Man muß sich nicht durch rein formale Besonderheiten, die mit der Epoche und dem Salonleben zusammenhängen, irreführen lassen, wie das gewisse Leute tun, die mit Frau von Sévigné fertig zu sein glauben, wenn sie sagen: ›Entbiete mir meine Bonne‹ oder ›Dieser Graf schien mir von vortrefflichen Geistesgaben‹ oder ›Heuen ist das Schönste auf der Welt‹. Schon Frau von Simiane bildet sich ein, ihrer Großmutter zu gleichen, wenn sie schreibt: ›Herrn von La Boulie geht es ausgezeichnet, er ist in bestem Zustande, um die Nachricht von seinem eigenen Tode zu bekommen‹ oder ›O mein lieber Marquis, Ihr Schreiben erfreut mich über die Maßen. Wie brächte ich's fertig, nicht zu antworten‹ oder auch ›Mir scheint, verehrter Herr, Sie sind mir eine Antwort schuldig, und ich Ihnen Bergamottdosen. Ich erfülle meine Pflicht zunächst mit acht Stück, später folgen mehr ...; nie hat die Erde soviel getragen. Offenbar, um Ihnen Freude zu machen.‹ Und in derselben Art schreibt sie den Brief über den Aderlaß, die Zitronen usw., die ihr wie richtige Sévignébriefe vorkommen. Meine Großmutter aber war von innen, durch ihre Liebe zu den Ihren und zur Natur, zu Frau von Sévigné gekommen und hatte die wahren Schönheiten dieser Briefe, die von ganz anderer Art sind, zu lieben mich gelehrt. Bald sollten sie mir noch besonders nahegebracht werden, denn Frau von Sévigné war eine Künstlerin von derselben Familie wie ein Maler, dem ich in Balbec begegnete und der einen so tiefgehenden Einfluß auf mein Weltbild gewann: Elstir. Da wurde mir klar, daß sie uns die Dinge darbietet wie er: sie leitet sie nicht erst erklärend aus ihren Ursachen ab, sie hält sich an den Gang unserer Wahrnehmung. Aber schon an dem Nachmittag im Coupé, als ich wieder den Brief las, in dem der Mondschein vorkommt: ›Da konnte ich der Versuchung nicht widerstehen: ich tu all mein Hauben- und Kapuzenzeug auf, was gar nicht nötig war, ich gehe auf die Promenade, wo die Luft so gut ist wie in meinem Zimmer! Ich finde lauter putzige Leute, weiße und schwarze Mönche, graue und weiße Nonnen, Wäsche hier und da herumliegen, stehend in Stämmen begrabene Menschen‹ –, da entzückte mich etwas, das ich einige Zeit später (zeichnet sie doch Landschaften wie er Charaktere) das Dostojewskiartige der Briefe der Frau von Sévigné genannt haben würde.
Nachdem ich dann am Abend die Großmutter zu ihrer Freundin begleitet, dort einige Stunden verbracht hatte und dann allein wieder in den Zug gestiegen war, hatte die einbrechende Nacht nichts Quälendes für mich; ich brauchte sie ja nicht in dem Gefängnis eines Zimmers zu verbringen, dessen Schlummer mich wachgehalten hätte, ich war umgeben von der beruhigenden Rastlosigkeit, mit der der Zug sich bewegte: das leistete mir Gesellschaft, das bot sich zur Unterhaltung, wenn ich keinen Schlaf finden sollte, das wiegte mich mit Geräuschen, die ich wie Glockenklang von Combray bald mit diesem, bald mit jenem Rhythmus verband (ich hörte erst vier gleichmäßige Sechzehntel, dann ein Sechzehntel, das wild gegen ein Viertel stieß); diese Bewegungen hoben die Zentrifugalkraft meiner Schlaflosigkeit auf und übten einen Gegendruck auf sie aus, der mich im Gleichgewicht hielt. Von ihnen konnte ich mich, erst stilliegend und dann bald einschlafend, tragen lassen, wie wachsame Natur- und Lebensmächte meine Ruhe getragen hätten, wenn ich für den Augenblick die Gestalt des Fisches hätte annehmen können, der im Meere schläft und sich von Strömungen und Wellen treiben läßt, oder die des Adlers, der nur auf dem stützenden Sturme ruht.
