von Fritz B. Simon
Lassen wir die Frage, ob die Charakterisierung des Staats als Organisation passend ist, mal beiseite (es gibt ja die These, »Staat« sei die Selbstbeschreibung des politischen Systems – was mir ziemlich plausibel erscheint), und schauen wir auf die empirischen Daten von Steffen Roth, auf die er verweist, wenn er die vielen Wirtschaftsministerien ins Feld führt.
Ich finde es gut, hier auf die empirischen Daten zu schauen, aber – und das scheint mir der Knackpunkt – ich würde sie genau umgekehrt interpretieren: Die Tatsache, dass wir so viele Wirtschaftsministerien haben, ist Beleg dafür, dass die Wirtschaft inzwischen die Politik übernommen hat. Denn all diese Ministerien verstehen sich – zumindest ist das die Folgerung, wenn man ihre Politik analysiert – als Lobbyisten für Wirtschaftsinteressen. Am deutlichsten ist dies beim Landwirtschaftsministerium, das sich dem Schutz der heimischen Bauern verschrieben hat, aber auch das Außenministerium fungiert oft genug als Handelsvertreter, wenn DAX-Vorstände mit dem Außenminister in die weite Welt fahren. Dass zunehmend Vertreter von Wirtschaftsverbänden als Leiharbeiter in Ministerien Gesetzentwürfe formulieren, ist nur das Tüpfelchen auf dem i. Und dass nach einem höheren Posten in der Politik der nächste Karriereschritt ein Führungsposten in der Wirtschaft ist, folgt derselben Logik.
Dass der Staat die Autonomie fast aller Funktionssysteme nicht respektiert und sie irritiert, gehört meines Erachtens zu seinen Aufgaben: Er bezahlt Lehrer und Wissenschaftler, Richter und Polizisten, Krankenhausärzte und Gesundheitsämter, Theater- und Museumsdirektoren, ja, sogar die Finanzierung der Kirchen sichert er.
Die Frage, ob er sich in all diesen Bereichen engagieren sollte, ist berechtigt.
Die Antwort muss meiner Meinung nach lauten: Nur, wenn es wirklich um politische Fragen geht, das heißt, wenn es um kollektiv bindende Entscheidungen und ihre Durchsetzung (wie ich der üblichen Definition gern hinzufügen würde) geht. Daher lässt sich die Frage auch verkürzen: Wozu brauchen wir den Staat und seine Institutionen? Die Antwort kann sowohl die Ausdehnung als auch die Begrenzung oder auch die Neudefinition und Neuordnung von Funktionen nahelegen.
Eine politische Frage, die politisch zu beantworten ist, d. h. durch öffentliche Auseinandersetzung, an deren Ende kollektiv bindende Entscheidungen und ihre Durchsetzung stehen.
Wozu staatliche Wirtschaftsbesessenheit?
von Steffen Roth
Die Selbstbeschreibung des politischen Systems als Staat hat bekanntlich kaum Vergangenheit und wenig Zukunftsaussichten. Zum einen kennt unsere Weltgesellschaft Weltpolitik nur ohne Weltstaat. Zum anderen haben Funktionssysteme keine Adressen. Das Recht kann nicht klagen und die Wirtschaft nimmt keine Schecks an. Ein Staat aber kann Schulden machen oder zur Rechenschaft gezogen werden, und wo Staat nicht Person war, ist das ein Hinweis auf Organisation.
Wenn sich die Exekutive eines Staates nun dem Stalking einzelner Funktionssysteme verschreibt, dann kann man mit Fritz Simon die Spießrute auch umdrehen und die Verantwortung dem Opfer zuschreiben: Das aufreizende Verhalten der wirtschaftlichen Interessenvertreter lässt dem Staat keine Wahl. Er muss einfach immer wieder intervenieren. Auch in diesem Fall bleibt die Diagnose der politischen Überbeobachtung von Wirtschaft aber bestehen, und es liegt nahe, eine Therapie in weniger staatlicher Beobachtung von wirtschaftlichen Interessen zu sehen.
Insofern ist es eben doch mehr überliefertes Problem als innovative Lösung, wenn der Staat seine Marktmacht ausspielt, um neben Soldaten und Polizisten auch Lehrer, Wissenschaftler, Richter, Priester und Theaterdirektoren mit Geld politisch auf Kurs zu bringen. Diese selbstverständlich legale Form der Korruption gelingt mehr schlecht als recht, was konsequent ist, hat sie doch mit der Kernfunktion des Staates kaum etwas zu tun. Aus dem verfassten Recht zur Gewaltmonopolisierung, -teilung und -kontrolle folgt jedenfalls kein Vorrang von politischen vor religiösen, wissenschaftlichen, ästhetischen und nicht zuletzt eben wieder rechtlichen Vorstellungen von Gesellschaft.
