Solange ich mich damit begnügt hatte, die sturmumwehte persische Kirche von Balbec von meinem Pariser Bett aus anzuschauen, hatte mein Körper gegen die Reise nichts einzuwenden gehabt Das fing erst an, als er begriffen hatte, man habe es auf ihn mit abgesehen und werde mich am Abend der Ankunft in »mein« Zimmer führen, ein Zimmer, das er gar nicht kannte. Noch größer wurde seine Empörung, als ich am Tage vor der Abfahrt erfuhr, meine Mutter werde uns nicht begleiten (mein Vater konnte nämlich bis zum Zeitpunkt seiner Abreise nach Spanien mit Herrn von Norpois Paris nicht verlassen und hatte deshalb ein Sommerhaus in der Umgebung gemietet). Übrigens ließ sich meine Sehnsucht, Balbec mit Augen anzuschauen, dadurch nicht beeinträchtigen, daß ich diesen Anblick mit Schmerzen erkaufen sollte. Ja, die Schmerzen waren mir ein Sinnbild und eine Garantie dafür, daß der Eindruck, den ich suchte, Wirklichkeit werden würde. Für diesen Eindruck wäre es kein Ersatz gewesen, irgendein angeblich äquivalentes Schauspiel, ein »Panorama« zu besuchen, um nachher heimzugehen und in meinem Bett zu schlafen. Nicht zum ersten Male fühlte ich, daß Liebende und Genießende nicht dieselben Menschen sind. Ich glaubte mich ebensosehr nach Balbec zu sehnen wie mein Arzt, der sich am Morgen der Abreise über mein unglückliches Aussehen wunderte und sagte: »Sie können mir glauben, wenn ich auch nur acht Tage Zeit hätte, Seeluft zu atmen, ich ließe mich nicht lange bitten. Sie werden da Rennen haben und Regatten, es wird herrlich sein.« Ich hatte schon lange, bevor ich die Berma hören ging, gelernt: was immer ich lieben sollte, blieb fernes Ziel eines qualvollen Strebens, und auf dem Wege zu diesem höchsten Gut mußte ich zunächst meinen Genuß zum Opfer bringen, statt ihm nachzugehen.
Für meine Großmutter war unsere Abreise natürlich etwas anderes. Von jeher bemüht, den Geschenken, die ich erhalten sollte, einen künstlerischen Charakter zu geben, hatte sie, um mir einen Teil dieser Reise als »Ersten Zustand« darzubieten, gewollt, wir sollten halb mit der Eisenbahn und halb im Wagen die Route verfolgen, auf der Frau von Sévigné von Paris über Chaulnes und »le Pont-Audemer« nach »l'Orient« gereist war. Aber diesen Plan mußte sie aufgeben, mein Vater wollte nichts davon wissen. Er kannte ihre Art, eine Reise so zu organisieren, daß möglichst viel geistiger Genuß dabei herauskam, und wußte, wieviel versäumte Züge, verlorene Gepäckstücke, Erkältungen und Polizeistrafen dabei vorauszusehen waren. Eine Freude blieb ihr wenigstens unbenommen: wir würden, wenn wir zum Strande wollten, nicht wie ihre geliebte Sévigné sagte, »eine verdammte Karosse voll lästiger Leute« abbekommen, da wir keine Bekannten in Balbec haben würden. Legrandin hatte uns kein Empfehlungsschreiben an seine Schwester angeboten. (Das gefiel meinen Tanten Céline und Victoire weniger, sie hatten die vornehme Dame, die sie immer, um die frühere Intimität zu betonen, »Renée von Cambremer« nannten, als junges Mädchen gekannt und besaßen von ihr Geschenke, die ihnen noch zum Zimmerschmuck und als Gesprächsstoff dienen konnten, aber keiner aktuellen Beziehung entsprachen. Um die Beleidigung, die man uns angetan, zu rächen, sprachen sie, wenn sie bei der alten Frau Legrandin zu Besuch waren, nicht ein einziges Mal den Namen ihrer Tochter aus und auf dem Heimweg beglückwünschten sie einander zu dieser feinen Rache mit Wendungen wie »Auf die bewußte habe ich mit keinem Wort angespielt« oder »Ich glaube, man wird schon begriffen haben.«)
Wir würden also einfach mit dem Zuge 1 Uhr 22 von Paris abfahren. Den hatte ich schon oft – immer mit der Erregung, fast der beglückenden Illusion der Abreise – im Kursbuch nachgeschlagen, ich war schon gut mit ihm bekannt. Um unsere Glücksmöglichkeiten zu formulieren, hält unsere Phantasie sich mehr an unsere Wünsche als an das, was wir über diese Möglichkeiten Genaues wissen. Und so glaubte ich das Glück, das mir bevorstand, bis in alle Einzelheiten zu kennen und machte mich mit Gewißheit auf ein spezielles Vergnügen im Eisenbahnwagen gefaßt, wenn der Tag sich langsam abkühlen und ich in der Nähe der und der Station in die Landschaft hinaussehen werde. Mit dem Gedanken an den Zug 1 Uhr 22 tauchten immer wieder die Bilder derselben Städte, eingehüllt in das Nachmittagslicht seiner Fahrt, in mir auf, und er war für mich etwas anderes als alle anderen Züge. Es ging mir schließlich mit ihm wie mit einem Menschen, den man nie gesehen hat, in der Phantasie aber schon als vertrauten Freund sich vorstellt: ich gab ihm eine ausgesprochene, unveränderliche Physiognomie, er wurde mir zu einem blonden Künstler auf Reisen, der seine Straße mich mitnahm, bis ich zu Füßen der Kathedrale von Saint-Lo ihm Lebewohl sagen würde, ehe er sich gen Sonnenuntergang entfernte.
