Er fühlte sich versucht, »Locksley Hall« zu erwähnen, und würde es getan haben, hätte ihn nicht eine neue Vision gepackt: das Weibchen seiner Art, das sich aus dem Urschlamm erlöst hatte und durch Tausende und aber Tausende von Jahrhunderten die Leiter des Lebens emporgekrochen war, um schließlich die oberste Sprosse zu erreichen und zu der einen zu werden, zu Ruth, die rein, schön und göttlich war, die die Fähigkeit besaß, ihn zu lehren, was Liebe war, ihn anzuspornen zu Reinheit und dem Wunsch, von der Göttlichkeit zu kosten – ihn, Martin Eden, der sich auf so seltsame Art aus dem Schmutz, aus zahllosen Fehlgriffen und Enttäuschungen erhoben hatte, um einen Ausdruck für den ewigen Schöpferdrang zu finden. Das war Romantik, das war das Wunderbare und Herrliche. Das war es, worüber er schreiben wollte, wenn er nur die Worte finden konnte. Ihr Heiligen im Himmel! – Sie waren nur Heilige und konnten selbst nichts dabei machen. Er aber war ein Mann.
»Die Kraft haben Sie,« hörte er sie sagen, »aber sie ist ungeschult.«
»Wie ein Ochse in einem Porzellanladen«, meinte er, was ihm ein Lächeln eintrug.
»Und Sie müssen Ihre Kritik entwickeln, Sie müssen Geschmack, Feinheit und Ton berücksichtigen.«
»Ich wage zuviel«, murmelte er.
Sie lächelte beifällig und setzte sich zurecht, um eine weitere Erzählung zu hören.
»Ich weiß nicht, was Sie hierzu sagen werden«, meinte er, sich gleichsam entschuldigend. »Es ist eine komische Geschichte. Ich fürchte, daß ich mein eigentliches Gebiet damit überschritten habe. Aber die Absicht war gut. Kümmern Sie sich nicht um die Einzelheiten, versuchen Sie nur, das Große darin zu erfassen. Und Größe ist darin, das ist wahr, wenn ich das auch vermutlich nicht recht einleuchtend gemacht habe.«
Er las und studierte dabei ihr Gesicht. Jetzt habe ich doch endlich Eindruck auf sie gemacht, dachte er. Sie saß regungslos, den Blick auf ihn geheftet, da und vergaß fast zu atmen, so überwältigt war sie von seiner Schöpfung. Er nannte die Geschichte »Abenteuer«, und es war die Apotheose des Abenteuers – keines Abenteuers, wie man es in Märchenbüchern liest, sondern des wirklichen Abenteuers, des gestrengen Herrn, der schrecklich in seiner Strafe und schrecklich in seinem Lohn, treulos und launisch ist und eine furchtbare Geduld und die verzweifelte Arbeit von Tagen und Nächten erfordert; des Abenteuers, das den Menschen flammenden Sonnenschein oder finsteren Tod, Durst und Hunger oder das langsame Hinsiechen und unheimliche Delirium des Faulfiebers bringt, das Blut und Schweiß, giftige Insektenstiche und kleine unwürdige Geschehnisse ins Unendliche verkettet, um schließlich in großen, herrlichen Taten zu kulminieren. Das und noch mehr war es, was er in seiner Geschichte erzählte. Und als er sie jetzt lauschen sah, glaubte er, daß es das war, was sie entflammte. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre blassen Wangen nahmen Farbe an, und noch ehe er fertig war, glaubte er fast, sie stöhnen zu hören. Ja, wirklich, sie war entflammt, aber nur von ihm, nicht von der Erzählung. Aus der Erzählung machte sie sich nichts; es war die intensive Kraft, die aus seinem Körper in den ihrigen überzuströmen schien. Das Merkwürdige war, daß diese, mit seiner Kraft geladene Geschichte jetzt der Kanal war, der seine Kraft zu ihr leitete. Für sie existierte nur die Kraft selbst, nicht ihr Mittler, und wenn sie auch scheinbar von dem hingerissen war, was er geschrieben hatte, so war sie es doch in Wirklichkeit von etwas anderem, das nicht das geringste damit zu tun hatte – von einem Gedanken, der, furchtbar und gefährlich, ungerufen in ihrem Hirn Form angenommen hatte. Sie hatte sich auf dem Gedanken an eine Ehe mit ihm ertappt. Und die Kühnheit und Heftigkeit dieses Gedankens hatte sie entsetzt. Das schickte sich nicht für ein junges Mädchen. Und es glich ihr nicht. Sie hatte ihr ganzes Leben in einer Traumwelt, in einem ewigen Schlaf verbracht, und jetzt pochte das Leben mit unabweisbarer Kraft an alle Tore ihres Wesens. Ihr aufgeschreckter Verstand heischte, daß sie eiserne Riegel vorschob, gleichzeitig aber spornten ihre losgelassenen Instinkte sie an, die Tore weit aufzureißen und den fremden Gast einzulassen – diesen fremden Gast, der so süße Unruhe in ihrem Herzen weckte.
