Felicité faßte sich.
Sie glauben also, fuhr sie fort, daß eine Erhebung notwendig sei, um unser Glück zu sichern?
Das ist meine Ansicht, erwiderte Herr von Carnavant.
Und er fügte mit ironischem Lächeln hinzu:
Eine neue Dynastie kann nur nach dem Umsturze des Bestehenden errichtet werden. Das Blut ist ein guter Dünger. Es wird ganz hübsch sein, wenn die Rougon wie gewisse berühmte Familien ihren Ursprung von einem allgemeinen Gemetzel herleiten.
Bei diesen von einem höhnischen Gekicher begleiteten Worten überlief ein Frösteln Felicités Rücken. Allein sie war ein kluges Weib, und der Anblick der schönen Fenstervorhänge des Herrn Peirotte, die sie jeden Morgen mit einer gewissen andächtigen Regelmäßigkeit betrachtete, hielt ihren Mut aufrecht. Wenn sie sich schwach werden fühlte, trat sie ans Fenster und betrachtete das Haus des Steuereinnehmers. Dies waren ihre Tuilerien. Sie war zu den äußersten Handlungen entschlossen, um in der Neustadt ihren Einzug zu halten, in diesem gelobten Lande, an dessen Schwelle sie seit so vielen Jahren von Begierden verzehrt wurde.
Die Unterredung, die sie mit dem Marquis gehabt, hellte ihr die Lage vollends auf. Einige Tage später las sie einen Brief Eugens, in dem dieser Helfershelfer des Staatsstreiches gleichfalls auf eine Erhebung zählte, die seiner Ansicht nach seinem Vater zu einer Bedeutung verhelfen würde. Eugen kannte seine Heimat. Alle seine Ratschläge gingen dahin, in den Händen der Reaktionäre des gelben Salons soviel Einfluß wie möglich zu vereinigen, damit die Rougon im kritischen Augenblicke die Herren der Stadt seien. Nach seinen Wünschen mußte der gelbe Salon im November des Jahres 1851 Herr von Plassans sein. Roudier repräsentierte daselbst das reiche Bürgertum. Seine Haltung würde sicherlich diejenige der ganzen Neustadt bestimmen. Noch wertvoller war Granoux: er hatte den Gemeinderat hinter sich, dessen einflußreichstes Mitglied er war, was leicht eine Vorstellung von den übrigen Mitgliedern dieses Gemeinderates zu geben vermag. Durch den Major Sicardot endlich, den der Marquis zum Befehlshaber der Nationalgarde gemacht hatte, verfügte der gelbe Salon über die bewaffnete Macht. Den Rougon, diesen übel beleumdeten armen Schluckern, war es endlich gelungen, die Werkzeuge ihres Glückes um sich zu vereinigen. Jeder sollte, sei es aus Feigheit, sei es aus Dummheit, ihnen gehorchen und blindlings an ihrer Erhebung tätig sein. Sie hatten nichts zu fürchten als andere Einflüsse, die in demselben Sinne handeln würden wie sie selbst und ihnen so einen Teil an dem Verdienste des Sieges entreißen würden. Das war der Gegenstand ihrer großen Angst, denn sie hatten sich allein die Rolle der Retter zugedacht. Sie wußten im voraus, daß der Adel und die Geistlichkeit sie eher unterstützen als behindern würden. Allein in dem Falle, daß der Unterpräfekt, der Bürgermeister und die übrigen Beamten sich vordrängen und die Erhebung im Keime ersticken würden, wären die Rougon in ihren Verdiensten verkleinert, in ihren Zielen behindert; sie würden weder Zeit noch Mittel finden, sich nützlich zu machen. Was sie wünschten, war die vollständige Zurückhaltung, ein allgemeiner Schreck der Beamten. Wenn die ordentliche Verwaltung vollständig verschwand und sie dann eines Tages die Herren der Geschicke von Plassans waren, dann war ihr Glück fest begründet. Glücklicherweise für sie gab es in der Stadtverwaltung nicht einen einzigen Mann, der überzeugt oder arm genug gewesen wäre, um das Spiel zu wagen. Der Unterpräfekt war ein Freigeist, den die vollziehende Gewalt in Plassans vergessen hatte, ohne Zweifel, weil die Stadt einen guten Ruf hatte; von ängstlichem Charakter, wie er war, und unfähig, seine Macht zu einer Gewalttat zu gebrauchen, mußte dieser Mann angesichts einer Empörung allen Halt verlieren. Die Rougon, die da wußten, daß er der Sache der Demokratie günstig gesinnt sei und die daher von seiner Seite keinen besonderen Eifer zu besorgen hatten, waren nur neugierig, welche Haltung er annehmen werde. Der Stadtrat machte ihnen keine Sorge mehr. Der Bürgermeister, Herr Garçonnet, war ein Legitimist, den das Sankt-Markus-Viertel im Jahre 1849 durchgesetzt hatte; er verachtete die Republikaner und behandelte sie sehr geringschätzig; allein er war mit gewissen Mitgliedern der Geistlichkeit zu eng verbunden, um einem bonapartistischen Staatsstreiche seine tätige Mithilfe zu leihen. Die anderen Beamten befanden sich in demselben Falle. Der Friedensrichter, der Postdirektor, der Stadtkassierer, der Steuereinnehmer Herr Peirotte, hatten ihre Stellen sämtlich von der klerikalen Reaktion erhalten und konnten daher das Kaiserreich nicht mit großer Begeisterung hinnehmen. Ohne noch genau zu wissen, wie sie sich dieser Leute entledigen würden, um sich allein in den Vordergrund zu stellen, gaben sich die Rougon großen Hoffnungen hin, indem sie niemanden fanden, der ihnen ihre Retterrolle streitig gemacht hätte.
