Nichts macht die Realität einer äußeren Umgebung stärker uns fühlbar als die wechselnde Rolle, welche selbst unwichtige Personen, bevor und nachdem wir sie kennen gelernt, darin spielen. Ich war noch derselbe Mensch, der am Spätnachmittag in Alt-Balbec die Kleinbahn genommen hatte, ich trug in mir dieselbe Seele. Aber wo in dieser Seele um sechs Uhr statt der unfaßbaren Bilder des Direktors, des Palace, des Personals nur ein unbestimmtes, banges Warten auf den Augenblick der Ankunft war, befanden sich jetzt die abgekratzten Pickel auf dem Gesicht des kosmopolitischen Direktors – in Wirklichkeit war er in Monaco naturalisiert, obwohl, um seine ebenso distinguierte wie fehlerhafte Ausdrucksweise zu gebrauchen, von »rumänischer Herkömmlichkeit« –, ferner seine Geste, nach dem Lift zu klingeln, der Lift selber, ein ganzer Fries von Marionetten aus der Pandorabüchse des Grand-Hôtels, Bilder, die nicht mehr abzuleugnen, wegzuwischen waren und, wie alles, was sich verwirklicht hat, die Phantasie sterilisierten. Aber wenigstens bewies mir dieser Wechsel, bei dem ich selbst nicht mitgespielt hatte, daß etwas außerhalb von mir geschehen war – mochte es auch an sich noch so belanglos sein –, und ich war wie der Reisende, der die Sonne erst vor sich gehabt und nun, da er sie hinter sich sieht, feststellen kann, daß Stunden vergangen sind. Ich war todmüde, hatte Fieber, gern hätte ich mich schlafen gelegt, aber dazu fehlte mir alles. Ich dachte daran, mich wenigstens einen Augenblick auf dem Bett auszustrecken. Allein das hätte nichts geholfen: ich konnte dann doch die Summe von Erregungen, die für jeden von uns, wenn nicht unser materieller, so doch unser bewußter Körper ist, nicht zur Ruhe bringen. Die unbekannten rings andrängenden Gegenstände hätten meinen Körper zu dauernd wachem Verteidigungszustand der Wahrnehmungskräfte gezwungen, Gesicht, Gehör, alle Sinne (selbst wenn ich meine Beine ausstreckte) in so gezwungener und unbequemer Lage erhalten wie die des Kardinals La Balue in dem Käfig, wo er weder stehen noch sitzen konnte. Unsere Aufmerksamkeit stellt Gegenstände in ein Zimmer, und die Gewohnheit nimmt sie wieder fort und macht uns Platz. Platz gab es für mich nicht in meinem (nur dem Namen nach meinem) Zimmer in Balbec, es war von Dingen voll, die mich nicht kannten, jeden Blick, den ich auf sie warf, mißtrauisch machten und, ohne auf meine Existenz die geringste Rücksicht zu nehmen, mich fühlen ließen, daß ich den Schlendrian ihrer Existenz störe. Während ich die Uhr zu Hause in meinem Zimmer in der ganzen Woche nur einige Sekunden hörte, wenn ich gerade aus tiefer Versunkenheit auftauchte, schwatzte hier die Wanduhr ununterbrochen in einer unbekannten Sprache Dinge, die recht unfreundlich gegen mich sein mochten, denn die hohen violetten Vorhänge hörten ihr zu, ohne zu antworten, aber bei ihrem Anblick mußte man an Leute denken, die die Schultern zucken, um zu zeigen, daß die Anwesenheit eines Dritten ihnen lästig ist. Sie gaben dem hohen Zimmer einen gleichsam historischen Charakter: es war wie geschaffen für die Ermordung des Herzogs von Guise und dann später für den Besuch von Touristen in Begleitung eines Fremdenführers von Cook, aber nicht für mein Schlafen. Mich beunruhigten kleine Bibliotheken hinter Glas längs der Wände, vor allem aber ein großer Standspiegel, der mitten im Zimmer schräg stehen geblieben war (eh der nicht fort war, fühlte ich, würde es für mich keine Entspannung geben). Immer wieder hob ich meine Blicke – welchen die Gegenstände in meinem Pariser Zimmer nicht mehr im Wege standen als meine eigenen Augäpfel, sie waren ja nur Zubehör meiner Organe, Erweiterungen meines eigenen Wesens – zu dem überhöhten Plafond dieses Aussichtsturmes im Dachstuhl, den die Großmutter für mich gewählt hatte. Und bis in eine Gegend, die tiefer liegt, als Hören und Sehen reicht, die Gegend, in der wir die Eigenart der Gerüche erleben, ja fast ins Innerste meines Ich drang der Duft des Vetiver und griff meine letzten Verschanzungen an: mühsam und, ohne auszusetzen, stellte ich ihm als nutzlosen Schutz, ein geängstetes Schnüffeln entgegen. Was ich an Weltall, Zimmer, Körper besaß, war rings von Feinden bedroht, bis in die Knochen drang mir das Fieber, ich war allein, ich hatte Lust zu sterben. Da trat meine Großmutter ein, und dem bedrängten Herzen öffneten alsbald sich weite Räume, in die es sich dehnen konnte.
