»Sie erzählen wohl nicht alles, wahrscheinlich haben Sie etwas … Gutes getan«, bemerkte Natalie stockend.
Peter erzählte weiter. Als er von der Hinrichtung sprach, wollte er die schrecklichen Einzelheiten umgehen, aber Natalie verlangte, er solle nichts auslassen. Peter erzählte auch von Karatajew.
Das Abendessen war vorüber, er war schon aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab, während Natalie ihn immer mit ihren Blicken begleitete.
Peter erzählte seine Erlebnisse so, wie er sich ihrer selbst noch niemals erinnert hatte, jetzt erschienen ihm dieselben in einem neuen Licht, und während er das alles Natalie erzählte, empfand er jene seltene Wonne, die von Frauen ausgeht, wenn sie einem Mann zuhören – nicht von klugen Frauen, welche beim Zuhören sich bemühen, sich einzuprägen, was man ihnen sagt, um ihren Geist zu bereichern oder das Erzählte nach ihrer Weise zurechtzulegen und die klugen Reden anzubringen, die sie in ihrer kleinen, geistigen Haushaltung ausgearbeitet haben. Natalie war ganz Aufmerksamkeit und kein Wort, kein Blick, kein Schwanken seiner Stimme, keine Gebärde Peters entging ihr. Sie fing das noch ungesprochene Wort im Fluge auf und trug es in ihr offenes Herz, sie begriff den geheimen Sinn der ganzen geistigen Arbeit Peters.
Fürstin Marie sah jetzt die Möglichkeit der Liebe und des Glücks zwischen Natalie und Peter, und dieser Gedanke, der jetzt zum erstenmal in ihr erwachte, erfüllte sie mit Freude. Es war drei Uhr nachts, die Diener kamen mit traurig ernsten Gesichtern, um neue Kerzen aufzustecken, aber niemand bemerkte sie. Peter beendigte seine Erzählung. Natalie blickte beständig mit glänzenden Augen Peter aufmerksam an, der mit einer wonnigen Verwirrung zuweilen ihren Blicken begegnete. Fürstin Marie schwieg. Niemand schien daran zu denken, daß es drei Uhr nachts und Zeit zum Schlafen sei. »Man spricht von Unglück und Leiden«, sagte Peter wieder, »aber wenn man mir in diesem Augenblick sagen würde: ›Willst du so bleiben, wie du vor der Gefangenschaft warst, oder das alles von Anfang an nochmals durchleben‹, so würde ich sogleich sagen: Her mit der Gefangenschaft und dem Pferdefleisch. Wir glauben, es sei alles verloren, wenn wir aus dem gewohnten Geleise geworfen werden, aber da erst beginnt etwas Neues, Gutes! Solange das Leben dauert, gibt es auch Glück! Vieles, vieles liegt vor uns! Das möchte ich Ihnen sagen«, wandte er sich an Natalie.
»Ja, ja«, sagte sie, aber ihre Antwort bezog sich auf etwas ganz anderes. »Auch ich wünsche nichts so sehr, als alles von Anfang an nochmals zu durchleben.« Plötzlich ließ sie den Kopf auf die Hand herabsinken und brach in Tränen aus.
»Was ist dir, Natalie?« fragte die Fürstin Marie.
»Nichts, nichts!« Sie lächelte durch Tränen Peter zu. »Leben Sie wohl! Es ist wohl Zeit, zu schlafen.« Peter stand auf und verabschiedete sich.
Marie und Natalie fanden sich wie immer im Schlafzimmer zusammen und sprachen über das, was Peter erzählt hatte. Fürstin Marie äußerte ihre Meinung über Peter nicht, und auch Natalie sprach nicht von ihm.
»Weißt du, ich glaube, wir scheuen uns oft deshalb von ihm zu sprechen (von dem Fürsten Andree), weil wir fürchten, unsere Gefühle zu entweihen, und so vergessen wir ihn!«
Marie seufzte schwer. »Kann man denn vergessen?« fragte sie.
»Es war mir sehr angenehm, heute von ihm zu sprechen und doch zugleich schmerzhaft und schwermütig. Ich bin überzeugt, daß er ihn sehr liebte, und deshalb habe ich auch gesprochen. Es trifft mich doch kein Vorwurf dafür?« fragte sie errötend.
»O nein. Was ist das für ein vortrefflicher Mensch!«
»Weißt du, Marie«, sagte Natalie mit einem schalkhaften Lächeln, wie es Marie seit langer Zeit auf ihrem Gesicht nicht mehr gesehen hatte, »er ist so rein, glatt und frisch geworden, als ob er gerade aus dem Bade käme! Ich meine, moralisch aus dem Bade, nicht wahr?«
»Ja, er hat viel gewonnen!«
»Und sein kurzer Überrock, und die geschnittenen Haare, wirklich, wie aus dem Bade!«
Inhaltsverzeichnis
Lange konnte Peter nicht einschlafen und ging im Zimmer auf und ab, bald mit trüber Miene, bald mit glücklichem Lächeln. »Was ist zu machen? Wenn es nicht anders geht! Was soll ich tun? Es muß so sein!« sagte er, als er sich um sechs Uhr hastig zu Bett legte in glücklicher Erregung, aber ohne Zweifel und Unschlüssigkeit.
