»Mein Kind,« sagte die Großmutter zu ihr, »ich sehe dich wie Frau von Sévigné eine Landkarte studieren und uns keinen Augenblick verlassen.«
Mama versuchte mich zu zerstreuen; sie fragte, was ich mir zu essen bestellt habe, dann bewunderte sie Françoise, machte ihr Komplimente über ihren Mantel und Hut. Die erkannte sie nicht wieder, obgleich sie sie früher einmal scheußlich gefunden hatte, als sie neu waren und meine Großtante sie trug, den Hut mit einem Riesenvogel drauf und den Mantel voll greulicher Jet-Dessins. Als die Tante ihn nicht mehr trug, hatte Françoise ihn wenden lassen, und nun kam die schöne Farbe der ungemusterten Rückseite zur Geltung. Der Vogel war schon lange zerbrochen und in die Rumpelkammer gewandert. Raffinements, um die sich große Künstler bewußt bemühen, überraschen bisweilen in einem Volkslied, an einem Bauernhaus, dessen Fassade über der Tür an der passendsten Stelle eine weiße oder schwefelfarbene Rose schmückt: so hatte Françoise Samtschleife und Bandknoten, die auf einem Porträt von Chardin oder Whistler entzückend gewesen wären, mit sicherem natürlichen Geschmack angebracht, und der Hut war sehr hübsch geworden. Der bescheiden-ehrbare Ausdruck, der das Gesicht unserer alten Dienerin adelte, hatte sich auch der Kleidung mitgeteilt, die Françoise in der zurückhaltenden, doch nie servilen Art, mit der sie die »Würde ihrer Stellung wahrte«, für die Reise angelegt hatte, um, ohne sich vorzudrängen, neben uns sich zeigen zu können; in dem abgeblaßten Kirschrot des Mantels und dem weichhaarigen Pelz des Kragens erinnerte sie – um auf entlegenere Zeiten zurückzugreifen – an ein Bild der Königin Anne von Bretagne, wie es etwa ein alter Meister in sein Stundenbuch malt: da ist alles an seinem Platz, das Gefühl für Gesamtwirkung hat sich über alle Teile verbreitet, und die reiche, uns fernliegende Eigenart des Kostüms wirkt ebenso würdig und fromm wie Augen, Lippen und Hände.
Von Nachdenken konnte bei Françoise nicht die Rede sein. Alles in allem wußte sie nichts (wenn man Nichtwissen mit dem Nichtverstehen gleichsetzt), nichts als die wenigen Wahrheiten, die das Herz unmittelbar erfaßt. Die weite Welt der Ideen existierte für sie nicht. Aber von ihrem klaren Blick, von den zarten Linien der Nase und der Lippen (Merkmalen, die bei gebildeten Leuten, denen sie oft mangeln, höchste Distinktion, edle Freiheit erlesener Geister bezeichnet hätten) war man bisweilen betroffen wie von dem guten, klugen Blick eines Hundes, dem doch alle menschlichen Vorstellungen fremd sind. So gibt es wohl unter unsern schlichten Brüdern, den Bauern, eine Art Elite der Armen im Geiste; ein ungerechtes Geschick hat sie verdammt, unter diesen geistig Armen zu leben; Erkenntnis fehlt ihnen, aber sie stehen von Natur im wesentlichen den höheren Menschen näher als die Mehrzahl der Gebildeten; sie sind verstreute, verlorene, der Vernunft beraubte Glieder der heiligen Familie, kindgebliebene Geschwister der höchsten Geister; an dem unverkennbaren Leuchten in ihren Augen, das allerdings auf nichts Bestimmtes hindeutet, sieht man: zur Begabung fehlt ihnen nur das Wissen.
Meine Mutter sah, daß ich kaum die Tränen zurückhalten konnte, und sagte: »Regulus pflegte in bedeutsamen Momenten ... Und dann ist es auch nicht nett gegen deine Mama. Um wie deine Großmutter mit Frau von Sévigné zu sprechen: »Ich werde gezwungen sein, den ganzen Mut, der dir fehlt, aufzubringen.‹« Und da sie wußte, wie Anteilnahme am Schicksal des Nächsten von selbstsüchtigen Schmerzen ablenkt, unterhielt sie mich, um mir Vergnügen zu machen, von ihren Angelegenheiten: sie rechne auf eine angenehme Fahrt nach Saint-Cloud, sei mit der Droschke zufrieden, habe sie behalten, der Kutscher sei höflich, der Wagen bequem. Ich gab mir Mühe, über diese Einzelheiten zu lächeln, und nickte zustimmend, zufrieden. Doch alles, was Mama sagte, machte ihre Abreise mir nur noch wirklicher, und mit beklommenem Herzen sah ich sie, als wäre sie schon von mir getrennt, dastehen in dem rundem Strohhut, den sie fürs Land gekauft, in dem leichten Kleid, das sie für die lange Fahrt bei großer Hitze angelegt hatte; so war sie schon anders, gehörte schon zur Villa ›Montretout‹, in der ich sie nicht sehen sollte.
