht erlaubte, Schriftsteller zu werden. Der schwache Wellkamp – es handelt sich um einen Dekadenzroman – erhält sein mütterliches Erbe und geht als Dilettant auf Reisen. Aus einem hörigen erotischen Verhältnis in Berlin rettet er sich durch eine Ehe mit einer modernen und praktisch veranlagten Frau. Diese Beziehung wird gestört, als Wellkamp sich von seiner noch jungen Schwiegermutter verführen lässt. Sie ist die zweite Frau seines Schwiegervaters, die er wegen einer Mitgift von 250 000 Dollar, damals einer Million Mark, geheiratet hat. Heinrich Mann gibt dem Roman ein unglaubhaftes glückliches Ende. Wellkamps junge Frau verzeiht ihrem Mann den Fehltritt und sorgt für eine bessere Zukunft. Der Roman wurde 1894 von einem kaum bekannten Münchener Verlag gedruckt und wenig beachtet.
Heinrich kam zurück aus Florenz und Viareggio, als Thomas im März 1894 aus Lübeck in München ankam. An der Korrektur des Romans des älteren Bruders hat Thomas sich sicher beteiligt. Thomas hatte keine Pläne für einen Roman. Er war mehr interessiert an Heinrichs unveröffentlichter Erzählung Haltlos und deren Thema der freien Liebe. Die Brüder Heinrich und Thomas verstanden sich jetzt gut. Die Familie war 1894 in München vollständig: die Mutter, Heinrich, Thomas, Julia, Carla und der vier Jahre alte Viktor. Nach damaligem Recht war Thomas Mann noch nicht volljährig; seine Vormünder hatten über seine Berufsausbildung zu bestimmen. Die Lehre in einer Münchener Versicherung, die die Vormünder für Thomas vereinbart hatten, fand dieser langweilig. Stattdessen wollte er ein Gasthörerstudium am Münchener Polytechnikum (heute Technische Universität) aufnehmen, um sich auf den Beruf des Journalisten vorzubereiten. Mit Hilfe eines Rechtsanwalts (Essays III, 181) konnte er den Vormund Krafft Tesdorpf abwehren, der vermutlich ein Studium der Journalistik verboten hatte, weil es unvereinbar war mit dem Willen des verstorbenen Vaters. Im Juni 1896 wurde Thomas Mann volljährig und war der Aufsicht der Vormünder entwachsen. Von Thomas Manns abgebrochenem Studium wird ein eigenes Kapitel handeln.
1894 schrieb Thomas Mann Gefallen . Die Erzählung ist inspiriert von der Kritik junger Schriftsteller an den patriarchalischen Regeln, die damals das Verhältnis der Geschlechter bestimmten. Die deutsche Öffentlichkeit wurde zu der Zeit bewegt von der Diskussion der rechtlichen Stellung der Frau in den Entwürfen für das Bürgerliche Gesetzbuch . Deutsche Frauenvereine protestierten 1894 gegen den Entwurf, der zwar der alleinstehenden Frau gleiche Rechte gab wie alleinstehenden Männern, jedoch die Ehefrau nach alter patriarchalischer Gewohnheit weiterhin dem Ehemann und Familienvater rechtlich unterwarf.[144]
Konflikte mit den traditionellen ›guten Sitten‹ spielten als Themen eine große Rolle in der europäischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. La dame aux camélias ( Die Kameliendame ) von Alexandre Dumas dem Jüngeren, erschien 1848 als Roman, dann als Drama, das 1852 uraufgeführt wurde, und aus dem 1853 die Oper von Giuseppe Verdi, La traviata hervorging. Als Bühnenstück hielt sich Die Kameliendame , besonders, wenn Sarah Bernhardt die Titelrolle spielte. Der Roman Manon Lescaut des Abbé Prévost war 1731 erschienen, auf ihm beruhen die Libretti für die französische Oper Manon (1884) von Jules Massenet und für Giacomo Puccinis Oper Manon Lescaut (1893). Nietzsche pries 1888 in Der Fall Wagner die Oper Carmen von Georges Bizet (1875). Prostitution war Thema in George Bernard Shaws Stück Mrs. Warren’s Profession , gedruckt im Jahr 1893. Eine Aufführung durfte erst 1902 stattfinden. Émile Zolas Roman Nana (1880), über den Aufstieg einer Prostituierten, blieb lange ein Muster für einen gewagten naturalistischen Roman. Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts empfand die Moral der bürgerlichen Ehe als ungenügend für die Natur der Sexualität. Dieses Ungenügen war ein Thema in Heinrichs Haltlos gewesen. Auch der neunzehnjährige Thomas zweifelte an der bürgerlichen Ehe-Moral und hatte eine natürliche Sehnsucht nach freier Liebe, hetero- oder homoerotischer Art. Sein Liebhaber sollte nicht so dekadent und haltlos sein wie derjenige in Heinrichs unveröffentlichter Novelle.
