Schließlich kam später noch ein Grund hinzu, der mich veranlaßte, meine Besuche bei Frau Swann gänzlich einzustellen. Dieser später gereifte Grund war nicht, daß ich Gilberte damals schon vergessen hatte, es war mein Versuch, sie schneller zu vergessen. Gewiß waren, seit mein großer Schmerz ein Ende genommen hatte, die Besuche bei Frau Swann für das, was mir an Traurigkeit verblieb, wieder Beruhigung und Zerstreuung geworden, wie sie im Anfang mir so wertvoll gewesen. Aber für die Nachwirkung der Beruhigung war die Zerstreuung unzuträglich, ich will damit sagen, diesen Besuchen vermischte sich innig die Erinnerung an Gilberte. Die Zerstreuung hätte mir nur nützen können, wenn sie ein Gefühl, das nicht mehr durch Gilbertes Gegenwart gespeist wurde, Gedanken, Interessen, Leidenschaften ausgesetzt hätte, in denen Gilberte keine Rolle spielte. Solche Bewußtseinszustände, denen das geliebte Wesen fern bleibt, nehmen dann einen Platz ein, der, mag er erst noch so klein sein, doch der Liebe, die die ganze Seele erfüllte, entzogen wird. Solche Gedanken muß man zu nähren und wachsen zu lassen versuchen, solange das Gefühl, das nur noch Erinnerung ist, abnimmt, so daß dann die neu in den Geist eingeführten Elemente diesem Gefühl einen immer größer werdenden Teil der Seele streitig machen, entreißen und sie ihm schließlich ganz entziehen. Mir wurde klar, daß dies die einzige Methode sei, eine Liebe zu töten, und ich war noch jung, noch mutig genug, um es zu unternehmen, und damit machte ich mir den allerbittersten Schmerz zu eigen: die Sicherheit, daß einem so etwas gelingen kann, mag man auch lange Zeit darauf verwenden müssen. Jetzt begründete ich in meinen Briefen an Gilberte meine Weigerung, sie zu sehen, mit der Anspielung auf ein – gänzlich erfundenes – geheimnisvolles Mißverständnis, das zwischen ihr und mir gespielt habe. Anfangs hoffte ich, Gilberte würde mich um eine Erklärung bitten. Aber nie wird, selbst in den unwesentlichsten Beziehungen des Lebens, jemand bei einem Briefwechsel einen Aufschluß fordern, wenn er weiß, daß eine dunkle, lügnerische, anschuldigende Wendung absichtlich ihm geschrieben wird, damit er protestiere; er ist ja viel zu glücklich, dadurch die Initiative zu behalten. In viel stärkerem Maße trifft dies für zartere Beziehungen zu, bei denen Liebe soviel Beredsamkeit, Gleichgültigkeit so wenig Neugier besitzt. Da Gilberte weder Zweifel an diesem Mißverständnis äußerte noch es kennen zu lernen versuchte, wurde es für mich etwas Wirkliches, auf das ich mich in jedem Brief bezog. Es liegt in solchen falschen Situationen, in affektierter Kälte ein Zauber, der uns darin verharren läßt. Ich schrieb ihr solange: »Seit unsere Herzen entzweit sind«, damit Gilberte antworte: »Aber sie sind es ja nicht, wir wollen uns aussprechen« –, bis ich selbst überzeugt war, daß sie entzweit seien. Und dadurch daß ich immer wiederholte: »Gewiß mag das Leben anders für uns geworden sein, aber es wird nicht das Gefühl auslöschen, das wir empfunden haben,« in dem Wunsche, endlich von ihr zu hören: »Aber es hat sich doch nichts geändert, dies Gefühl ist stärker als je« –, dadurch daß ich dies immer wiederholte, lebte ich schließlich in der Vorstellung, das Leben habe sich in der Tat geändert, und wir bewahrten die Erinnerung an ein Gefühl, das nicht mehr bestehe; so gibt es Nervöse, die eine Krankheit simulieren, bis sie sie schließlich bekommen. Jetzt vergegenwärtigte ich mir jedesmal, wenn ich an Gilberte zu schreiben hatte, die eingebildete Veränderung, die von nun an durch Schweigen, das sie über diesen Gegenstand in ihren Antworten bewahrte, unausgesprochen anerkannt wurde und zwischen uns bestehen bleiben sollte. Weiterhin hörte Gilberte einmal auf, sich mit dem bloßen Übergehen der Tatsache zu begnügen. Sie nahm selbst meinen Gesichtspunkt an, und wie in offiziellen Toasten der Chef des Staates, welcher empfangen wird, in seiner Erwiderung ungefähr dieselben Ausdrücke wiederaufnimmt, die der empfangende Staatschef gebraucht hat, verabsäumte Gilberte nicht, wenn ich schrieb: »Das Leben hat uns zu trennen vermocht, die Erinnerung an die Zeit, da wir einander kannten, wird dauern«, jedesmal zu antworten: »Das Leben hat uns zu trennen vermocht, es wird uns die guten Stunden, die uns immer teuer bleiben werden, nicht in Vergessen zu bringen vermögen.« (Wir wären beide in Verlegenheit gekommen, hätten wir angeben sollen, warum »das Leben« uns getrennt habe und welche Veränderung vorgegangen sei.) Ich litt nicht mehr allzusehr. Und doch, eines Tages, als ich ihr in einem Brief mitteilte, ich habe den Tod unserer alten Bonbonverkäuferin aus den Champs-Élysées erfahren, und die Worte schrieb: »Ich habe mir gedacht, daß Ihnen das nahegegangen ist, in mir hat es so manche Erinnerung aufgerührt«, – konnte ich mich nicht enthalten, in Tränen auszubrechen: ich merkte, daß ich in der Form der Vergangenheit und als handle es sich um einen schon fast vergessenen Toten, von dieser Liebe sprach, an die ich doch immer noch wie an etwas Lebendes oder wenigstens Wiederauflebenkönnendes gedacht hatte. Nichts Zarteres kann man sich vorstellen als diesen Briefwechsel zwischen Freunden, die sich nicht mehr sehen wollten. Gilbertes Briefe waren so feinfühlig wie die, welche ich an Gleichgültige schrieb, und auch voll offenkundiger Zuneigungsbeweise. (Und die von ihr zu empfangen, war süß für mich.)