»Es muß sein! Alles muß geschehen, um sie zur Frau zu gewinnen«, sagte er zu sich selbst.
Er hatte schon vor einigen Tagen seine Abreise nach Petersburg auf Freitag bestimmt, und als er am Donnerstag erwachte, fragte ihn Saweljitsch nach seinen Befehlen in betreff der Reisevorbereitungen.
»Nach Petersburg? Wo ist Petersburg? Wer ist in Petersburg?« fragte er. »Ja, ja; früher, ehe dies vorfiel, wollte ich nach Petersburg fahren«, erinnerte er sich. »Gut, gut, ich werde auch reisen, vielleicht! Wie gut und aufmerksam er ist und an alles denkt«, dachte er mit einem Blick auf das Gesicht des alten Saweljitsch, »und was für ein angenehmes Lächeln! Höre, Saweljitsch, wünscht du dir immer noch nicht die Freiheit?« fragte Peter.
»Was soll ich mit der Freiheit, Erlaucht? Bei dem verstorbenen Grafen, ihm sei das Himmelreich! haben wir gelebt, und auch bei Ihnen ist uns keine Beleidigung widerfahren.«
»Nun, aber die Kinder?«
»Auch die Kinder werden leben, Erlaucht! Bei solchen Herren ist gut leben!«
»Aber mein Nachfolger?« fragte Peter. »Vielleicht heirate ich einmal plötzlich, das kann vorkommen«, fügte er lachend hinzu.
»Das wäre sehr gut, mit Erlaubnis zu sagen, Erlaucht.«
»Wie ihm dieser Gedanke leicht fällt«, dachte Peter. »Er weiß nicht, wie schrecklich, wie gefährlich das ist! Es ist immer zu früh oder zu spät… schrecklich!«
»Belieben Sie morgen zu reisen?« fragte Saweljitsch.
»Nein, ich werde es noch aufschieben. Entschuldige, daß ich dir Mühe machte! – Wie sonderbar, daß er nicht weiß, daß mir jetzt nichts an Petersburg liegt, und daß vor allem das entschieden werden muß! Aber wahrscheinlich weiß er es und verstellt sich nur. Soll ich mit ihm reden und ihn fragen, was er meint?« dachte Peter. »Nein, später einmal!«
Zu Tisch fuhr Peter wieder zur Fürstin Marie. Bei der Fahrt wunderte er sich über die Schönheit der Ruinen. Die Schornsteine, die zerfallenen Mauern erinnerten ihn an den Rhein und an das Kolosseum in Rom. Die Fuhrleute, Zimmerleute und Krämer, alle, die ihm entgegenkamen, blickten ihn mit strahlenden Gesichtern an, als ob sie sagten: »Da ist er! Wir wollen sehen, was daraus werden wird.«
Als er in das Haus trat, befielen ihn Zweifel daran, ob er wirklich gestern abend hier gewesen sei und mit Natalie gesprochen habe. »Vielleicht ist das nur Täuschung!« Aber kaum war er ins Zimmer eingetreten, so fühlte er schon ihre Anwesenheit. Sie trug dasselbe schwarze Kleid mit weichen Falten und dieselbe Frisur wie gestern, aber sie war doch ganz anders. Hätte sie gestern so ausgesehen, als er ins Zimmer trat, so hätte er sie sofort erkannt.
Sie war jetzt dieselbe, wie er sie als Kind und als Braut des Fürsten Andree gekannt hatte. Ein heller, fragender Glanz schimmerte in ihren Augen, auf ihrem Gesicht lag ein freudiger, seltsam mutwilliger Ausdruck. Peter speiste und wäre den ganzen Abend sitzengeblieben, aber Fürstin Marie fuhr zur Messe.
Am anderen Tage kam Peter frühzeitig, speiste und verbrachte den ganzen Abend bei ihnen. Obgleich Marie und Natalie augenscheinlich erfreut darüber waren, und obgleich das ganze Lebensinteresse Peters sich jetzt in diesem Hause konzentrierte, hatten sie sich doch gegen Abend ganz ausgesprochen, und oft brach das Gespräch ab. Marie und Natalie lächelten und schienen seinen Aufbruch zu erwarten. Peter bemerkte dies, konnte aber doch nicht gehen. Er fühlte sich gedrückt, blieb aber doch sitzen, weil er nicht vermochte, sich zu erheben und zu gehen.
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