Die Lösung nahte. Als in den letzten Tagen des Monats November das Gerücht in Umlauf kam, daß ein Staatsstreich vorbereitet werde und daß der Prinz-Präsident sich zum Kaiser ausrufen lassen wolle, rief Granoux:
Gut! Wir werden ihn ausrufen, wenn er diese Lumpenkerle von Republikanern über den Haufen schießen läßt.
Dieser Ausruf Granoux', von dem man glaubte, daß er eingeschlafen sei, rief eine große Bewegung hervor. Der Marquis tat, als habe er nichts gehört; die Spießbürger aber stimmten sämtlich dem gewesenen Mandelhändler zu. Roudier, der nicht Anstand nahm, ganz laut seine Zustimmung zu geben, weil er reich war, erklärte sogar – wobei er Herrn von Carnavant von der Seite anblickte – daß die Lage unhaltbar geworden sei und daß Frankreich »durch welche Hand immer« so bald wie möglich wieder »eingerichtet« werden müsse.
Der Marquis schwieg noch immer und sein Schweigen ward als Zustimmung gedeutet. Der Heerbann der Konservativen ließ denn die Sache der Legitimität im Stich und wagte ganz laut, seine guten Wünsche für das Kaiserreich zu äußern.
Meine Freunde! sagte der Major Sicardot sich erhebend, ein Napoleon allein vermag heute die bedrohte Sicherheit der Person und des Eigentums zu schützen. Seien Sie ohne Sorge! Ich habe die nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, damit in Plassans Ordnung herrsche.
In der Tat hatte der Major im Einvernehmen mit Rougon eine beträchtliche Anzahl von Gewehren samt entsprechendem Schießbedarf in einer Art von Stall in der Nähe der Stadtmauern verborgen; gleichzeitig hatte er sich des Beistandes der Nationalgarden versichert, auf die er zählen zu können glaubte. Seine Worte brachten eine sehr günstige Wirkung hervor. Als die friedfertigen Bürger vom gelben Salon an diesem Abend auseinandergingen, sprachen sie davon, »die Roten« zu massakrieren, wenn sie sich zu rühren wagen sollten.
Am 1. Dezember empfing Peter Rougon einen Brief von seinem Sohne Eugen; mit gewohnter Vorsicht begab er sich in sein Schlafzimmer, um den Brief daselbst zu lesen. Felicité bemerkte, daß er sehr aufgeregt war, als er wieder heraustrat. Den ganzen Tag trieb sie sich um den Schreibtisch herum. Als die Nacht hereinbrach, vermochte sie ihre Ungeduld nicht länger zu meistern. Kaum war ihr Gatte eingeschlafen, als sie den Schlüssel aus seiner Westentasche nahm und, alles Geräusch vermeidend, sich des Briefes bemächtigte. In kurzen zehn Zeilen verständigte Eugen seinen Vater, daß man vor dem Ausbruche der Krise stehe, und riet ihm, die Mutter in die Sachlage einzuweihen. Die Stunde sei gekommen, sie von allem zu unterrichten; er könne ihrer Ratschläge bedürfen.
Am folgenden Tage erwartete Felicité eine vertrauliche Mitteilung ihres Gatten, die aber nicht kam. Sie wagte es nicht, ihre Neugierde zu gestehen, fuhr fort, die Nichtwissende zu spielen und schalt im stillen auf das dumme Mißtrauen ihres Gatten, der sie ohne Zweifel für geschwätzig und schwach hielt wie die anderen Weiber. Mit jenem ehemännlichen Stolze, der einem Gatten den Glauben einflößt, daß er im Hause der Überlegene sei, hatte Peter allmählich sich an den Gedanken gewöhnt, alles Mißgeschick der Vergangenheit seiner Frau in die Schuhe zu schieben. Seitdem er sich einbildete, daß er allein die Angelegenheiten seines Hauses leite, schien ihm alles nach seinem Wunsche zu gehen. Darum war er entschlossen, des Rates seiner Gattin sich ganz zu entschlagen und trotz der Empfehlungen seines Sohnes ihr nichts zu vertrauen.
Читать дальше