1 ...7 8 9 11 12 13 ...24 Es sei dies das erste und letzte Mal gewesen, dass er den Stolz und die Trunkenheit des Beifalls, das «Gefühl der Eitelkeit des Triumphs» gespürt habe. Wenn er auch nicht den geringsten Schritt tun werde, um dieses Hochgefühl je wieder zu erleben, bleibe ihm doch eine bewegende Erinnerung.
Im Wintersemester 1908–1909 nimm Pilet das Amt des Sekretärs auf und entschuldigt sich sogleich:
Ich komme aus der Rekrutenschule – dies erklärt meine Abstumpfung. Während 67 Tagen habe ich «Gewehr hoch» gemacht und hier bin ich, Feder in der Hand, Historiker und Chronist der Glanztaten der Mitglieder unserer Gesellschaft. Kann ich ihre Heldentaten besingen, wie sie es verdienen, ihre feinen und subtilen Worte feiern?
An den Sitzungen sagt Pilet klar seine Meinung, so etwa, als diskutiert wird, ob Naturwissenschaftler sich auch als Philosophen betätigen dürfen. Ja, meint Pilet, und erinnert daran, dass Darwin, Haeckel und andere Philosophen zuerst Wissenschaftler gewesen sind. Protokollführer Victor Gagnaux vermutet, dass der ehrgeizige Pilet sich mit diesem Votum für die bevorstehende Präsidentenwahl empfehlen will:
Wenn man Pilet zuhört, versteht man leicht, dass die Mehrheit der Bellettriens eine naturwissenschaftliche Schulung hat, und sie applaudieren auch kräftig. Bravo Pilet. Du hast deinen Sessel auf sicher.
Hatte er. Am 22. Oktober 1909 wird er mit 22 Stimmen zum Präsidenten gewählt. Bei den «wie immer lärmigen» Wahlen müssen sich die anderen Vorstandsmitglieder mit 13, 17, 15 und 14 Stimmen begnügen. Im Protokoll schreibt Gagnaux, später Oberfeldarzt der Schweizer Armee. Er wird 1946 an einer Truppenübung bei einem Autounfall ums Leben kommen:
Präsidentschaft: Pilet, Präsident
Man hatte ihm den Ruhm gegeben, wir brauchten jetzt Versprechen; seine Thronrede war voll davon, seine Thronrede machte uns Freude. Pilet hat verschiedentlich gesagt: «Ich wünsche»; öfter hat er gesagt: «Ich will.» Pilet hat Willen, er hat Kraft, er hat Begeisterung – möge er nicht enttäuscht werden. Arbeit ist es, sagt er uns, was am besten für Unterhaltung sorgt: «Ich wünsche, dass man bei Belles-Lettres arbeitet. Mein Wunsch wäre es, bei jeder Sitzung eine gute, sorgfältig gemachte Arbeit zu hören, die eure Ideen und eure Wünsche ausdrückt, und nicht die Ideen, die gerade Mode sind, nicht die dekadenten Wünsche einer schlappen, leeren und dummen Minderheit, die uns durch ihre Extravaganz blendet.
Tragt nicht die müden und angewiderten Mienen derjenigen zur Schau, die alles gesehen haben, alles kennen. Vertreibt den modischen Skeptizismus, der nicht eurem Alter entspricht und der nur eines beweist: eure Leichtgläubigkeit und euren Wunsch zu glauben! Verzichtet auf jede Pose, zeigt euch, wie ihr seid, jung und unerfahren, aber auch stark, voller Leben und begierig, das Leben anzugehen. Macht gesunde, offene und ehrliche Arbeiten. Nehmt euch die Mühe zu denken, zu überlegen; übernehmt nicht träge einfach Ideen, die schon da sind, die wir nicht suchen müssen: Sie sind nichts wert, sie führen nirgends hin.»
Es ist die Rede eines Erziehers. Es ist auch die Rede eines Leaders. Pilet, der seine Aspirantenschule hinter sich hat und den man auf Ende Jahr zum Leutnant befördern wird, vermisst bei Belles-Lettres eine Eigenschaft, die der Verbindung immer gefehlt habe: die Disziplin.
Unser Präsident verlangt von uns keine militärische Disziplin, sondern eine, die auf Takt und gutem Willen beruht. Verzichten wir inmitten von ernsthaften Diskussionen auf Bonmots und Witze [wörtlich französisch: et les witz] . Was die bellettristische Freundschaft betrifft, pflegen wir sie doch an den Abenden am Ende der Sitzungen, vor allem bei Spaziergängen. Wieso macht man keine Spaziergänge mehr? Aus Müdigkeit oder Gleichgültigkeit? Nein, es ist aus Phlegma! Schütteln wir dieses Phlegma ab und machen wir Spaziergänge.
Stürmischer Beifall und tags darauf machte man keine Spaziergänge.