Wenn der Staat tatsächlich an Wirtschaftsbesessenheit leidet, dann lässt sich das nicht mit der nächsten eigentumsrechtlichen Gesprächstherapie entlang der Leitunterscheidung Privatisierung versus Verstaatlichung kurieren. Denn auch in diesem rechtlich demarkierten Feld spielt man letztlich wieder nur Wirtschaft und Politik oder gleich den Klassiker Wirtschaft und Gesellschaft.
Wenn sich der Staat aber als zumindest vorrangig politische Organisation definiert, dann kann er mit Blick auf seine eigene Wirtschaftsmanie auch zum Schluss kommen, dass ihm Geld und mithin Wirtschaft nur ein Mittel zum Zweck ist, und sich nach Alternativen umsehen. So könnte er sich ganz entspannt darauf besinnen, dass es sich wie einst ganz gut mit Religion regieren ließe oder in einer nicht ganz fernen Zukunft auch schwerpunktmäßig mit Gesundheit. Ein Schuft, wer Arges dabei denkt.
Wer sich dennoch unbehaglich fühlt bei dem Gedanken an Zustände, die Heiko Kleve unlängst provokativ als Gesundheitsdiktatur bezeichnet hat, der bewertet die Autonomie und Sperrigkeit, die sich die Wirtschaft in der jahrhundertelangen Auseinandersetzung mit der Politik erhalten hat, sicher neu. Eine Politik und eine politische Theorie, die die Politisierung nicht nur der Wirtschaft, sondern auch aller anderen Funktionssysteme thematisiert und relativiert, ist demnach das Gebot auch dieser Stunde.
»Pakt für Nachhaltigkeit«: Grüne fordern Milliarden für die Wirtschaft
ntv, 2. Mai 2020
BDI: Wirtschaftsverbände fordern Ende der Corona-Beschränkungen
ZEIT ONLINE, 2. Mai 2020
Wirtschaft fordert einen klaren Exit-Fahrplan von der Regierung
Handelsblatt, 4. Mai 2020
As Trump Pushes to Reopen, Government Sees Virus Toll Nearly Doubling
New York Times, 5. Mai 2020
Hope and Worry Mingle as Countries Relax Coronavirus Lockdowns
New York Times, 5. Mai 2020
4Vom Für und Wider der Politisierung bzw. Ökonomisierung zur Staatskritik
von Heiko Kleve
5. Mai 2020
Beide Kontrahenten, Fritz B. Simon und Steffen Roth, haben sich in ihren Positionen ausdifferenziert. Sie kommen nicht zusammen, sie bleiben ihren Perspektiven treu. Leider haben sie bisher meine angemahnte Konkretisierungsforderung nicht aufgegriffen, wie denn nun etwa Organisationen, die selbst nicht der klassischen Realwirtschaft zugeordnet werden können, finanziert werden sollten. Vielleicht können wir im weiteren Diskurs dazu Beispiele sammeln, um von der gesellschaftstheoretischen auf die alltagspraktische Ebene überzuwechseln.
Zunächst bleibt festzuhalten: Während Simon die Politik als Schiedsrichter im gesellschaftlichen Spiel der Funktionssysteme versteht, kontert Roth, dass diese Systeme keinem gemeinsamen Spiel folgen, sondern ihren je eigenen Regeln gehorchen. Daher kann es keine politische Metastrategie geben, die interesselos, neutral oder allparteilich im »Kampf« der Partialinteressen für Ausgleich sorgt. Denn der Staat als »Selbstbeschreibung der Politik« oder als politische Organisation ist selbst interessengeladen unterwegs. Es geht ihm um Macht, um die Monopolisierung der Gewalt, um die Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen sowie um die Sanktion derjenigen, die diese nicht anerkennen.
Genau an dieser Stelle laden wir einen Protagonisten ein, der mit seinem Zwischenruf die interessengeladene Perspektive des Staates noch deutlicher markiert: Dr. Stefan Blankertz. Mit ihm greift ein Sozialwissenschaftler, Philosoph und Romancier in den Diskurs ein, dessen Perspektive als libertär bezeichnet werden kann. Der Libertarismus könnte wohl als eine Form der Dekonstruktion des Staates und seiner Legitimationsideologien bewertet werden. So erscheint es passend, dass Stefan Blankertz Gründer und Betreiber des Murray-Rothbard-Instituts für Ideologiekritik ist.
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