Aus meiner Sicht gibt es unter den gesellschaftlichen Funktionssystemen nur zwei, deren Machtanspruch generalisiert ist und deren Formen der Machtausübung niemand entgeht.
1.Der Staat nutzt – und verteidigt – sein Gewaltmonopol als Machtmittel. Physischer Gewalt – vom Freiheitsentzug bis zur Todesstrafe – kann sich niemand entziehen (auch nicht die Akteure des Wirtschaftssystems). Diese Form der Macht wird durch das Rechtssystem eingegrenzt und zivilisiert.
2.Dem gegenüber steht die Wirtschaft bzw. der Markt. Hier werden Ressourcen, die zum Überleben eines jeden Akteurs nötig sind, verteilt. Die Verfügungsgewalt über knappe Ressourcen, die Nicht-Austauschbarkeit spezifischer Kompetenzen etc. bestimmen, wer sich wem anpasst bzw. wer die Preise für was definiert, das heißt, wer die Macht hat. Die Eigenlogik von Kommunikationsprozessen führt dazu, dass auf Märkten das »Matthäus-Prinzip« wirksam wird. Robert Merton hat es analog für die Wissenschaften beschrieben (wer viel zitiert wird, wird noch mehr zitiert, wer wenig zitiert wird, wird irgendwann gar nicht mehr zitiert). Unterschiede werden verstärkt: Starke werden stärker, Schwache werden schwächer. Ein nur wenig innovationsförderndes Prinzip. Doch die Macht von Märkten wird ebenfalls durch das Rechtssystem eingegrenzt und zivilisiert.
Den Entscheidungen des Staates kann man genauso wenig ausweichen wie der Eigendynamik von Märkten. Theoretisch gesprochen, bilden politisches und wirtschaftliches System füreinander relevante Umwelten, die bzw. deren Funktion nicht ohne Weiteres weggedacht werden können (»Auch die Alpen sind nichts Besonderes, wenn man sich die Berge wegdenkt«).
Jetzt, in der Corona-Krise, hat der Staat ganz klar die Führung übernommen. Er bzw. die für ihn stehenden Politiker stecken im Konflikt zwischen den Ansprüchen des Gesundheitssystems und denen der Wirtschaft. Sie sind mit einer pragmatischen Paradoxie konfrontiert: Die für das eine System »richtige« Entscheidung ist die für das andere System »falsche«.
Aber das ist meines Erachtens genau die Funktion des Staates: sich dem paradoxen Gerangel der Interessengruppen zu stellen und – immer wieder aufs Neue – mal zugunsten der einen, mal zugunsten der anderen Seite zu entscheiden. Die Intelligenz staatlicher Entscheidungen resultiert daraus, die Unentscheidbarkeit, wessen Interessen und Ziele für die Gesellschaft wichtiger sind, aufrechtzuerhalten.
Protektionistische Gewaltfantasien und soziale Autoimmunerkrankungen
von Steffen Roth
Macht, Gerangel und Ressourcen. Die Sprache bleibt politökonomisch, selbst wenn es uns zunehmend auch um Gesundheit, Recht oder Wissenschaft zu gehen scheint.
Nun kann man sich den Staat gut als strategischen Dreh- und Angelpunkt eines interessengeleiteten Wettbewerbs um öffentliche Mittel vorstellen. Soweit man bei diesen Mitteln aber an Geld denkt, beobachtet man eben nicht Staatspolitik, sondern Staatswirtschaft, was einmal mehr zeigt, dass es sich beim Staat nicht um die Politik handelt, sondern um eine Organisation. Dass es sich auch beim Staat nur um eine organisierte Interessengruppe unter vielen handelt, wird dann besonders deutlich, wenn er seinerseits in Konkurrenz tritt, etwa um Auslandsdirektinvestitionen. Im Kontext solcher Standortwettbewerbe entdecken Staaten regelmäßig ihre eigene Machtlosigkeit und überkompensieren den narzisstischen Schock mit autoritären und protektionistischen Gewaltfantasien. Der gefesselte Nationalstaat sieht in der entfesselten Weltwirtschaft den Grund für seine unwürdige Situation. Globalisierung wird zum Menetekel. Mit der aktuellen Corona-Krise steht die ideologische Psychohygiene wieder auf einem volksgesundheitlichen Fundament.
