2Die Welt läuft weiter, vielleicht schneller als je zuvor
von Heiko Kleve
26. April 2020
Die Welt steht nicht still. Auch wenn wir alle derzeit unsere physische Mobilität reduzieren müssen, ist von sozialer Distanzierung nichts zu merken. Die Kommunikation, also die soziale Grundoperation der Gesellschaft, läuft auf Hochtouren. Da sind sich beide Diskutanten einig. Der Dissens besteht in der Frage, welches gesellschaftliche Funktionssystem seine Kommunikationen dominant setzt. Derzeit ist es die Politik mit dem Gesundheitssystem im Rücken, das die Frage nach »gesund oder krank« auf die Fundamentaldifferenz von »Leben oder Tod« zuspitzt und damit den politischen Akteuren auf den Leim geht. Aber wie war es vorher: in der Prä-Corona-Zeit? Fritz Simon diagnostiziert, dass das Wirtschaftssystem seine Unterscheidungen der Gesellschaft übergestülpt hat; er sieht eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Steffen Roth widerspricht: Wir lebten und leben in politischen Zeiten, in denen alle Lebensbereiche mit staatlichen Interventionen rechnen müssen. Beide frage ich nun, wie sich die jeweiligen Behauptungen empirisch unterfüttern lassen. Woran erkennen wir die wirtschaftliche bzw. die politische Dominanz? Ich bitte also um Beispiele.
Selbstkastration des Staates
von Fritz B. Simon
Um herauszufinden, dass Religion als Funktionssystem an Bedeutung verliert, braucht man wahrscheinlich keine Big-Data-Forschung, sondern es reicht der sonntägliche Kirchgang … Offenbar kommt die Gesellschaft ohne Religion ganz gut zurecht (ohne Kunst auch, wie das gegenwärtige Corona-Großexperiment nahelegt). Anders steht es mit den anderen Funktionssystemen. Weder Politik noch Wirtschaft sind verzichtbar – und Ähnliches gilt in der westlichen Gegenwartsgesellschaft für Rechtssystem, Erziehung, Wissenschaft und Gesundheitssystem. Die Frage ist nicht, wessen System-Hybris berechtigt ist, sondern wie die Gesellschaft die Paradoxien bewältigt, die daraus resultieren, widerstreitenden, sich logisch gegenseitig negierenden Zielen und Interessen gleichzeitig gerecht werden zu müssen. Es geht also um das Verhältnis der Funktionssysteme zueinander – und zwar nicht auf einer abstrakten theoretischen Ebene, sondern pragmatisch, d. h. bei der Setzung von Prämissen der Entscheidung bzw. dem konkreten Entscheiden.
Sprechen wir also nicht vom politischen System und der Wirtschaft im Allgemeinen, sondern vom Staat und der Logik seiner Entscheidungen und von der Wirtschaft, insbesondere Märkten, und ihren Entscheidungsprämissen. Mein Vorwurf an den Staat ist, dass er sich selbst kastriert hat, indem er, statt sich der Auseinandersetzung um die Ziele der Politik und die daraus abzuleitenden Entscheidungsprämissen zu stellen, bestimmte Entscheidungen an Märkte delegiert hat und sie damit deren Entscheidungslogik unterworfen hat.
Um die von Heiko Kleve geforderten konkreten Beispiele zu nennen: Städtische Wohnungen sind an Investoren verramscht worden; kommunale Wasser- und Elektrizitätswerke sind an Großkonzerne verkauft worden; die Deutsche Bahn hat ihr Streckennetz reduziert, um den Erwartungen des Kapitalmarkts gerecht zu werden; Krankenhäuser (vor allem private) müssen Profite erwirtschaften (was u. a. in Einzugsgebieten mit einer wohlhabenderen Klientel zu überdurchschnittlich vielen Blinddarm-Operationen führt).
Die Annahme, Märkte brächten rationalere Lösungen als politische Prozesse hervor, ist nur dann richtig, wenn Rationalität allein als ökonomische Rationalität zu verstehen wäre. Aber die anderen Funktionssysteme und ihre Akteure müssen ihren eigenen Rationalitäten folgen (auch wenn sie dazu Geld brauchen).
Selbstorganisation des Staates
von Steffen Roth
Nennen wir das Kind also beim Namen: Der Staat ist nicht »die Politik«, sondern eine Organisation, und die ist beileibe nicht nur politisch. Staaten investieren, forschen, erziehen oder setzten Hygienemaßnahmen um. Und doch bleibt es die bevorzugte »Selbstverstümmelungsstrategie« dieses Organisationstyps, sich erst mit einer politisch gedachten Gesellschaft zu verwechseln und dann wie besessen »Wirtschaft und Gesellschaft« zu spielen.
