Er errötete vor Freude. Sie interessierte sich für seine Arbeit, das war sicher, und jedenfalls hatte sie ihm keine gedruckte Ablehnung gegeben. Gewisse Teile seiner Arbeit hatte sie schön genannt, und das war die erste Ermutigung, die er je von einem Menschen erhalten hatte.
»Das werde ich,« sagte er leidenschaftlich, »und ich verspreche Ihnen, Fräulein Morse, daß ich es zu etwas bringen werde. Ich habe schon eine ganze Menge erreicht – das weiß ich –, aber ich habe noch einen weiten Weg vor mir, und den will ich zwingen, und wenn ich ihn auf Händen und Füßen kriechen soll.« Er reichte ihr ein dickes Manuskript.
»Hier ist die »Seelyrik«. Wenn Sie heimkommen, müssen Sie es in aller Ruhe lesen, und Sie müssen mir versprechen, daß Sie mir Ihre offene Meinung sagen. Sie wissen, was ich vor allem brauche, ist Kritik. Und bitte, seien Sie offen zu mir.«
»Ich werde ganz offen sein«, versprach sie mit einem unangenehmen Gefühl, nicht ganz ehrlich gegen ihn gewesen zu sein, und mit einem leisen Zweifel, ob sie das nächste Mal ehrlich sein könnte.
Inhaltsverzeichnis
»Die erste Schlacht ist verloren«, sagte Martin, als er sich zehn Tage später im Spiegel betrachtete. »Aber es kommt eine zweite und eine dritte; Schlachten ohne Ende, wenn nicht ...«
Er beendete den Satz nicht, sondern sah sich in dem kleinen Zimmer um und ließ den Blick betrübt auf einem Stapel zurückgesandter Manuskripte weilen, die, noch in ihren langen Umschlägen, in einer Ecke auf dem Fußboden lagen. Er hatte keine Briefmarken, um sie weiter zu verschicken, und seit einer Woche hatten sie sich hier angehäuft. Morgen und übermorgen kamen weitere, und immer mehr, bis alle wieder da waren. Er schuldete einen Monat Miete für die Schreibmaschine und konnte nicht bezahlen, denn er hatte die letzte Woche kaum genug für Kost und Logis und für die Einschreibegebühr beim Arbeitsnachweis gehabt.
Er setzte sich und blickte nachdenklich auf den Tisch. Es waren Tintenflecke darauf, und er merkte plötzlich, daß er diesen Tisch liebte.
»Lieber, alter Tisch,« sagte er, »ich habe manche glückliche Stunde an dir verbracht, und alles in allem bist du mir ein guter Freund gewesen. Du hast mir nie den Mut genommen, mir nie ein Untauglichkeitsattest ausgestellt, dich nie bei mir über zuviel Arbeit beklagt.«
Er legte die Arme auf den Tisch und barg das Gesicht in den Händen. Seine Kehle schmerzte ihn, und er hätte am liebsten geweint. Er mußte an seine erste Prügelei denken, als er, der sechsjährige, trotz aller Gegenwehr von dem andern, zwei Jahre älteren Jungen bis zur völligen Erschöpfung geprügelt worden war. Er sah den ganzen Kreis von Jungen, die wie die Barbaren heulten, als er endlich, sich vor Übelkeit windend, zu Boden stürzte, während das Blut ihm aus der Nase rann, und die Tränen aus den zerschlagenen Augen strömten.
»Armer kleiner Kerl,« murmelte er, »und jetzt ist es dir ebenso schlecht ergangen. Jetzt bist du wieder zu Brei geschlagen. Erledigt.«
Und wie er noch das Bild dieses ersten Kampfes vor sich sah, löste es sich auf und wich dem einer Reihe neuer Schlägereien, die der ersten gefolgt waren. Ein halbes Jahr später hatte ihn Käsgesicht (so hieß der Knabe) wieder geprügelt. Aber diesmal hatte er Käsgesicht auch ein blaues Auge versetzt. Das war doch immerhin etwas. Er sah eine Prügelei nach der andern, immer bekam er Prügel, und immer triumphierte Käsgesicht über ihn. Aber nie war er weggelaufen. Er war geblieben und hatte seine Medizin genommen. Käsgesicht war ein wüster Draufgänger und hatte ihm nie die geringste Barmherzigkeit erwiesen. Aber er war nicht gewichen. Er hatte ausgehalten.
Dann sah er eine enge Gasse zwischen verfallenen Fachwerkbauten. Das Ende der Gasse war von einem einstöckigen Ziegelbau versperrt, aus dem das rhythmische Poltern der Maschinen ertönte, wenn sie die erste Ausgabe des Enquirer fertigstellten. Er war elf Jahre alt und Käsgesicht dreizehn, und beide trugen den Enquirer aus. Daher standen sie hier und warteten auf ihre Zeitungen. Selbstverständlich war Käsgesicht wieder über ihn hergefallen, und eine neue Prügelei hatte begonnen, die aber unentschieden blieb, weil die Druckerei um dreiviertel vier aufgerissen wurde und die Knaben hineinströmten, um ihre Zeitungen zu falzen.
