– Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe, aber können Sie mir nicht sagen, in welcher Zeit diese Kirche gebaut worden ist?
Du Roy antwortete:
– Ja, das weiß ich selbst nicht, ich denke so vor zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren ist sie gebaut. Ich bin auch zum ersten Mal hier.
– Ich auch. Ich hatte sie noch nie bemerkt. – Da begann der Journalist Interesse zu schöpfen und sagte:
– Sie scheinen sie ja sehr genau zu betrachten in allen Einzelheiten.
Der andere antwortete ergebungsvoll:
– Ach nein, ich sehe sie mir nicht an. Ich warte auf meine Frau. Wir wollten uns hier treffen, aber sie hat sich verspätet.
Dann schwieg er und fuhr nach ein Paar Sekunden fort:
– Es ist furchtbar heiß draußen.
Du Roy betrachtete ihn. Er fand, daß er ganz gutmütig aussah, und plötzlich bildete er sich ein, er sähe Forestier ähnlich.
– Sind Sie aus der Provinz? fragte er.
– Ja, aus Rennes. Und darf ich fragen, ob Sie nur aus Neugier in die Kirche gekommen sind?
– Nein, ich erwarte eine Dame. – Der Journalist grüßte und ging lächelnd davon. Als er wieder an das Hauptportal kam, sah er abermals das arme Weib, das noch immer kniete und betete, und er dachte: Donnerwetter, die ist aber zäh! Er war nicht mehr ergriffen und bemitleidete sie nicht mehr.
Er ging langsam vorbei und schritt das rechte Seitenschiff wieder hinauf, um Frau Walter zu treffen.
Von weitem suchte er die Stelle, wo er sie verlassen hatte und wunderte sich, sie nicht zu sehen. Er meinte, er habe sich im Pfeiler geirrt, ging nochmals bis zum letzten und kehrte zurück. Sie war also fort! Er war ganz erstaunt und wütend. Dann bildete er sich ein, daß sie ihn suchte, und schritt nochmals um die Kirche. Aber als er sie nicht fand, kehrte er zu dem Betstuhl zurück, den sie verlassen, in der Hoffnung sie würde wieder dort hin kommen. Er setzte sich hin und wartete.
Bald zog ein leises Gemurmel seine Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte niemand in jener Ecke der Kirche gesehen, woher kam also dieses Flüstern? Er stand auf, um Nachforschungen anzustellen, und in der Kapelle daneben entdeckte er, daß unter der Thür des Betstuhls ein Stück Kleid heraus lugte, das auf die Fliesen hing. Er näherte sich, um sich die Frau anzusehen; er erkannte sie. Sie beichtete.
Die Lust überkam ihn, sie bei den Schultern zu packen, sie aus dem Kasten heraus zu reißen. Dann dachte er:
– Ach was, jetzt ist der Pfarrer daran, morgen ich.
Und er setzte sich ruhig der Öffnung der Beichtstuhls gegenüber, still wartend, indem er nun über das ganze Abenteuer lächelte.
Er lauerte lang. Endlich stand Frau Walter auf, drehte sich um, sah ihn und trat auf ihn zu. Sie hatte kalte, strenge Züge und sagte zu ihm:
– Ich bitte Sie, mich nicht zu begleiten, mir nicht zu folgen und nie wieder mich allein zu besuchen. Ich würde Sie nicht empfangen. Adieu!
Und in würdiger Haltung ging sie davon.
Er ließ sie fortgehen, denn aus Grundsatz erzwang er nie eine Sache. Aber als dann der Priester etwas verlegen selbst aus seinem Versteck herauskam, schritt er gerade auf ihn zu, blickte ihm in die Augen und rief ihm ins Gesicht:
– Wenn Sie nicht den Rock trügen, würde ich Ihnen was auf Ihre dumme Schnauze geben.
Dann wandte er sich auf dem Absatz herum und verließ pfeifend die Kirche.
Im Portal stand der dicke Herr, den Hut auf dem Kopf, die Hände noch auf dem Rücken. Er war müde zu warten und übersah den weiten Platz und alle Straßen, die dort zusammen trafen.
Als Du Roy an ihm vorbei kam, grüßten sie sich.
Da der Journalist nichts zu thun hatte, ging er zur › Vie française ‹. Sobald er eintrat, sah er an der beschäftigten Miene der Angestellten, daß etwas Außergewöhnliches vorging, und schnell trat er beim Chef ein.
Der alte Walter stand nervös da, diktierte in abgehackten Sätzen einen Artikel und erteilte zwischendurch den Reportern, die ihn umstanden, Aufträge, gab Boisrenard Ermahnungen und öffnete Briefe.
