Die Fürstin Marie, die kein Ende absah, stand zuerst auf, klagte über Migräne und verabschiedete sich. »Sie reisen also morgen nach Petersburg?« fragte sie.
»O nein«, erwiderte Peter verwundert und wie beleidigt. »Nach Petersburg? Nun ja, morgen, aber ich nehme noch nicht Abschied. Ich werde kommen und nach Ihren Befehlen fragen«, sagte er, blieb vor der Fürstin stehen und ging doch nicht.
Natalie reichte ihm die Hand und verließ das Zimmer. Anstatt zu gehen, ließ sich Marie in einen Lehnstuhl nieder und sah Peter mit ihren traurigen, tiefen Blicken ernst und aufmerksam an. Ihre Ermüdung war jetzt ganz verschwunden; sie seufzte schwer, als ob sie sich auf ein langes Gespräch vorbereitete. Alle Verwirrung war von Peter gewichen, nachdem sich Natalie entfernt hatte. Mit aufgeregter Lebhaftigkeit rückte er seinen Stuhl nahe zu Marie.
»Ich wollte mit Ihnen sprechen, Fürstin«, sagte er als Antwort auf ihren Blick. »Helfen Sie mir! Was soll ich tun? Kann ich hoffen, Fürstin? Hören Sie mich an! Ich weiß alles. Ich weiß, daß ich ihrer nicht würdig bin, ich weiß, daß es jetzt unmöglich ist, davon zu sprechen, aber ich möchte ihr Bruder sein, nein, nicht das… ich kann nicht…« Er stockte und fuhr mit der Hand über sein Gesicht. »Nun, sehen Sie«, fuhr er mit sichtlicher Anstrengung fort, »ich weiß nicht, seit wann ich sie liebe; aber in meinem ganzen Leben habe ich nur sie geliebt und kann mir ohne sie kein Leben vorstellen. Ich wage es jetzt nicht, sie um ihre Hand zu bitten, aber der Gedanke, daß sie vielleicht mein sein, und daß ich diese Möglichkeit verscherzen könnte… ist entsetzlich! Sagen Sie mir, kann ich hoffen? Was soll ich tun, teuerste Fürstin?« fragte er nach kurzem Schweigen und berührte ihren Arm, da sie nicht antwortete.
»Ich denke an das, was Sie mir gesagt haben«, erwiderte die Fürstin Marie. »Sie haben recht… daß … jetzt von Liebe zu sprechen…«
Sie wollte sagen, es sei unmöglich, aber sie stockte, weil sie gesehen hatte, daß Natalie nicht dadurch beleidigt würde, wenn Peter ihr seine Liebe erklärte, und daß sie das sogar wünschte.
»Aber was soll ich tun?« fragte Peter.
»Überlassen Sie das mir, ich weiß …«
»Nun, nun?« mahnte er.
»Ich weiß, daß sie Sie liebt … lieben wird«, verbesserte sich die Fürstin. Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als Peter aufsprang und mit erschrockener Miene ihre Hand erfaßte. »Warum glauben Sie das? Sie glauben, ich könnte hoffen?«
»Ja«, erwiderte die Fürstin Marie lachend. »Schreiben Sie an die Eltern und vertrauen Sie mir! Ich werde es ihr sagen, sobald es angeht. Ich wünsche das, und ich fühle voraus, daß es so kommen wird.«
»Nein, das kann nicht sein! Wie glücklich bin ich! Aber es kann nicht sein… Wie glücklich ich bin! Nein, es kann nicht sein!« sagte Peter und küßte die Hand der Fürstin Marie.
»Reisen Sie nach Petersburg, das ist besser. Ich werde Ihnen schreiben.«
»Nach Petersburg? Gut, ich werde reisen. Aber morgen kann ich zu Ihnen kommen?«
Am andern Tag kam Peter, um sich zu verabschieden. Natalie war weniger lebhaft als an den vorhergehenden Tagen. Peter fühlte, wenn er ihr in die Augen sah, daß er verschwand, daß er und sie nicht mehr existierten, sondern nur ein einziges Gefühl des Glückes. Als er beim Abschied ihre feine, dünne Hand ergriff, hielt er sie unwillkürlich etwas länger in der seinigen.
»Soll wirklich diese Hand, dieses Gesicht, diese Augen, dieser ganze Schatz weiblicher Schönheit, das alles ewig mein sein, wie ich mir selbst gehöre? Nein, es ist unmöglich!«
»Leben Sie wohl, Graf!« sagte sie laut, »ich werde Sie sehr erwarten«, fügte sie flüsternd hinzu.
