Ganz still musst du nach deinem Geiste wandern gewaschnen Steinpfad dein Gebirg empor, entschweben auch der reinsten Hand der Andern zur Einsamkeit, der bunten Firne Flor.
Dort atmen mit der klaren Luft dies Wandern, dem diese Sterne blühen kühl hervor.
dort schweigt dein Gold verborgnen Wesens Munde dort singt das All dir jede Lebensstunde.
Todesstanze LXXXIII
Vom Schwarzweg zum Gedicht
Für Gabriela
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 Friedrich Reinhardt Verlag Basel
Projektleitung: Alfred Rüdisühli
eISBN 978-3-7245-2445-8
ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2416-8
Der Friedrich Reinhardt Verlag wird
vom Bundesamt für Kultur mit
einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020
unterstützt.
www.reinhardt.ch
Vorwort
Dichtung und Wortung «Todleben»
Prolog
Vom Kindheitsweg zum Schwarzweg des Gedichts
Gedichte
Abschied durch Todlebens Reigen
Ein Todlebenslauf
Heimkehr
Klarstellung eines Gedichts
Simone Weil
Zweiter Weltkrieg
An Heines Herzwortbronn
Mondhelle
Anfang End Todlebens
Des Seyns Geburt in grosser Stille Reigen
Flucht flutet Abschiedsgorge
Fluchtbeschieden
Kindheit todlebt in Urbilds Gluten
Was Todlebens Schrein bewahrt
Was Todlebens Tage wahren
Was Urbilds Weisheit deutet
Dein Licht über den Wassern
Wem Todleben endet
Windharfe des Leids
Zweite Seinsgeburt
Zwischen Nichts und Nichts verraben
Anfangends Todlebensfahrt
Anfang Ende junger Kraft Todleben
Anfang fragen
Dämmerlandes Morgenaug
Cuylens Sphinx
Der Sechstklasslehrer
Fluchtheimkehr
Ins Ewiglenzlos
Zum Lichtloslicht
Zwei Porträts
An Novembers Seynsabgrund
Deine Seele ist mein Dichten
Feuerrose
Ulysses
Wo Zeit Todleben stillt
Abendlied im Frühherbst
An Heideggers Grab
Aus des Menschen Geschick
Aus Menschenantlitz Frieden
Der dunklen Woge Gang
Der Liebe Gral
Todleben herbsthin
An der Kindheit Traufe
An wasserklarem Weihnachtstag
Dylan Thomas
Flucht vor der Druckerschwärze
Imre Kertész sei Dank
Innehalten
Ausflug der Taube
Liebesbrief
Liebeslied
Vergessen Herbstzeitlose
Zum Drama der Liebe
Anfangs Duichfreiheitssinnen
Der Seynswahrheit pfingstlich gewagt
In Wesensnähe
Ins Wurzellose
Die grosse See
Kriegszustände
Wenn Odysseus Heimkehr innert
Zu Flüchtlingsheeren
Zur Wahrheit des Seyns
Anfang spricht das Ende
Anfangs Grenzlosfall
Denken ist Seynsbezug
Vor dem ersten Schnee
Der künftige Denker des Seyns
Des Kindheitweges Seynssinn zugedacht
Holocaustgesang
Odysseeisches Heimkehrlied
Sonett CCCLXII
Sonett CCCLXXIII
Sonett CCCLXXXIX
Urbild
Sonett CCCLXXXVI
Sonett CDXIX
Sonett CLXLV
Sonett XXV
Todlebens Sag
Von Odysseus freiheitshin gerufen
Zur Seynswahrheit meerabgrundhin
Höllenqual
Sonett CDXXIX
Schwarzweg im Schnee
Sonett CDLIII
Sonett DCL
Sonett DCXIX
Sonett DCXL
Sonett DCXLVII
Sonett DCXLVIII
Sonett DLXIII
Sonett DLXIV
Sonett DXLVI
Sonett DXXXV
Sonett DCXXXII
Zur Mitte deines Seyns
Epilog
Von Todlebens Todesstanzen zu den Stelen
Bildnachweis
Zum Autor
Danksagung
Vorwort
Dichtung und Wortung «Todleben»
Einführung in die Lyrik von Hermann Zingg
Es ist nichts Alltägliches, wenn ein neunzigjähriger «Spätexpressionist» aus der Fülle seiner über 30 000 Sonette und anderer Gedichte eine Auswahl von 101 Werken trifft und sie zur Veröffentlichung freigibt. Staunend steht man vor der Ergebnisfülle und fragt sich, woher der Verfasser seine Fantasie und die Schöpferkraft der Umsetzung genommen hat, denn bisher war nur ein sehr enger Freundeskreis in das Geheimnis seines Schaffens eingeweiht.
