Es gelang endlich, die Ohnmächtige wieder ins Leben zu rufen, und da sich auch zweckmäßige Hilfsmittel fanden, erholte sie sich in etwas, ohne jedoch zum klaren Verstande zu kommen. Doch konnte keine Rede davon sein, sie noch heute nach Hause zu bringen, obgleich ein schnell herbeigekommener Arzt die Sache nicht für gefährlich erklärte und Ruhe und Schlaf als die sicherste Hilfe zur gänzlichen Erholung bezeichnete.
Heinrich machte sich auf den Weg nach der Stadt, um Agnesens Mutter zu benachrichtigen. Die Fahrstraße war bedeckt mit Wagen, die, mit Tannenreis geschmückt, die heimkehrenden Masken trugen, und dazwischen von vielen Fußgängern. Um schneller vorwärts zu gelangen und ungestörter zu sein, schlug Heinrich einen Fußpfad ein, welcher im lichten Walde sich hinzog zur Seite der Straße. Als er einige Zeit gegangen, holte er Ferdinand ein, dessen weiter seidener Mantel sowie der Saum des batistenen langen Rockes sich unablässig in den Sträuchern und Dornen verwickelten und zerrissen und so sein Fortkommen erschwerten. Fluchend schlug er sich mit dem Gestrüpp herum, als Heinrich zu ihm stieß.
Sobald sie sich erkannten, erzählte Heinrich das Vorgefallene, und in einem Tone, welcher deutlich verriet, wo der Erzähler hinauswollte. Ferdinand, welcher ein ausdauernder Trinker war, aber alle eigentliche Betrunkenheit schon an Männern verabscheute, empfand einen tiefen Verdruß und suchte überdies mit der Äußerung desselben den weiteren Auslassungen Heinrichs zuvorzukommen.
»Das ist eine schöne Geschichte!« rief er, »ist das nun deine größte Heldentat? Ein unerfahrenes Mädchen berauscht zu machen? Wahrhaftig, ich habe das arme Kind guten Händen übergeben!«
»Übergeben! Verlassen, verraten willst du sagen!« rief Heinrich und übergoß nun seinen Freund mit einer Flut der bittersten Vorwürfe.
»Ist es denn so schwer«, schloß er, »seinen Neigungen einen festen Halt zu geben und gerade dadurch die Gesamtheit der Weiber recht zu lieben und zu ehren, daß man einer treu ist? Denn es ist ja doch eine wie die andere, und in der einen hat man alle!«
Ferdinand hatte sich indessen aus den Dornen losgewickelt; er sah nun aus wie ein zerzauster und gerupfter Vogel. Da er sah, daß er Heinrich nicht einschüchtern konnte, ergab er sich und sagte ruhig, indem sie weitergingen: »Laß mich zufrieden, du verstehst das nicht!«
Heinrich brauste auf und rief: »Lange genug habe ich mir eingebildet, daß in deiner Sinnes- und Handlungsweise etwas liege, was ich mit meiner Erfahrung nicht übersehen und beurteilen könne! Jetzt aber sehe ich nur zu deutlich, daß es die trivialste und nüchternste Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit ist, welche dich treibt, so leicht erkennbar als verabscheuenswert. Oh, wenn du wüßtest, wie tief dich diese Art entstellt und befleckt und allen denen weh tut, welche dich kennen und achten, du würdest aus eben dieser Selbstsucht heraus dich ändern und diesen häßlichen Makel von dir tun!«
»Ich sage noch einmal«, erwiderte Lys, »du verstehst das nicht! Und das ist deine beste Entschuldigung in meinen Auge für deine unziemlichen Reden! Nun, du Tugendheld! Ich will dich nicht an deine Jugendgeschichte erinnern, die du so artig aufgeschrieben hast, erstens um dein Vertrauen nicht zu mißbrauchen, und zweitens, weil dir nach meiner Ansicht aus derselben wirklich nichts vorzuwerfen ist. Denn du hast getan, was du nicht lassen konntest, du tust es jetzt, und du wirst es tun, solange du lebst –«
»Halt«, sagte Heinrich, »ich hoffe wenigstens, daß ich immer weniger das tue, was ich lassen kann, und daß ich zu jeder Zeit etwas lassen kann, das schlecht und verwerflich ist, sobald ich es nur erkenne!«
»Du wirst zu jeder Zeit«, erwiderte Ferdinand kaltblütig, »das lassen, was dir nicht angenehm ist!«