Thomas Mann war eine Weile stolz auf Gefallen , aber nicht lange. Der Autor nahm den Text nie in eine Sammlung seiner Erzählungen auf und nannte ihn schon 1896 »neunzehnjährig« (21, 68). Als er 1910 frühe Erzählungen an den Germanisten Ernst Bertram schickte, wertete er Gefallen ab.[145] 1940, in der Vorlesung »On Myself« in der Universität Princeton, nannte er die Erzählung ein »schreiend unreif[es]« wenn auch, »vielleicht nicht unmelodiös[es] Produkt« (GW XIII, 134). Sein negatives Selbsturteil hat sich als Vorurteil gehalten.[146] Es lohnt sich aber, das kleine Werk wieder in den Kanon von Thomas Manns Erzählungen aufzunehmen.
Schon vor der Veröffentlichung von Thomas Manns Erstlingswerk war eine Erzählung mit dem Titel Gefallen! erschienen. Ihr Verfasser, Hans Schliepmann, veröffentlichte sie 1893 in der Freien Bühne , der Zeitschrift des S. Fischer Verlages.[147] Der Text behandelte den vergeblichen Versuch eines Studenten, eine Prostituierte, eine gefallene Bürgerliche, zu reformieren. Dagegen geht Thomas Manns Gefallen von einer freien unbelasteten Liebe aus, entwickelt eine ganz andere Handlung als die Schliepmanns.[148]
Gefallen spielt in dem Atelier eines Malers, in das der Gastgeber einen dreißigjährigen Arzt, einen jungen Studenten und den Ich-Erzähler eingeladen hat. Der Erzähler nimmt sich Zeit, das seltsame Atelier zu beschreiben. Der Raum sei mit Kunstwerken und kunstgewerblichen Gegenständen aus verschiedenen Weltgegenden »in schreienden Zusammenstellungen« beladen, die »gleichsam auf sich selber mit Fingern wiesen« (2.I, 14). Die eklektische Stillosigkeit ist ein Signal: Die Moderne ist kosmopolitisch, glaubens- und haltlos, so wie Paul Bourget den Dilettantismus beschrieben hat. Feindlich gegen Kirche und Glauben äußert sich der Älteste in der bohemischen Gruppe, der Arzt Dr. Selten, dessen scharfe Ironie sich beständig lustig macht über den großen, altertümlich geschnitzten Kirchenstuhl, auf dem er sitzt. Er hat es sich zum Prinzip gemacht, das »von der betreffenden Regie da oben wenig umsichtig inszenierte Erdenleben völlig frag- und skrupellos zu genießen […]« (2.I, 15).
Das eklektische Atelier kann man als Anspielung auf Nietzsches zweite Unzeitgemäße Betrachtung : Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) lesen, die die blinde Sammelwut des modernen historischen Bewusstseins beklagt. Sie lasse keine Richtung erkennen und entwerte alle Maßstäbe; kulturelle Indifferenz behindere wahre Kultur (KSA 1, 268). Die historische Erziehung am Gymnasium und an der Universität habe der Jugend die Zukunft »entwurzelt«, wenn sie den »Cynismus« einer bloßen »Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozess« empfehle (KSA 1, 295, 312). Junge Menschen fühlen sich nicht mehr an den traditionellen bürgerlichen Lebensstil gebunden. Sie wollen in freier Liebe die traditionelle Sexualmoral ignorieren. Aber dem Liebespaar in Thomas Manns Erzählung gelingt das neue Leben nicht. Der Binnen-Erzähler und seine Geliebte »fallen« am Ende; die junge Frau verkauft sich teuer, der Mann verfällt in eine Libertinage, in der sein Genuss durch Hass verfälscht ist. Thomas Manns Gefallen erzählt vom »Verfall« der alten wie der neuen Sitten, passt in die Mode der Dekadenz.
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