Daraus leitet sich auch die gute Nachricht für uns Paare ab: Meistens haben nur 10 Prozent eines Konflikts mit der aktuellen Situation zu tun, 90 Prozent lassen sich auf unsere Rucksäcke zurückführen. Warum das eine gute Nachricht ist? Weil wir mit dieser Sichtweise Konflikte ganz anders und viel nachhaltiger lösen können. Denn wenn wir uns – wie das oft so üblich ist – darum streiten, wer in einer bestimmten Situation nun Recht hat oder nicht, kommen wir nie weit. Wir kreisen dann ja auch nur um die 10 Prozent! Wenn wir uns stattdessen um die 90 Prozent kümmern, können wir feststellen: Ah, als Kind fühlte ich mich zwischen meinen Geschwistern so unbeachtet, daher also reagiere ich so empfindlich, wenn mir meine Partnerin dauernd ins Wort fällt, denn da fühle ich mich genauso missachtet. Schon allein dieses Wissen ist ein großer Schritt, um uns mit diesem für uns so heiklen Thema „Ich bin Luft für alle“ auszusöhnen. Damit Sie uns richtig verstehen: Die Erkenntnis, warum wir in bestimmten Situationen so unflexibel und übertrieben reagieren, ist nicht als Ausrede gedacht. Sie soll Ihnen jedoch das Verständnis erleichtern. Und noch etwas: Diese 90-10-Regel gilt natürlich nicht für alle Situationen: Wenn Ihnen Ihre Partnerin ein Bein stellt und Sie sich verletzen, wäre es reichlich deplatziert, nach Ihren 90 Prozent zu fragen!
Seien Sie Ihrer Partnerin, Ihrem Partner grundsätzlich dankbar für „komisches“ Verhalten. Denn es ist dieser 10-Prozent-Aufhänger, der Ihnen beiden klarmacht, dass sich dahinter Ihre Seelenverwandtschaft verbirgt. Das ist der Beginn, an dem sich ein Knoten auflösen kann. Denn wenn Sie Ihre 90 Prozent benennen können, tut sich auch Ihr Partner leichter, die 10 Prozent zu verändern!
2siehe auch Impuls Nr. 5
3siehe auch Impuls Nr. 8
Wenn wir uns verlieben, haben wir immer auch zwei Familiensysteme im Hintergrund. Es ist für eine gelungene Beziehung entscheidend, dass wir uns davon emanzipieren und auf Basis unserer Historie ein eigenes System entwickeln.
Sie hat einen Ferienjob im Handwerks- und Handelsbetrieb der Familie ihres Liebsten begonnen und sitzt als Telefonistin im Büro. Da kommt ihr Schwiegervater in spe herein .
Schwiegervater: Na, wie gefällt es dir bei uns?
Sie: Ja, eh gut. Viel Trubel hier und viel zu tun!
Schwiegervater: Du könntest jederzeit bei uns einsteigen, das weißt du .
Sie: Aber du weißt doch, dass ich ganz bestimmt mein Studium abschließen möchte und dann Psychologin werde .
Schwiegervater: Klar weiß ich das. Aber wenn du richtig arbeiten willst, kannst du jederzeit zu uns kommen .
Sie (entrüstet): Psychologin zu sein ist doch auch richtige Arbeit!
Diese kleine Szene hat sich so ähnlich im Jahr 1980 im Unternehmen der Familie Bösel – einem großen Fleischereibetrieb in Wien – abgespielt. Wir ahnten noch nicht, wie sehr diese doch sehr unterschiedliche Sichtweise auf Arbeit unsere Liebe prägen würde. Für Roland war Arbeit das, was er von seinen Eltern vorgelebt bekam: identitätsstiftend und erfüllend, jedoch auch körperlich anstrengend und unternehmerisch riskant. Seine Eltern und Großeltern arbeiteten quasi rund um die Uhr, nur am Sonntag ruhten sie sich aus. Es war sonnenklar, dass er den Betrieb in der dritten Generation fortführen sollte. Dementsprechend war und ist es für ihn ein hoher Wert, „couragiert zu sein und anzupacken, wo es nötig ist“. Verstärkt wurde diese Sicht auch noch durch die Existenz eines Onkels väterlicherseits, der Künstler war. Es wurde von Rolands Vater erwartet, dass er seinen Bruder ins Unternehmen holt, denn Maler zu sein, „das ist ja kein ordentlicher Beruf“!