Martin wartete zuversichtlich auf ihr Urteil. Er zweifelte nicht an dem Ausfall und war ganz bestürzt, als er sie sagen hörte: »Das ist schön.«
»Ja, das ist schön«, wiederholte er nach einer kurzen Pause mit Nachdruck.
Natürlich war es schön, aber es war etwas anderes darin als nur Schönheit, etwas Großartiges, etwas, das brannte und sengte und ihm die Schönheit zur Sklavin machte. Er lag der Länge nach auf dem Boden, ohne etwas zu sagen. Aber vor seinem Blick erhob sich das unheimliche Gespenst eines großen Zweifels. Seine Fähigkeiten hatten ihn im Stich gelassen. Er vermochte sich nicht auszudrücken. Er hatte etwas vom Großen in der Welt gesehen und keinen Ausdruck dafür gefunden.
»Wie finden Sie das – –«, er zögerte, das Fremdwort wollte nicht recht über seine Lippen, »das Motiv?« fragte er.
»Etwas wirr«, antwortete sie. »Das ist das einzige, was ich auszusetzen habe. Ich folgte der Erzählung, aber es war so vieles andere dabei. Sie ist zu wortreich. Sie belasten die Handlung mit soviel Stoff, der nicht dazu gehört.«
»Das war das Hauptmotiv«, erklärte er schnell. »Das große Motiv, das durch das Ganze laufen sollte. Ich habe versucht, es mit der Erzählung Schritt halten zu lassen, die trotz allem an der Oberfläche bleibt. Ich war auf der Spur nach dem Richtigen, aber ich habe es wohl schlecht gemacht. Es ist mir nicht geglückt, Ausdruck für das, was ich sagen wollte, zu finden. Aber mit der Zeit werde ich es wohl lernen.«
Sie konnte ihm nicht folgen. Sie hatte zwar Literatur studiert, aber hier vermochte sie ihm nicht mehr zu folgen. Sie verstand ihn nicht und schob die Schuld dieses Nichtverstehens auf seinen Mangel an Logik. »Sie gebrauchen zu viele Worte,« sagte sie, »aber stellenweise war es sehr schön.«
Er hörte ihre Stimme wie aus weiter Ferne, denn er grübelte, ob er ihr »Seelyrik« vorlesen sollte. Eine dumpfe Verzweiflung hatte sich auf ihn gelegt, während sie ihn forschend ansah und wiederum mit den ungerufenen, wilden Gedanken an eine Ehe kämpfte.
»Sie wollen berühmt werden?« fragte sie plötzlich.
»Ja, vielleicht«, gestand er. »Das gehört mit zum Abenteuer. Es ist nicht so sehr der Ruhm selbst, wie die Arbeit, bis man berühmt wird. Und schließlich wäre berühmt sein für mich nur das Mittel zum Zweck. Ich möchte gern berühmt werden, aber nur deswegen.«
»Um Ihretwillen«, hätte er gern hinzugefügt und würde es vielleicht getan haben, wenn sie über das, was er ihr vorgelesen hatte, begeisterter gewesen wäre. Aber ihre Gedanken waren zu sehr damit beschäftigt, ihm eine Zukunft zu bauen – eine Zukunft, die jedenfalls im Bereich der Möglichkeit lag –, als daß sie ihn gefragt hätte, was er mit seinem Endziel meinte. Die Literatur bot ihm keine Zukunft. Das hatte er heute mit seinen dilettantischen geschraubten Arbeiten bewiesen. Er sprach gut, war aber nicht imstande, sich in literarischer Form auszudrücken. Sie verglich ihn mit Tennyson, Browning und ihren anderen Lieblingsschriftstellern, und natürlich kam er dabei hoffnungslos zu kurz. Aber sie erzählte ihm nicht alles, was sie dachte. Ihr seltsames Gefühl für ihn ließ sie wanken. Sein Drang zu schreiben war alles in allem eine kleine Schwäche, die er mit der Zeit überwinden mußte. Dann würde er sich ernsteren Fragen des Lebens widmen. Und er würde siegen. Das wußte sie. Er war so stark, daß er nicht verlieren konnte, wenn er nur aufhörte zu schreiben.
»Ich möchte, daß Sie mir alles zeigten, was Sie schreiben, Herr Eden«, sagte sie.
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