»Morgen kriegst du deine Dresche«, hörte er Käsgesicht sagen, und er hörte seine eigene Stimme, keuchend und von unterdrückten Tränen zitternd, sagen, daß er zur Stelle sein würde.
Und dann kam der nächste Tag, an dem er von der Schule heimeilte, um zwei Minuten vor Käsgesicht dazusein. Die andern Jungen sagten, er würde es schon machen, gaben ihm gute Ratschläge und versprachen ihm den Sieg, wenn er ihnen folgte. Aber dieselben Jungen hatten auch Käsgesicht beraten. Wie sie doch die Prügelei genossen! Martin hielt einen Augenblick in seinen Erinnerungen inne und beneidete sie wegen des Anblicks, den er und Käsgesicht geboten hatten. Dann hatte die Schlägerei begonnen. Sie hatte eine halbe Stunde ohne Aufhören gedauert, bis die Tür der Druckerei geöffnet wurde.
Er sah sich weiter in seiner Jugend, wie er Tag für Tag aus der Schule heim und dann in die Gasse eilte, wo die Druckerei des Enquirer lag. Das Gehen wurde ihm schwer. Er war steif von der ewigen Prügelei. Seine Arme waren vom Handgelenk bis zum Ellbogen blau von den vielen parierten Schlägen, und hin und wieder reagierte das gepeinigte Fleisch sogar durch Beulen. Kopf und Schultern schmerzten, sein Rücken schmerzte, der ganze Körper schmerzte, und sein Gehirn war schlaff und wirr. Er spielte nicht mehr in der Schule und tat auch nichts in den Stunden. Schon daß er den ganzen Tag still an seinem Pulte sitzen mußte, war eine Qual. Ihm schienen Jahrhunderte vergangen, seit diese täglichen Schlägereien begonnen hatten, und die Zukunft wuchs mit neuen Schlägereien wie ein Alp ins Unendliche. Warum kann ich Käsgesicht nicht verprügeln, dachte er oft, das würde mich von allem Elend befreien. Es fiel ihm nie ein, sich nicht mehr zu wehren und sich von Käsgesicht verprügeln zu lassen.
Und so schleppte er sich denn Tag für Tag, krank an Leib und Seele, in die Gasse, um seinem ewigen Feinde Käsgesicht zu begegnen, der ebenso elend wie er selbst war und ebenso gern aufgehört hätte, würde nicht die ganze Schar der Zeitungsjungen zugesehen und den Stolz zu einer peinlichen Angelegenheit gemacht haben. Als sie eines Nachmittags zwanzig Minuten lang verzweifelte Anstrengungen gemacht hatten, sich nach den festgesetzten Regeln zu verhauen, die es verboten, zu treten, unterhalb des Gürtels zu treffen oder auf den andern loszuschlagen, wenn er am Boden lag, rief Käsgesicht stöhnend und wankend, ob sie jetzt nicht quitt sein könnten. Und Martin, der jetzt, den Kopf auf die Arme gelegt, dasaß, wurde von dem Bilde durchschauert, das er vor sich sah, wie er an jenem Nachmittag vor langer Zeit, selbst wankend und stöhnend und halb erstickt von dem Blut, das ihm von den zerrissenen Lippen in Mund und Hals lief, auf Käsgesicht zutaumelte, einen Mund voll Blut ausspie und, sobald er ein Wort herausbringen konnte, rief, sie würden nie quitt sein, aber Käsgesicht könne sich ja ergeben, wenn er wolle. Aber Käsgesicht ergab sich nicht, und die Prügelei nahm ihren Fortgang.
Der nächste Tag und die folgenden endlosen Tage waren Zeugen derselben ewigen Nachmittagsprügelei. Jeden Tag, wenn er die Arme hob, um loszuschlagen, schmerzten sie wahnsinnig, und die ersten Schläge, die er austeilte oder empfing, legten seine Seele auf die Folterbank, dann aber begann er gefühllos zu werden und kämpfte weiter, während er wie im Traum das große Gesicht Käsgesichts mit den brennenden tierischen Augen auf- und niederhüpfen sah. Seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf dies Gesicht – alles andere war für ihn wirbelnde Leere. Es gab nichts in der Welt außer diesem Gesicht, und er fand keine Ruhe, ehe er es nicht mit seinen blutenden Fäusten zerschmettert, oder ehe nicht die blutigen Fäuste, die zu diesem Gesicht gehörten, ihn zerschmettert hatten. Erst dann gab es Frieden. Aber aufhören – aufhören, er, Martin! – unmöglich.
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