Als Du Roy eintrat, rief der Chef freudig:
– Ah, das trifft sich famos! Da ist der Liebling. Er hielt etwas verlegen inne und entschuldigte sich:
– Verzeihen Sie, daß ich Sie so genannt habe, aber ich bin durch die Ereignisse sehr erregt und dann höre ich ja immer, wie meine Frau und meine Töchter Sie von Morgen bis Abend Liebling nennen, und da gewöhnt man sich selbst daran. Nicht wahr, Sie nehmen es mir nicht übel?
Georg lachte:
– Nicht im geringsten, der Spitzname verletzt mich nicht.
Der alte Walter begann von neuem:
– Schön, da nenne ich Sie also Liebling, wie alle Welt. Also denken Sie einmal, es haben sich große Ereignisse zugetragen. Das Ministerium hat ein Mißtrauensvotum mit 310 Stimmen gegen 102 erhalten. Es ist gefallen. Jetzt sind unsre Ferien wieder mal aufgeschoben ad calendas graecas , und dabei ist heute schon der 28. Juli. Spanien ist böse wegen Marokko und das hat Durand de l’Aine und seinen Gesellen das Genick gebrochen. Die Karre ist in Dreck gefahren bis oben rauf. Marrot soll das neue Kabinet bilden, er nimmt General Boutin d’Acre als Kriegsminister, unser Freund Laroche-Mathieu bekommt das Auswärtige, er selbst wird Präsident und behält das Portefeuille des Innern. Wir werden ein offiziöses Blatt. Ich habe eben einen Leitartikel entworfen. Ich setze nur unsre Grundsätze auseinander und weise den Ministern den Weg.
Er lächelte und fuhr fort:
– Den Weg den sie einschlagen wollen! Natürlich! Aber ich müßte irgend etwas Interessantes über Marokko haben, etwas Aktuelles, einen Sensationsartikel! Irgend so was, und das müssen Sie mir finden.
Du Roy dachte eine Sekunde nach, dann antwortete er:
– Ich habe es. Ich liefere Ihnen einen Aufsatz über die politische Lage unserer ganzen afrikanischen Kolonien, Tunis links, Algerien in der Mitte, Marokko rechts, einen Geschichtsabriß über die Rassen, die diese weiten Gebiete bewohnen und den Bericht über eine Reise an der Marokkanischen Grenze bis zur großen Oase Figuig, bis wohin noch kein Europäer vorgedrungen ist und die jetzt zu dem Konflikt geführt hat. Ist Ihnen das recht?
Der alte Walter rief:
– Wundervoll! Und wie soll er heißen?
– Von Tunis nach Tanger!
– Ausgezeichnet!
Und Du Roy suchte in den alten Nummern der › Vie française ‹ seinen ersten Artikel wieder auf: ›Erinnerungen eines Chasseur d’Afrique.‹ Der Artikel würde unter anderem Namen, etwas aufgefrischt und umgearbeitet ausgezeichnet passen, denn darin war die Rede von Kolonial-Politik, von der Bevölkerung in Algerien und einer Reise in die Provinz Oran. In drei Viertelstunden war die Geschichte frisch gemacht, zusammen gestoppelt, gut umgearbeitet, mit einem aktuellen Beigeschmack und ein paar Worten des Lobes für das neue Kabinet.
Als der Chef den Artikel gelesen hatte, sagte er:
– Das ist ausgezeichnet! Ausgezeichnet! Ausgezeichnet! Sie sind ein großartiger Kerl! Allerhand Hochachtung!
Und Du Roy kehrte zum Essen heim, sehr befriedigt vom Tageslauf, trotz seiner Niederlage in der Dreifaltigkeitskirche, denn er fühlte, daß er trotzdem gewonnen hatte.
Seine Frau erwartete ihn fieberhaft erregt und rief, als sie ihn sah:
– Du weißt doch, daß Laroche Minister des Auswärtigen ist?
– Ja, ich habe sogar deswegen schon einen Artikel über Algerien gemacht!
– Wieso denn?
– Du kennst ihn, den ersten den wir zusammen geschrieben haben: ›Erinnerungen eines Chasseur d’Afrique‹. Ich habe ihn zu diesem Zweck durchgesehen und umgearbeitet.
Sie lächelte und sagte:
– Ja, das paßt ja ausgezeichnet!
Dann sagte sie, nachdem sie einen Augenblick nachgedacht hatte:
– Ich denke eben an die Fortsetzung, die Du damals machen wolltest und aus der .. nichts mehr wurde. Jetzt können wir uns ja daran machen. Das giebt eine ganze Reihe aktueller Artikel.
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