Sie trug einen Schlafrock aus Perkal, den sie zu Hause jedesmal anzog, wenn einer von uns krank war (sie fühle sich darin behaglicher, sagte sie; allem, was sie tat, schrieb sie ja immer selbstsüchtige Beweggründe zu), das war, um uns zu pflegen, ihr Dienerinnen- und Wärterinnenkittel, ihre Nonnenkutte. Aber während bei andern Pflegerinnen Sorgfalt, Güte, Tüchtigkeit, die man anerkennt, und Dankbarkeit, die man ihnen schuldet, den Eindruck verstärken, für sie ein anderer, allein zu sein und selbst die Last seiner Gedanken und seines Lebenswillens tragen zu müssen, wußte ich, wenn ich bei meiner Großmutter war und schwerster Kummer bedrückte mich, daß Mitleid, welches weiter reichte als er, ihn aufnahm; alles, was mein war, Sorgen und Begehren konnten sich bei der Großmutter einem Willen, mein Leben zu erhalten und zu steigern, anschmiegen, der stärker war als mein eigener Wille; meine Gedanken dehnten sich in ihr aus, ohne von ihrer Richtung abgelenkt zu werden; von meinem Geist drangen sie in ihren, ohne Umwelt und Person zu wechseln. Und – wie einer vor dem Spiegel seine Krawatte binden will und nicht begreift, daß der Zipfel, den er im Spiegel sieht, nicht auf der Seite ist, nach der er faßt, oder wie ein Hund auf dem Boden den tanzenden Schatten eines Insekts verfolgt – so ließ ich mich durch den körperlichen Schein dieser Welt, in der wir die Seelen nicht direkt wahrnehmen, täuschen, warf mich meiner Großmutter in die Arme und drückte meine Lippen auf ihr Gesicht, als käme ich so an das große Herz, das sie mir auftat. Den Mund an ihre Wangen, ihre Stirn gepreßt, schöpfte ich aus ihr etwas so Wohltuendes und Nahrhaftes, daß ich unbeweglich, ernst und stillgierig blieb wie ein saugendes Kind.
Ich wurde nicht müde, ihr großes Gesicht anzusehen, das sich abhob wie eine schöne sanftglühende Wolke: man fühlte strahlende Zärtlichkeit dahinter. Und alles, was auch nur im schwächsten Maße etwas von ihrem Empfinden abbekam, alles, was man ihr dann noch sagen konnte, wurde alsbald vergeistigt, geheiligt: meine Hände glätteten ihre kaum ergrauten Haare so ehrfürchtig, vorsichtig, sanft, als streichelte ich ihre Güte selbst. Für sie war jede Mühe, die mir Mühe sparte, Lust, und jeder Augenblick, in dem meine ermatteten Glieder unbewegt ruhen durften, köstlich: als ich jetzt sah, sie wolle mir beim Zubettgehen und Stiefelausziehen helfen, eine abwehrende Geste machte und anfangen wollte, mich selbst auszuziehen, hemmte ihr bittender Blick meine Hände, die schon nach den Knöpfen an Rock und Schuhen langten.
»Bitte laß mich«, sagte sie. »Es macht deiner Großmutter solche Freude. Und denk daran, an die Wand zu klopfen, wenn du nachts etwas brauchst, mein Bett steht dicht an deinem, die Zwischenwand ist ganz dünn. Tu es nachher, wenn du liegst, wir wollen sehen, ob wir uns gut verständigen können.«
So klopfte ich denn dreimal an diesem Abend – und eine Woche später, als ich leidend war, klopfte ich ein paar Tage jeden Morgen, weil meine Großmutter mir in der Frühe Milch bringen wollte. Wenn ich zu hören glaubte, daß sie wach sei, riskierte ich – damit sie nicht warte und nachher wieder einschlafen könne – drei kleine Schläge, schüchtern, schwach und doch deutlich. Mußte ich fürchten, ihren Schlaf zu unterbrechen, falls ich mich getäuscht hätte und sie noch schliefe, so sollte sie doch auch nicht unausgesetzt auf ein Klopfen lauschen, sie konnte es überhören, wenn es zu leise ausfiel, und nachher würde ich nicht wieder zu klopfen wagen. Kaum hatte ich meine drei Mal geklopft, so hörte ich von drüben dreimal klopfen, in anderem Tonfall, ruhig und überlegen, dreimal drei Schläge, die deutlich sagten: ›Reg dich nicht auf. Ich hab gehört. Gleich bin ich da.‹ Und bald danach kam meine Großmutter. Ich sagte ihr, ich habe Angst gehabt, sie würde mich nicht hören oder meinen, ein anderer Nachbar habe geklopft, da lachte sie:
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