Der Sonnenaufgang gehört als Begleiter zu langen Eisenbahnreisen wie die harten Eier, die illustrierten Zeitungen, die Kartenspiele, die Bäche, in denen Boote sich bewegen, ohne vorwärtszukommen. Einmal, als ich gerade die Gedanken aufzählen wollte, die in den vorhergehenden Minuten mir in den Sinn gekommen waren, um festzustellen, habe ich geschlafen oder nicht (das unsichere Gefühl, das mich auf diese Frage brachte, war schon nahe daran, mir eine bejahende Antwort zu liefern); –, sah ich im Fenster über einem kleinen schwarzen Walde zackige Wolken, deren zarter Flaum rosa war, ein festsitzendes totes Rosa, das unveränderlich aussah wie das auf Flügelfedern, die es assimiliert haben, oder auf einem Pastell, auf dem die Phantasie des Malers es festgelegt hat. Aber ich bemerkte, daß die Farbe durchaus nicht leblos oder launenhaft, vielmehr notwendig, voller Leben war. Bald häuften sich hinter ihr Lichtreserven. Sie belebte sich, und um das Inkarnat des Himmels besser zu sehen, drückte ich mein Gesicht an die Scheibe, denn ich fühlte, wie diese Farben mit dem tiefsten Wesen der Natur zusammenhingen, aber da hatte die Linie der Eisenbahn ihre Richtung geändert, der Zug machte einen Bogen, statt der morgendlichen Szene erschien im Fenster ein nächtliches Dorf mit mondscheinblauen Dächern, ein vom opalenen Perlmutterglanz der Nacht geflecktes Waschbecken, darüber ein noch ausgestirnter Himmel; schon war ich trostlos, meinen rosa Himmelsstreifen verloren zu haben, da erschien er von neuem, dieses Mal aber rot und im Fenster gegenüber, – um bei der nächsten Biegung des Geleises es wieder zu verlassen. So verbrachte ich denn die Zeit damit, von einem Fenster zum andern zu laufen, um die intermittierenden Fragmente meines schönen, wankenden, scharlachroten Morgens hüben und drüben zusammenzubringen, aufzuspannen, eine Gesamtansicht, ein dauerndes Bild zu bekommen.
Die Landschaft wurde hügelig, abschüssig, der Zug hielt in einem kleinen Bahnhof zwischen zwei Bergen. Tief in der Schlucht sah man am Rande des Gießbachs ein einzelnes Wärterhäuschen, das im Wasser, das seine Fenster bespülte, beinahe verschwand. Wenn wirklich ein Wesen das Produkt seines Bodens ist und man in ihm dessen besonderen Reiz genießen kann, dann mußte ich das – mehr noch als an der Bäuerin, deren Erscheinen ich so ersehnt hatte, als ich allein in der Gegend von Méséglise in den Wäldern von Roussainville irrte – hier an dem großen Mädchen erleben, das jetzt aus dem Hause trat und im schrägen Schein der aufgehenden Sonne den Pfad zum Bahnhof mit einem Milchkruge heraufkam. In dem Tale, das Höhen rings vor der übrigen Welt verbargen, mochte sie wohl keinen Menschen sehn außer in Zügen, die nur einen Augenblick hielten. Sie ging die Wagen entlang und bot einigen Reisenden, die schon wach waren, Milchkaffee an. Purpurn vom Morgenschein übergossen, war ihr Gesicht rosiger als der Himmel. Ich fühlte bei ihrem Anblick Sehnsucht zu leben, wie sie jedesmal in uns erwacht, wenn uns von neuem Schönheit und Glück bewußt werden. Wir vergessen immer wieder, daß sie individuell sind, und unterschieben ihnen einen konventionellen Typus, ein Mittelding, das wir uns aus den verschiedenen Gesichtern, die uns gefallen, den Genüssen, die uns geworden sind, bilden; so bekommen wir nur abstrakte Gebilde, schale, verblasene, ohne das Präzise, Neue und Unterscheidende, das der Schönheit, dem Glück eigen ist. Wir urteilen pessimistisch über das Leben und glauben uns dazu berechtigt in dem Gefühl, Schönheit und Glück mit in Betracht gezogen zu haben, und haben sie doch ausgelassen und durch Synthesen ersetzt, die kein Atom von ihnen enthalten. Darum gähnt der Belesene gleich, wenn man ihm von einem neuen schönen Buch spricht, er stellt sich darunter ein Mischgebilde aus all den schönen Büchern vor, die er gelesen hat, und ein schönes Buch ist doch etwas Einmaliges, das sich nicht vorhersehen, nicht aus der Summe der früheren Meisterwerke ableiten läßt; mag man sich diese Summe auch vollkommen zu eigen gemacht haben, man wird das Neue nur außerhalb dieser Gesamtheit finden. Entdeckt aber der Belesene und eben noch Blasierte dies neue Werk, so regt sich sein Interesse für die Wirklichkeit, die es beschreibt. So gab das schöne Mädchen, das mit den Schönheitsmustern meiner Phantasie nichts gemein hatte, mir alsbald Vorgeschmack eines bestimmten Glücks (und