So enorm die Gravitationskräfte von Politik und Wirtschaft nach wie vor sein mögen, so sehr zeigt die aktuelle Krise auch, dass unsere vornehmlich politische und wirtschaftliche Beobachtungsneigung und die korrespondierende Blindheit für andere, angeblich weniger systemrelevante Funktionssysteme keine Notwendigkeit, sondern ein Problem darstellt. Damit ist nicht nur die Überbeobachtung der üblicherweise verdächtigen Funktionssysteme angesprochen, sondern auch der Hang, die Welt schwerpunktmäßig mit deren Augen zu sehen. So kommt es zu folgenschweren Verwechslungen, wie etwa im Fall der WHO, die Gesundheit als »a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity« definiert. Der politische Blick hat Gesundheit kurzerhand in Wohlergehen und somit in einen allumfassenden wohlfahrtsstaatlichen Einflussbereich verwandelt.
Indem wir uns Runde um Runde um Staat und Markt drehen, reproduzieren wir Probleme, die wir auch reflektieren könnten. Daher mein Vorschlag, in Zukunft verstärkt die nicht-politischen und nichtökonomischen Augenmuskeln zu trainieren.
Gesundheit drängt sich da auf. Zum einen, weil wir hier aktuell den Ausgangspunkt der größten Krise der letzten Jahrzehnte vermuten. Zum anderen, weil in diesem System auch ein enormes Reservoir an Problemlösekompetenzen zu finden ist. Dabei ist neben lebenswissenschaftlicher Expertise auch an unser Wissen zur Therapie und Beratung von psychischen und sozialen Systemen zu denken.
In diesem Sinne erscheint die aktuelle Krise als Bewährungsprobe nicht nur für Virologie und Epidemiologie, sondern auch und gerade für Geistes- und Sozialwissenschaften. Diese wissen um die kommunikative Konstruktion auch der Naturwissenschaften und lassen sich nicht auf die hilfswissenschaftliche Krisenreservebank schieben, sondern bringen ihr Wissen um kommunikative Pfadabhängigkeiten und »soziale Autoimmunerkrankungen« in Stellung.
Im Geheimen geht das Sexgeschäft weiter
Spiegel, 7. Mai 2020
Labor Deutschland. In der nächsten Phase der Krise könnte der Föderalismus nützlich sein. Oder besonders gefährlich
Die Zeit, 7. Mai 2020
For Workers, No Sign of »What Normal Is Going to Look Like«
New York Times, 8. Mai 2020
Coronahilfe aus dem ESM: Eurogruppe will Rettungsschirm rasch »scharf schalten«
FAZ, 8. Mai 2020
Spahn: Deutsches Gesundheitswesen hat Bewährungsprobe bestanden
Ärzte Zeitung, 8. Mai 2020
von Heiko Kleve
8. Mai 2020
Ich möchte den Vorschlag von Steffen Roth aufgreifen, dass wir uns aus der Fixierung unserer bisherigen Blicke auf Politik bzw. Staat und Wirtschaft lösen. Denn das Verhältnis dieser beiden Systeme lässt sich in einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht passend beschreiben und erklären, wenn wir nicht zugleich konstatieren, dass es weitere Funktionssysteme mit ganz eigenen Beobachtungsperspektiven gibt. Diese Systeme werden möglicherweise nicht nur von uns, sondern im ganzen polit-ökonomisch überfrachteten medialen Diskurs übersehen und in ihren Eigenlogiken offenbar auch nicht verstanden.
Könnte es also sein, dass selbst das Gesundheitssystem und sogar das Wissenschaftssystem – zwei Systeme, die uns ja gerade täglich medial vorgeführt werden – von politischen und/oder wirtschaftlichen Perspektiven dominiert werden? Wäre es also denkbar, dass die aktuelle Krise noch mit überkommenen Problemlösungsstrategien bewältigt werden soll, also entweder mit Politik oder Wirtschaft, obwohl der Gesellschaft bereits viel mehr und weitaus differenziertere Möglichkeiten der Krisenbearbeitung zur Verfügung stehen? Wenn ja, welche Möglichkeiten wären das? Welche Rollen würden die unterschiedlichen Funktionssysteme hier spielen?
Um Antworten auf diese Fragen näherzukommen, möchte ich sowohl Fritz Simon als auch Steffen Roth zunächst bitten, ihr Bild der funktional differenzierten Gesellschaft knapp zu skizzieren. Um welche Funktionssysteme geht es hier? Was sind deren Aufgaben? Wie erkennen wir deren Wirken in der aktuellen Krise? Und wäre nicht sogar die Forderung plausibel, dass wir mehr funktionale Abgrenzung, mehr Differenz der Systeme voneinander benötigen als das, was wir in der Anfangsphase der Pandemie erlebt haben, das mediale Einschwingen auf den einen Konsens?
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