Und diese einfachen Worte, dieser letzte Blick begleiteten ihn und waren zwei Monate lang der Gegenstand unerschöpflicher Erinnerungen und glücklicher Träume für Peter. »Ich werde Sie sehr erwarten! Ja, ja. Wie hat sie gesagt? Ich werde Sie sehr erwarten! Ach, wie glücklich bin ich!«
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In der Seele Peters ging jetzt nichts derart vor wie damals, als er um Helene freite. Jetzt wiederholte er sich nicht mehr wie damals mit Beschämung die Worte, die er gesprochen hatte, er sagte nicht mehr: »Ach, warum habe ich das gesagt? Warum habe ich damals gesagt: »ich liebe Sie!?« Im Gegenteil, jetzt wiederholte er jedes seiner und ihrer Worte in seiner Erinnerung, er wollte nichts hinzufügen und noch davon nehmen, er wollte nur wiederholen. Kein Zweifel quälte ihn mehr, aber zuweilen fragte er sich doch, ist das nicht ein Traum? Hat sich Fürstin Marie nicht getäuscht? Bin ich nicht zu stolz und zuversichtlich? Was dann, wenn die Fürstin mit ihr spricht und Natalie lächelnd antwortet: »Wie sonderbar! Er hat sich wirklich geirrt! Weiß er nicht, daß er nur einfach ein Mensch ist, ich aber etwas ganz anderes, Höheres bin?««
Nur dieser Zweifel quälte Peter oft. Das bevorstehende Glück erschien ihm unwahrscheinlich. Er befand sich in einem Zustand freudiger Geistesabwesenheit. Nicht nur für ihn allein, sondern für die ganze Welt schienen ihm alle Dinge des Lebens nur in seiner Liebe und in der Möglichkeit ihrer Liebe zu ihm zu bestehen, alle Menschen schienen ausschließlich nur mit seinem zukünftigen Glück beschäftigt zu sein. Es schien ihm zuweilen, daß sich alle ebenso wie er selbst freuten und dies nur vor ihm verbergen wollten. In jedem Wort sah er Anspielungen auf sein Glück und oft setzte er die ihm Begegnenden in Verwunderung durch sein glückseliges Lächeln. Aber als er begriff, daß die Menschen von seinem Glück vielleicht nichts wissen, bemitleidete er sie von Herzen und es verlangte ihn, sie darüber aufzuklären, daß alles, was sie interessierte, nur leer und nichtig sei. Wenn man ihm vorschlug, in den Staatsdienst zu treten, oder von Krieg und Politik sprach und die Meinung äußerte, daß von dem Ausgang dieses oder jenes Ereignisses das Glück aller Menschen abhänge, hörte er mit mitleidigem Lächeln zu und setzte die Mitsprechenden durch seine seltsamen Bemerkungen in Erstaunen.
Als er die Papiere seiner verstorbenen Frau durchsah, fühlte er nur tiefes Mitleid für sie, weil sie das Glück, das er jetzt kannte, nicht kennengelernt hatte. Fürst Wassil, der jetzt einen neuen Rang und Orden erhalten hatte und besonders stolz darüber war, erschien ihm als ein rührender, guter Greis.
Oft erinnerte sich Peter später an diese Zeit glücklicher Geistesabwesenheit. »Vielleicht«, dachte er dann, »bin ich damals lächerlich und seltsam gewesen, aber ich war damals nicht so unvernünftig wie es schien, im Gegenteil, ich war damals klüger und scharfsinniger als jemals und begriff alles, was im Leben wert ist, begriffen zu werden, weil… ich glücklich war!«
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Seit jenem Abend, wo Natalie mit freudig spöttischem Lächeln zu Marie gesagt hatte, er sei wie frisch aus dem Bade gekommen, war in der Seele Natalies etwas Verborgenes und ihr Unbekanntes erwacht. Ihr Gesicht, ihre Stimme – alles hatte sich plötzlich verändert. Eine ihr selbst unerwartete Lebenskraft und die Hoffnungen auf künftiges Glück verlangten Befriedigung. Sie klagte nicht mehr über ihre Lage, sprach nicht von ihrer Vergangenheit und machte heitere Pläne für die Zukunft. Sie sprach wenig von Peter, aber wenn Fürstin Marie an ihn erinnerte, flammte in ihren Augen der längst erloschene Glanz wieder auf. Marie bemerkte die Veränderung an Natalie mit Verwunderung, und als sie ihre Veranlassung begriff, sogar mit Zürnen. »Hat sie wirklich Andree so wenig geliebt, daß sie ihn so schnell vergessen konnte?« dachte sie, aber in Gegenwart von Natalie zürnte sie ihr nicht mehr. Die erwachte Lebenskraft Natalies war augenscheinlich so unwiderstehlich, daß die Fürstin Marie ihr nicht grollen konnte. Als Marie an jenem Abend nach dem Gespräch mit Peter in ihr Zimmer ging, kam ihr Natalie auf der Schwelle entgegen.
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