Immer leichter wurde mir nach und nach die Weigerung, sie zu sehen. Und wie sie mir immer weniger teuer wurde, so hatten meine schmerzlichen Erinnerungen auch nicht mehr Kraft genug, in beständiger Wiederkehr die Entstehung des freudigen Gefühls zu zerstören, mit dem ich an Florenz, an Venedig dachte. In solchen Momenten tat es mir leid, auf den Eintritt in die Diplomatie verzichtet und mich auf ein seßhaftes Dasein eingelassen zu haben, um mich nicht von einem jungen Mädchen zu entfernen, das ich nicht mehr sehen würde und schon fast vergessen hatte. Man baut sein Leben auf für eine Person, und. wenn man soweit ist, sie darin aufnehmen zu können, kommt diese Person nicht, ist sie tot für uns, und man lebt als Gefangener in dem, was nur für sie bestimmt war. Schien Venedig meinen Eltern recht entlegen und fiebergefährlich für mich, so war es immerhin leicht, sich mühelos in Balbec niederzulassen. Aber dazu hätte ich Paris verlassen und auf die wenn auch noch so seltnen Besuche verzichten müssen, bei denen Frau Swann bisweilen zu mir von ihrer Tochter sprach. Nebenbei bemerkt, fing ich schon an, bei diesen Besuchen an dem und jenem meine Freude zu haben, was zu Gilberte in keiner Beziehung stand.
Als der nahende Frühling wieder Kälte mitbrachte, zur Zeit der Eisheiligen und österlichen Unwetter, fand Frau Swann, daß man zu Hause erfriere; und oft sah ich sie in Pelzen empfangen, ihre Hände und Schultern fröstelnd unter dem weißen schimmernden Hermelinteppich eines flachen Riesenmuffs und eines Kragens verschwinden; die hatte sie vom Spaziergange anbehalten, sie waren die letzten Stücke des Winterschnees, welche die andern überdauerten und weder am Feuer noch unter der vorgeschrittenen Jahreszeit hinschmolzen. Das wahre Wesen dieser eisigen und doch schon blühenden Wochen leuchtete mir in dem Salon, in den ich nun bald nicht mehr gehen sollte, durch anderes berauschenderes Weiß ein, zum Beispiel das der »Schneebälle«, die auf dem Gipfel ihrer hohen nackten Stiele – nackt wie die linearen Stauden der Präraffaeliten – ihre parzellierten, doch einheitlichen Kugeln trugen, weiß wie Verkündigungsengel, von Zitronengeruch umwittert. Die Schloßherrin von Tansonville wußte, daß auch ein eisiger April nicht ganz ohne Blumen ist, daß Winter, Frühling und Sommer nicht durch hermetische Scheidewände voneinander getrennt sind, wie der Großstädter zu glauben geneigt ist, der, bis die ersten warmen Tage kommen, wähnt, die Welt enthalte nichts als Häuser, welche nackt im Regen stehen. Daß Frau Swann sich mit den Sendungen ihres Gärtners aus Combray begnügte und nicht durch Vermittlung ihrer ständigen Blumenhändlerin die Lücken mit Anleihen bei der mittelländischen Frühreife ausfüllte, will ich durchaus nicht behaupten, und darüber machte ich mir auch keine Sorgen. Um Heimweh nach der Natur zu bekommen, genügte es, daß neben dem Firnenschnee von Frau Swanns Muff die Schneebälle (welche vielleicht der Dame des Hauses nur dazu dienten, auf Bergottes Rat mit ihren Möbeln und ihrer Toilette eine »Symphonie in Weiß-Dur« zu machen) mich gemahnten, der Karfreitagszauber stelle ein natürliches Wunder dar, dem man alljährlich beiwohnen könnte, wenn man nur weiser wäre; sie machten zusammen mit dem herb berauschenden Duft von Blumenkronen anderer Arten, deren Namen ich nicht wußte (und hatte im Spazierengehn bei Combray dennoch oft vor ihnen eingehalten), aus dem Salon von Frau Swann ein ebenso jungfräuliches blätterloses, von authentischen Gerüchen durchzogenes Blütenreich, wie es der kleine Hügelweg von Tansonville war.
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