Wissenschaft hat daran unrühmlich Anteil, wenn sie auf Autorität und Sonntagsevidenz setzt statt auf Theorie und Methode. Wer ohne aufwendige Wahrheitsprogrammarbeit immer schon weiß, welche Funktionssysteme kriegswichtig sind oder nicht, der sieht die Welt dann zumeist wie die durchschnittliche Nationalregierung, die je ein Drittel ihrer Aufmerksamkeit auf Politik und Wirtschaft verwendet – die restlichen Funktionssysteme kommen unter ferner liefen. Weltweite Empirie gibt es hier. 4Man braucht sich aber auch nur das Kabinettportfolio der Deutschen Bundesregierung vor Augen halten, wo mindestens vier Wirtschaftsministerien (Finanzen, Wirtschaft, Landwirtschaft und Wirtschaftliche Zusammenarbeit) einem für Gesundheit und einem für Wissenschaft und Erziehung gegenüberstehen. Diesen polit-ökonomischen Überhang haben demokratische mit diktatorischen Regierungen gemein.
Nun steht es jedem organisierten Beobachter frei, markante Funktionssystempräferenzen auszubilden und so lange aufrechtzuerhalten, bis es nicht mehr geht. Das aktuelle Stichwort lautet Gesundheit.
Wenn die Entscheidungsprämissen von Staat und Regierung dieser Tage wieder auf dem Prüfstand stehen, dann kann die funktionale Konsistenzprüfung auch jenseits des altvertrauten Grabenkrieges von Staat und Markt vollzogen werden. Wenn Wohlfahrt einschließlich Gesundheit auf Wohlstand und dieser wiederum auf Innovation basiert, dann können sich die Wohlfahrtsstaaten des 21. Jahrhunderts die systematische Geringschätzung der Eigenlogiken von Wirtschaft, Wissenschaft und, ja, auch Kunst nicht mehr lange leisten. Insofern ist politische Zurückhaltung auch auf Staatsebene keine marktliberale Luxusflause, sondern eine wohlfahrtspolitische Notwendigkeit.
Allensbach-Chefin: »Das Misstrauen der Politik gegenüber der Bevölkerung ist bemerkenswert«
Handelsblatt, 27. April 2020
Ein anderes Virus. Zweifel am Kurs der Politik müssen sein – aber der zunehmend giftige Ton der Debatte wird der Lage nicht gerecht
Die Zeit, 29. April 2020
Despite Trump’s Nudging, Schools Are Likely to Stay Shut for Months
New York Times, 29. April 2020
Lufthansa reduziert Arbeitszeit und Kapazität weiter
FAZ, 29. April 2020
Systemrelevante Berufe: Klatschen ist gut, ordentlich bezahlen ist besser
Frankfurter Rundschau, 29. April 2020
Corona-Lockerungen: Geld oder Leben, was wiegt mehr?
Rheinpfalz, 29. April 2020
3Organisation gesellschaftlicher Aufgaben
von Heiko Kleve
29. April 2020
Nun sind Fritz Simon und Steffen Roth von der Ebene der gesellschaftlichen Funktionssysteme Politik und Wirtschaft auf die Ebene der Organisationen gesprungen. Fritz Simon hat Beispiele angeführt, mit denen er deutlich macht, wie er seine Kritik am »Marktfundamentalismus« meint, nämlich als Kritik an der Privatisierung von kommunalen, sozialen oder gesundheitsbezogenen Aufgaben. Entsprechend der kritisierten Privatisierungslogik sollen nicht nur klassische Unternehmen der sogenannten Realwirtschaft dem Marktwettbewerb folgen, sondern z. B. auch Krankenhäuser. Wir könnten in Ländern, die die Krankenversorgung in dieser Weise massiv privatisiert haben, sehen, dass damit besondere Probleme in der Patientenbehandlung einhergehen. Aber stimmt das? Italien, das bekanntlich große Schwierigkeiten hatte, die Corona-Krise zu bewältigen, hat gewissermaßen ein sozialistisches Gesundheitssystem, jedenfalls eine Finanzierung des Systems, wie es sie auch in der realsozialistischen DDR gegeben hat: »Italien verfügt über ein staatliches mit Steuern finanziertes Gesundheitswesen. Die einzelnen Leistungen werden vom nationalen Gesundheitsdienst (SSN, Servizio Sanitario Nazionale ) zur Verfügung gestellt. Ziel ist es, allen Bürger*innen unabhängig vom Einkommen und sozialem Stand eine einheitliche medizinische Grundversorgung mit Hilfe der italienischen Krankenversicherung zu ermöglichen.« 5Im Gegensatz dazu hat Singapur, der Stadtstaat, der die Corona-Krise offenbar vorbildlich und mit einer abgewogenen Verhältnismäßigkeit der Mittel bewältigt, ein fast gänzlich privates Gesundheitswesen. Steffen Roth betont, dass auch der Staat eine Organisation sei, in der die unterschiedlichen Logiken der gesellschaftlichen Systeme wie Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft oder Kunst zirkulieren, sich gegenseitig tangieren und als Kontextfaktoren aufeinander Bezug nehmen. Die Frage scheint doch zu sein, wie Organisationen auch jenseits der Realwirtschaft ihre Entscheidungsprämissen verstehen und strukturieren. Wie sollten also beispielsweise Krankenhäuser finanziert werden? Welche Rolle müsste hier die Wirtschaft spielen? Wie ist bestenfalls der Staat eingebunden?
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