Der vorliegende Lyrikband erlaubt eine Annäherung in Form einer Einführung an das Weltbild von Hermann Zingg. In seinen eigenen Worten ergründet der Dichter die existenziellen Erfahrungen, die es ihm ermöglichten, in seiner Lyrik einen ganz eigenen Weg zu beschreiten. Den Lesern tut sich kein leichter Zugang auf. Das ist nicht erstaunlich, denn Zinggs Lyrik ist nicht dialogisch angelegt, sondern entzieht sich bewusst einer hermeneutischen Entschlüsselung. Sie ist Ausdruck eines Seelenzustands, ein Ausweg aus der «Trennung vom Selbstsein». In der Lyrik überwindet er die Diskrepanz zwischen Hell und Dunkel, zwischen «schwarznichtsleerem Abgrund» und «blütenweisser Helle». Wenn die Lyrik also einerseits Ausdruck eines Seelenzustands ist, so zeigt sie andererseits auch einen Weg auf, den der Autor «Kindheitsweg» nennt, eine nie endende Reflexion der eigenen geistigseelischen Identität.
Trotz dieser Absage an mögliche Deutungsversuche reizt es den Sprachwissenschafter, an einigen ausgewählten Beispielen aufzuzeigen, wie Hermann Zingg mit dem verbalen Fundus, der ihm zur Verfügung steht, umgeht. Zu gewagten Neubildungen verbinden sich primär widersprüchliche Begriffe wie Todleben oder Duich und Komposita wie etwa Duichwesensmal. Duichhelle . Dazu zählen wir auch scheinbar bloss orthografische Neubildungen wie Seynswahrheit, seynserhellt, deines Seyns, Seynssinn, Seynswahrheitgeschick , die aber auf ältere Sprachzustände und ihren Erneuerer Martin Heidegger zurückgehen, oder Entlehnungen aus anderen Sprachregionen wie etwa das norddeutsche Tiden für die neuhochdeutschen «Gezeiten» mit der Zusammensetzung Tidentracht oder die niederländische Gracht für einen «schiffbaren Kanal» oder archaisierende Formulierungen, wo sich Seyn eräugnet . Dazu kommen neuartige Zusammenrückungen vertrauter Wörter wie Zwieaugtracht, Zwieaugwort, Seinsbruchnot, Kantfelsbrockengrund, Sternallnacht, abschiedsweglang, Blauabgrund, Schneeahnungsprozession . Tatrabön «Böen aus der Tatra».
Eine Besonderheit zeigt sich auch in den um ihre Endungen verkürzten deutschen Wörtern: Sonnkimmwald, lohgeschürte Gartenrah, duld, Kindheitsgüt, Trauf, Herzwortbronn, Sonnstrahl, den Zerrinn; jed Wiedersehn , die uns nicht selten etwas ratlos zurücklassen
Ein Teil der nicht alltäglichen Entlehnungen stammt aus dem Altgriechischen und Lateinischen, wozu wir Kairos «der rechte Augenblick», Lethe «Unterweltstrom, aus dem die Toten Vergessen trinken», Letheflut, Adyton ‚ eigentlich «das Nichtbetretbare, das Allerheiligste im Tempel», Aletheia «Aufrichtigkeit, Wahrheit», Apeiron «das Unbegrenzte, Unermessliche», oder das lateinische Adjektiv seren «heiter» zählen. Diese rücken das Werk in den Geistkreis der antiken Mythologie.
Es ist eine Sprache, die nicht Verständigung an die erste Stelle setzt und deshalb ihr Wortmaterial und auch entlegenere Wendungen von überall her entlehnt: Aus Zinggs reichem Bildungshintergrund fliessen auch Verweise auf Mörikes «Peregrina»-Lieder, Goethes «Werther» , aber auch auf die Mystiker des persischen Mittelalters Ibn Arabi oder Baha-e Walad ein.
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