Meine Großmutter konnte sich nicht entschließen, ohne interessante Unterbrechung direkt nach Balbec zu reisen, und wollte sich unterwegs einen Tag bei einer Freundin aufhalten; ich aber sollte am gleichen Abend weiterfahren, um der Dame keine Umstände zu machen, und auch, um am nächsten Tage die Kirche von Balbec zu besuchen, die, wie wir erfahren hatten, ziemlich weit vom Bad Balbec ablag, weswegen ich vermutlich nachher, wenn meine Badekur begonnen, nicht so bald einen Ausflug dahin machen könnte. Es hatte auch etwas Beruhigendes für mich, mein wunderbares Reiseziel eingeordnet zu wissen vor die erste qualvolle Nacht, in der ich eine neue Wohnung betreten und dort zu leben mich entschließen sollte. Erst aber hieß es die alte verlassen; meine Mutter wollte am gleichen Tage ihre Wohnung in Saint-Cloud beziehen und hatte alle Vorkehrungen getroffen, nachdem sie uns zur Bahn gebracht, sich direkt dahin zu begeben, ohne noch einmal nach Hause zu müssen, oder sie tat wenigstens so, weil sie fürchtete, ich würde sonst, statt nach Balbec zu reisen, lieber mit ihr heimkehren wollen. Und unter dem Vorwand, viel im neu gemieteten Hause zu tun und wenig Zeit dazu zu haben – in Wahrheit aber, um mir die Qual dieser besonderen Art von Abschied zu ersparen, hatte sie beschlossen, nicht bis zur Abfahrt des Zuges bei uns zu bleiben. Denn dann auf dem Bahnsteig, erst noch hingehalten zwischen all dem Gehen und Kommen und lauter Vorbereitungen, die zu keinem Ende führen, wird die nun doch unvermeidliche Trennung ein jäher unerträglicher Schmerz, zusammengedrängt in einen letzten furchtbaren Augenblick voll äußerster ohnmächtiger Hellsichtigkeit.
Zum ersten Male fühlte ich, es sei möglich, daß meine Mutter ohne mich, auf eine andere Weise als für mich, ein ganz anderes Leben lebe. Sie würde für sich wohnen mit meinem Vater, sie fand vielleicht, ich mache ihm durch meine schwache Gesundheit und Nervosität das Dasein etwas schwierig und traurig. Noch trostloser wurde die Trennung für mich, wenn ich mir sagte, sie sei bei meiner Mutter das Ergebnis fortgesetzter Enttäuschungen, die ich ihr bereitet, die sie mir zwar verschwiegen, durch die sie aber eingesehen habe, wie schwer es sei, die Ferien gemeinsam zu verbringen. Vielleicht auch wollte sie damit zum ersten Male ein Dasein erproben, in das sie sich künftig ergeben mußte, wenn nun allmählich die Jahre kämen, in denen mein Vater und sie mich seltener sehen würden, die Zeit, in der sie für mich – das hatten mir nicht einmal meine Angstträume bisher vergegenwärtigt – schon etwas fremd würde, eine Dame, die man allein in ein Haus, in dem ich nicht bin, treten und den Portier fragen sieht, ob Briefe von mir gekommen seien. Kaum konnte ich dem Dienstmann antworten, der mir die Handtasche abnehmen wollte. Um mich zu trösten, wandte meine Mutter Mittel an, die ihr die wirksamsten schienen. Sie hielt es für zwecklos, meinen Kummer scheinbar zu übersehen, sie zog es vor, mich sanft damit zu necken.
»Was würde wohl die Kirche von Balbec denken, wenn sie wüßte, daß man so unglücklich zu ihr auf Besuch geht? Ist das der begeisterte Reisende, von dem Ruskin spricht? Nun, ich werde schon merken, ob du auf der Höhe der Situation bist, auch in der Ferne werde ich bei meinem kleinen Jungen sein. Morgen bekommst du einen Brief von deiner Mama.«
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