Sabine wiederum wurde geprägt durch eine Haltung, die sich in einem Satz ihrer Großmutter manifestierte: „Was du im Kopf hast, kann dir niemand mehr nehmen.“ Kein Wunder, wenn man die Geschichte der Großmutter kennt. Sie hat zwei Weltkriege durchgestanden, ihr gesamtes Geld verloren und die Shoah erlebt. Es war ihre Bildung, die ihr half zu überleben. Sabine besuchte eine teure Privatschule und es war sonnenklar, dass sie einen gehobenen und intellektuellen Beruf wählen würde. Sabines höchster Wert war, ganz in der Tradition ihrer Großmutter, die Bildung. Dass sie ihr Studium abschließen würde, stand völlig außer Frage.
So trafen wir aufeinander, die intellektuelle Sabine und der bodenständige Roland, beide mit unserer unterschiedlichen Sozialisation im Gepäck. Wir waren unter anderem genau deshalb auch so fasziniert voneinander: In Rolands Familie wurde nicht lange diskutiert. Wenn es ein Problem gab, da wurde angepackt – für Sabine eine ganz neue Welt. Und Roland umgekehrt war erstaunt, dass es Urlaube abseits von Erholung und Nichtstun geben kann. Er war schnell begeistert von Sabines Ideen, Bildungsurlaube zu machen und fremde Länder und Kulturen zu erforschen.
So ähnlich ist es bei jedem Paar, das sich ineinander verliebt. Jeder bringt die eigene Geschichte, das eigene So-geworden-Sein mit in die Beziehung. Jeder Mensch hat eine eigene Welt, die geprägt ist von den Eltern, Großeltern, Urgroßeltern. Jede Familie hat eigene Traditionen – und damit meinen wir nicht nur die Art, wie man Weihnachten und Neujahr begeht, sondern jedes Verhaltensmuster, das unbewusst von einer Generation in die nächste übernommen wird: ob man alle Entscheidungen vorher gemeinsam bespricht oder nicht, welche Erwartungen man an die Partnerin bzw. den Partner hat betreffend Familienplanung und -betreuung, ob man als Frau Karriere machen sollte und vieles mehr.
Wie sollte es auch anders sein? Wir werden in unsere Familie hineingeboren, und alles, was wir beobachten und erleben, übernehmen wir, und dieses Verhalten wird zu unserer Normalität. Unangenehme Erfahrungen oder gar Gewalt empfinden wir zwar auch als Kind nicht als Normalität und spüren, dass etwas nicht stimmt. Doch wir sind zu jung, um solche Erlebnisse zu reflektieren und zu verarbeiten. Stattdessen entwickeln wir Überlebensstrategien. All diese „seltsamen“ Verhaltensweisen sind Teil einer Tradition, und es liegt an uns zu entscheiden: Wollen wir sie fortsetzen oder durchbrechen und etwas Neues etablieren?
Wie stark Familientraditionen auf uns wirken, hat selbst die Weltliteratur vielfach aufgegriffen. Die Geschichte von Romeo und Julia kennen Sie bestimmt. Die beiden versuchen, sich gegen die alte Tradition – in ihrem Fall die Feindschaft zwischen den Familien – aufzulehnen, und scheitern doch sehr tragisch. Wir können uns unserer Geschichte nicht entziehen. Wir sind immer ein Produkt unserer Eltern und damit das Produkt zweier Familiensysteme, und jedes Elternteil ist wiederum ein Produkt zweier Familiensysteme. Wenn Sie sich in Ihren Partner verliebt haben, dann haben Sie nicht nur zu ihm, sondern implizit auch zu seiner Familie Ja gesagt – und dasselbe gilt auch umgekehrt. Dieser Umstand steht in direktem Zusammenhang mit dem, was wir in Impuls Nr. 2 geschrieben haben: 90 Prozent unseres Verhaltens wird geprägt durch unsere Vergangenheit – also unsere Herkunftsfamilie – und nur 10 Prozent durch die aktuelle Situation.
Das ist weder eine gute noch eine schlechte Nachricht, sondern eine Tatsache, die wir akzeptieren und anerkennen sollten. Denn wenn Sie wissen, dass Ihr Verhalten zu 90 Prozent durch Ihre Geschichte determiniert ist und nur zu 10 Prozent durch die Situation, in der Sie gerade sind, dann wirft das doch ein ganz anderes Licht auf die Möglichkeiten, die Sie haben! Um das Beispiel vom Beginn dieses Impulses noch einmal zu bemühen: Wenn Sie gerade darüber streiten, was denn „richtige“ Arbeit ist, dann brauchen Sie sich nicht länger darum bemühen herauszufinden, wer von Ihnen beiden Recht hat. Denn Sie wissen, dass Sie beide eine Meinung vertreten, die in Ihrer jeweiligen Welt nachvollziehbar ist. Gehen Sie diesen beiden Welten besser auf die Spur und versuchen Sie, die jeweils andere zu verstehen. Das bringt Sie viel weiter. Es kann gut sein, dass Sie eine ganz neue Definition von „richtiger“ Arbeit finden und damit eine neue Familientradition begründen.
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