Um die Erstickungsanfälle, die sich als Folge der Reise einstellen könnten, zu vermeiden, hatte der Arzt mir geraten, im Augenblick der Abfahrt eine größere Quantität Bier oder Kognak zu mir zu nehmen, um dadurch in den von ihm als ›Euphorie‹ bezeichneten Zustand zu kommen, in dem das Nervensystem für den Augenblick weniger verletzlich ist. Noch war ich nicht sicher, daß ich es tun würde, wollte aber wenigstens, die Großmutter solle anerkennen, wenn ich mich dazu entschlösse, wären Recht und Vernunft auf meiner Seite. So sprach ich denn davon, als hätte ich mich nur über den Ort, wo ich den Alkohol trinken wollte, noch nicht entschieden, Stationsbüfett oder die Bar im Zuge. Als mich aber die Großmutter vorwurfsvoll ansah und schon vor dem Gedanken an mein Vorhaben zurückschrak, stand plötzlich mein Entschluß zu trinken fest; ihn auszuführen, wurde, da schon die bloße Ankündigung auf Widerstand stieß, notwendig, um meine Freiheit zu erhärten, und ich rief: »Du weißt doch, wie krank ich bin, du weißt, was der Arzt mir gesagt hat, und jetzt rätst du mir ab!« Da bekam das gütige Gesicht meiner Großmutter einen ganz untröstlichen Ausdruck, und als sie sagte: »So geh schnell Bier oder einen Likör trinken, wenn dir das gut tun soll«, warf ich mich in ihre Arme und bedeckte sie mit Küssen. Dann trank ich allerdings viel zuviel in der Bar des Zuges, aber nur weil ich fühlte, ich könnte sonst einen heftigen Anfall bekommen, und das würde sie doch am meisten bekümmern. Als ich an der ersten Station wieder in unsern Wagen stieg, sagte ich zu der Großmutter, ich sei so glücklich, nach Balbec zu reisen, ich fühle, alles werde gut gehen, im Grunde würde ich mich schnell daran gewöhnen, fern von Mama zu sein, der Zug sei angenehm, Barmann und Angestellte sehr liebenswürdig, diese Strecke möchte ich oft fahren, um die Leute wiederzusehen. Die Großmutter schien nicht so erfreut wie ich über all die guten Neuigkeiten. Meinem Blick ausweichend, entgegnete sie: »Du solltest ein bißchen zu schlafen versuchen«, und sie sah zum Fenster hinüber, an dem wir den Vorhang heruntergelassen hatten. Der bedeckte die Scheibe nicht ganz, und so konnte die Sonne (eine viel beredtere Reklame als die richtigen von der Eisenbahngesellschaft zu hoch an den Wänden angebrachten Reklamebilder, deren Unterschrift ich nicht entziffern konnte) über das gewachste Eichenholz der Coupétür und den Stoffbezug der Bank dasselbe laue verschlafene Licht gleiten lassen, das draußen in den Waldlichtungen ausruhte.
Die Großmutter glaubte, ich habe die Augen geschlossen, ich sah, wie sie von Zeit zu Zeit unter ihrem Schleier mit den dicken Tupfen einen Blick auf mich warf, weg- und dann wieder hersah wie jemand, der bemüht ist, sich an eine beschwerliche Pflicht zu gewöhnen.
Da redete ich zu ihr, aber das war ihr offenbar nicht sehr angenehm. Und mir machte doch der Klang der eigenen Stimme so viel Vergnügen und ebenso die unmerklichsten innersten Bewegungen meines Körpers; jedes betonte Wort zog ich in die Länge, fühlte, daß jeder Blick von mir da, wo er hinfiel, sich wohlbefand und länger als gewöhnlich haften blieb. »Du mußt dich ausruhen,« sagte meine Großmutter, »wenn du nicht schlafen kannst, lies etwas.« Und sie reichte mir einen Band von Frau von Sévigné; den öffnete ich, während sie sich in die Memoiren der Frau von Beausergent vertiefte; nie reiste sie ohne ein Buch der einen oder der andern. Es waren das ihre beiden Lieblingsschriftsteller. Ich mochte jetzt nicht gern den Kopf bewegen, es war mir eine Lust, die einmal eingenommene Lage beizubehalten; so hielt ich denn ruhig das Buch der Frau von Sévigné, ohne es aufzuschlagen, senkte auch nicht meinen Blick; der hatte nichts vor sich als den blauen Store des Fensters. Diesen Store zu betrachten, schien mir wunderbar, und hätte jemand versucht, mich von meiner Betrachtung abzulenken, ich hätte mir nicht die Mühe genommen, ihm zu antworten. Nicht weil es schön, sondern weil es so lebendig und eindringlich war, verloschen vor dem Blau der Stores alle Farben, die ich vom Tage meiner Geburt bis zu dem Augenblick, als ich mein Getränk hinunterschluckte, vor Augen gehabt hatte. Von diesem Augenblick an hatte das Blau des Stores zu wirken begonnen, und neben ihm waren alle andern Farben so fahl und nichtig, wie für Blindgeborene, die spät operiert werden und endlich Farben sehen, die Dunkelheit, in der sie früher gelebt haben, es retrospektiv werden mag. Ein alter Schaffner erschien und bat um unsere Billette. An den silbernen Reflexen auf den Metallknöpfen seines Rockes konnte ich mich nicht sattsehen. Ich wollte ihn bitten, sich zu uns zu setzen. Aber er ging in ein anderes Coupé weiter, und ich dachte mit Sehnsucht an das Leben der Eisenbahnbeamten, die ihre ganze Zeit im Zuge verbrachten und tagtäglich diesen alten Schaffner sehen konnten. Schließlich nahm meine Lust, den blauen Store zu betrachten und zu fühlen, daß mein Mund halb offen war, mehr und mehr ab. Ich wurde regsamer; ein wenig bewegte ich mich, schlug das Buch auf, das die Großmutter mir gereicht hatte, und konnte nunmehr meine Aufmerksamkeit auf die Seiten richten, die ich hier und da auswählte. Beim Lesen fühlte ich, wie meine Bewunderung für Frau von Sévigné; größer wurde.
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