nur in dieser einmaligen Form können wir Glück genießen), eines Glücks, das sich in einem Leben mit ihr verwirklichen würde. Dabei spielt wieder das momentane Aussetzen der Gewohnheit eine bedeutsame Rolle. Der Milchhändlerin kam zugute, daß mein Wesen vollständig zugegen und reif war für die Genüsse, die sich ihm boten. Gewöhnlich leben wir nur mit einem auf das Minimum reduzierten Wesen, unsere meisten Fähigkeiten schlummern, da sie sich auf die Gewohnheit verlassen, die weiß, was zu tun ist und sie nicht nötig hat. Doch dieser Reisemorgen unterbrach das Einerlei meines Daseins, die ungewohnte Stunde, der ungewohnte Ort verlangten Gegenwart meines ganzen Wesens. Ich lebte sonst seßhaft häuslich und war kein Frühaufsteher, jetzt aber fielen meine Gewohnheiten weg, und gleich waren all meine Fähigkeiten zur Stelle, wetteifernd sie zu ersetzen, alle erhoben sich wie Wellen zu demselben ungewohnten Niveau, von der niedrigsten bis zur edelsten, von Atmung, Appetit und Blutumlauf bis zu Gefühl und Phantasie. Ob der wilde Zauber der Landschaft das seine dazu beitrug, daß dies Wesen mir anders erschien als die andern Frauen, weiß ich nicht, aber das Mädchen gab der Landschaft von seinem Zauber ab. Köstlich schien mir, das Leben ganz mit ihr zusammen zu verbringen, Stunde um Stunde an ihrer Seite auf dem Weg zum Bach, zur Kuh, zum Zuge, ihr wohlbekannt zu sein und meinen Platz in ihren Gedanken zu haben. Sie hätte mich in den Genuß des Landlebens und der frühen Tagstunden eingeweiht. Ich winkte ihr, mir Milchkaffee zu reichen. Ich hatte das Bedürfnis, von ihr bemerkt zu werden. Sie sah mich nicht. Ich rief sie. Über der hohen Gestalt erschien das Gesicht vergoldet und rosig, als sähe man es durch ein beleuchtetes Kirchenfenster. Sie kam zurück, ich konnte meine Augen nicht von ihrem Gesicht wenden, es wurde größer, breiter wie eine Sonne, in die man sehen kann, während sie immer mehr sich nähert, ganz aus der Nähe sich anschauen läßt und mit Gold und Rot blendet. Sie richtete ihren scharfen Blick auf mich, da schlossen die Schaffner die Wagentüren, und der Zug setzte sich in Bewegung. Ich sah, wie das Mädchen den Bahnhof verließ und wieder ihren Pfad entlang ging, es war jetzt heller Tag, ich entfernte mich von der Morgenröte. Ob ich nun außer mir war, weil ich dies Mädchen sah, oder ob ich die Nähe des Mädchens so sehr genoß, weil ich schon außer mir war, jedenfalls bildete es einen Teil meiner Begeisterung, und mein Wunsch, es wiederzusehen, war vor allem ein Verlangen der Seele, diesen Zustand der Erregung nicht ganz vergehen zu lassen, mich nicht auf immer von einem Wesen zu trennen, das, wenn auch unbewußt, daran teilgenommen hatte. Dieser Zustand war mehr als angenehm, er gab – wie stärkere Spannung einer Saite, heftigeres Schwingen einer Fiber neuen Klang und neue Farbe – dem, was ich sah, einen neuen Ton, führte mich als Mitspielenden in ein unbekanntes, unendlich interessanteres Universum; das schöne Mädchen, das ich noch immer sah, als der Zug schon schneller fuhr, war Teil eines anderen, von dem mir bekannten durch eine schmale Borte getrennten Lebens; dort riefen die Gegenstände andere Empfindungen hervor; und es jetzt ganz zu verlassen, wäre ein Sterben gewesen. Um den Genuß zu haben, mit diesem Leben mich wenigstens verbunden zu fühlen, hätte es genügt, daß ich unweit der kleinen Station wohnte und jeden Morgen hinkäme, von dieser Bäuerin mir Milchkaffee geben zu lassen. Aber leider würde sie dem andern Leben, dem ich mich schneller und schneller jetzt näherte, immer fern sein, und um mich darein fügen zu können, schmiedete ich Pläne, wie ich eines Tages wieder diesen Zug nehmen und an dieser Station haltmachen könnte. Dies Projekt hatte noch den besondern Vorteil, der interessierten, aktiven, praktischen, mechanischen, trägen, zentrifugalen Veranlagung, die unserm Geiste eigen ist, Nahrung zu geben. Er vermeidet ja gern die Mühe, – allgemein und ohne Zweck – einen angenehmen Eindruck in sich selbst tiefer zu ergründen. Da wir aber weiter an diesen Eindruck denken wollen, verlegt er ihn lieber in die Zukunft und bereitet geschickt Umstände vor, die ihn wieder herbeiführen können; so erfahren wir nichts über sein Wesen, vermeiden die Mühe, ihn in uns selbst zu erschaffen, und dürfen hoffen, neuerlich von außen ihn zu bekommen.
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