Disziplin und Ordnung wird dereinst Bundesrat Pilet-Golaz immer wieder von Volk und Parlament fordern. Kritische Zeitgenossen und Historiker haben ihm dies als «autoritär», «reaktionär», wenn nicht gar «pétainistisch» oder «faschistisch» angekreidet. Die Werte Ordnung und Disziplin, Pflicht und Arbeit, die Liebe zu Gott, Vaterland und Familie haben bei Pilet tiefe Wurzeln. Sie gehen auf die Ermahnungen von Eltern und Lehrern und auf seine Waadtländer Herkunft zurück. Er hatte diese Werte verinnerlicht, lange bevor Mussolini, Franco oder Pétain aus diesen Werten politisches Kapital schlugen.
Zurück zum 21. Januar 1910, an dem von Belles-Lettres-Präsident Pilet diplomatisches Geschick gefordert ist. Die Verbindung Germania kommt auf Besuch. An der juristischen Fakultät der Uni Lausanne hat es in jenem Jahr mehr deutsche als einheimische Studenten. Der in Ober-Ingelheim geborene Weitzel ist im Element, erklärt den andern Bellettriens die germanischen Formeln und Regeln und sagt zum «beunruhigten» Pilet: «Lass mich machen!» Als die Germanen hereinmarschieren und Pilet ihnen zur Begrüssung entgegeneilen will, nagelt Weitzel ihn mit einem «Rühr dich nicht!» an seinem Platz fest. Bei deutschen Burschenschaften verlässt der Präsident nie seinen Sitz. Offiziell begrüsst Pilet die Gäste: «Die Worte machen auf unsere teutonischen Freunde grossen Eindruck, die – die Augen ernst auf unseren Präsidenten gerichtet – den Kopf schütteln, jeder zweimal.»
Die Ankunft des Biers entlockt den Germanen ein erstes Lächeln, doch bald sind sie wieder grimmig ernst. Eine Klavierdarbietung lässt sie mit den Händen den Takt angeben, aber die Gesichter bleiben starr. Pilet erklärt dann – zumindest für einige Augenblicke – Deutsch zur offiziellen Sprache:
Unser Präsident sagt ebenso charmante Dinge auf Deutsch wie auf Französisch und die Germanen, die erstmals an diesem Abend etwas verstehen, stossen grosse Lacher aus, mit denen sie aber sofort aufhören, um stramm und mit entblösstem Haupt der Antwort ihres eigenen Präsidenten zu lauschen. Dieser lädt seine Kameraden ein, zu Ehren von Belles-Lettres einen Salamander zu trinken. Die vier Schoppen steigen in perfekter Einheit auf die Höhe ihrer oberen Körperöffnungen, werden in einem Zug heruntergeschluckt, trommeln eine Weile auf dem Tisch und aufs Kommando drei schlagen sie mit einem Streich auf. Belles-Lettres applaudiert kräftig. Weitzel hat nie zuvor etwas so Schönes gesehen.
Auf seinem Präsidentenstuhl gestikuliert Pilet, spricht durcheinander Französisch, Deutsch und Esperanto. Die humoristischen Produktionen der Bellettriens lassen die Gäste kalt. Der kulturelle Graben zwischen schneidigen Deutschen und fidelen Romands ist tief. Glücklicherweise kommt es nun zu Trinkduellen.
Es gibt aufregende Halbfinale, sensationelle Finale und immer ist man ernst, «stramm» . Unsere Gäste trinken, trinken, trinken. Der Punch wird gebracht. Die Wettkämpfe, die mit Bier begonnen haben, werden mit der neuen Flüssigkeit fortgesetzt. Was die Musik, die Reden, die Produktionen nicht fertigbrachten, bringt das gezuckerte Getränk zustande. Die Germanen werden aufgeheitert, verlieren ihre seriöse Miene, sie haben auf ihren Köpfen Belles-Lettres-Bérets und unter dieser Kopfbedeckung verlieren sie ihre Gravitas. Weitzel jubelt unter einer Germania-Mütze, die ihm den Anschein eines Bahnhofvorstands gibt.
Beim Trinken stehen die Bellettriens den Germaniern in keiner Weise nach. Ja, sie sind trinkfester und beim Verlassen des «Guillaume» lächeln sie über «die weichen Beine und die verstörten Blicke» ihrer Gäste.
An der nächsten Sitzung geht es wieder gesitteter zu. Man ist jetzt im Geist in Paris, nicht in Berlin. Philippe Secretan redet über Mme de la Fayettes berühmtes Werk Princesse de Clèves . Als Pilet ihm vorwirft, er scheine den Roman Zaïde nicht zu kennen, wehrt sich Secretan: «Dieser Roman zählt in ihrem Werk nicht. Ich richte mich an kultivierte Erwachsene.» Pilet: «Man würde es nicht sagen. Alles, was du über Mme de La Fayette gesagt hast, steht im Gymnasiumkurs.»
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