Heinrich wollte ihn ungeduldig nochmals unterbrechen, allein Lys übersprach ihn und fuhr fort: »Angenehm oder unangenehm aber ist nicht nur alles Sinnliche, sondern auch die moralischen Hirngespinste sind es. So bist du jetzt sinnlich verliebt in das eigentümliche Mädchen, dessen absonderliche Gestalt und Art die äußersten Sinne reizt, wie ich nun an mir einsehe; dies ist dir angenehm; aber weil du wohl merkst, daß du dabei kein rechtes Herz hast, nicht in deinem eigentlichen Sinne liebst, so verbindest du mit jenem Reiz noch die moralische Annehmlichkeit, dich für das schmale Wesen ins Zeug zu werfen und den uneigennützigen Beschützer zu machen. Wisse aber, wenn du einen Funken eigentlicher Leidenschaft verspürtest, so würdest und müßtest du allein darnach trachten, deinen Schützling meinem Bereiche ganz zu entziehen und dir anzueignen. Du hast aber die wahre Leidenschaft noch nie gekannt, weder in meinem noch in deinem Sinne. Was du als halbes Kind erlebt, war das bloße Erwachen deines Bewußtseins, das sich auf sehr normale Weise sogleich in zwei Teile spaltete und an die ersten zufälligen Gegenstände haftete, die dir entgegentraten. Die sinnliche Hälfte an das reife kräftige Weib, die zartere geistige an das junge transparente Mädchen, das du an jenes verraten hast. Dies würdest du, trotz deiner selbst, nie getan haben, wenn eine wirkliche ganze Liebe in dir gewesen wäre! Wisse ferner, was mich betrifft jeder ganze Mann muß jedes annehmliche Weib sogleich lieben, sei es für kürzer, länger oder immer, der Unterschied der Dauer liegt bloß in den äußeren Umständen. Das Auge ist der Urheber, der Vermittler und der Erhalter oder Vernichter der Liebe; ich kann mir vornehmen, treu zu sein, aber das Auge nimmt sich nichts vor, das gehorcht und fügt sich der Kette der ewigen Naturgesetze. Luther hat nur als Normalmann, nicht als einer von denen gesprochen, welche Religionen stiften oder säubern und die Welt verändern, wenn er sagte, er könne kein Weib ansehen, ohne ihrer zu begehren! Erst durch ein Weib, welches durch spezifisches Wesen, durch Reinheit von allem eigensinnigen, kränklichen und absonderlichen Beiwerke eine Darstellung einer ganzen Welt von Weibern ist, durch ein Weib von so unverwüstlicher Gesundheit, Heiterkeit, Güte und Klugheit wie diese Rosalie – kann ein kluger Mann für immer gefesselt werden. Wie beschämt sehe ich nun ein, welche vergängliche Spezialität, welch phänomenartiges Wesen ich in dieser Agnes mir zu verbinden im Begriffe war! Du aber schäme dich ebenfalls, als solch ein zierlich entworfenes, aber noch leeres Schema in der Welt umherzulaufen wie ein Schatten ohne Körper! Suche, daß du endlich einen Inhalt, eine solide Füllung bekommst, anstatt anderen mit deinem Wortgeklingel beschwerlich zu fallen!«
Vielfach beleidigt schwieg Heinrich eine Weile; er war tief gereizt, und es kochte und gärte gewaltig in ihm; denn er war in seinem besten Bewußtsein angegriffen und fühlte sich um so verletzter und verwirrter, als in Ferdinands Worten etwas lag, das er im Augenblick nicht zu erwidern wußte. Der genossene Wein und die nun schon vierundzwanzigstündige ununterbrochene Aufregung taten auch das Ihrige, seine Lust, die Sache vollends auszufechten, zu entflammen, und er begann daher wieder mit entschiedener Stimme: »Nach deiner vorhinnigen Äußerung zu urteilen, bist du also nicht sehr willens, dem Mädchen die Hoffnungen, die du ihr leichtsinnigerweise angeregt, zu erfüllen?«
»Ich habe keine Hoffnungen angeregt«, sagte Lys, »ich bin frei und meines Willens Herr, gegen ein Weib sowohl wie gegen alle Welt! Übrigens werde ich für das gute Kind tun, was ich kann, und ihr ein wahrer und uneigennütziger Freund sein, ohne Ziererei und ohne Phrasen! Und zum letztenmal gesagt Kümmere dich nicht um meine Liebschaften, ich weise es durchaus ab!«
»Ich werde mich aber darum kümmern«, rief Heinrich, »entweder sollst du einmal Treue und Ehre halten, oder ich will es dir in die Seele hinein beweisen, daß du unrecht tust! Das kommt aber nur von dem trivialen trostlosen Atheismus! Wo kein Gott ist, da ist kein Salz und kein Schmalz, nichts als haltloses Zeug!«
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