Friedrich entfernt sich. Der Soldat läuft ihm nach, den schlenkernden Sack in der Hand. »Halt!« ruft er. Und als Friedrich stehnbleibt: »Gib mir doch die Uhr wieder!« Er nimmt sie mit einer zitternden Hand entgegen. Offiziere kamen vom Frühstück, mit klirrenden Sporen, gegürteter Taille, mit der kriegerischen Eleganz, die aus dem Offizier ein Muster der Männlichkeit macht und ihm zugleich eine Ähnlichkeit mit weiblichen Mannequins verleiht. Sie wiegten sich in den Hüften, an denen die Pistolen wie Schmuckstücke in Etuis hingen. Die Soldaten in den Straßen grüßten. Und die Offiziere erwiderten lustig und leger. Wie sie so dahingingen, zwischen grüßender Ehrfurcht, stummer Dienstbereitschaft, verliebter Ergebenheit, erinnerten sie an gefeierte Damen der Gesellschaft, die durch einen Ballsaal schreiten.
Sanitätswagen kamen, aus denen man Verwundete mit weißen Verbänden herauszog wie Gipsfiguren aus Schubladen; ein sterbendes Pferd lag in der Straßenmitte, um das sich niemand kümmerte, ein Offizier ritt vorbei. Er ragte bis an den Rand der Häuser und schien wie ein blauer Gott die Welt zu visitieren.
Sie reisten noch an diesem Tag nach Rumänien. Berzejew fuhr weiter über Griechenland und Italien nach der Schweiz, Friedrich über Ungarn nach Wien. Sie sollten sich in Zürich treffen. Sie fuhren mit Rote-Kreuz-Binden und mit Legitimationen aus Kapturaks Fabrik als Mitglieder einer Schweizer Krankenkommission.
Inhaltsverzeichnis
In Rumänien trennte sich Friedrich von seinem Freund. Es war mir damals, als ich erfuhr, daß er nach Wien ging, unerklärlich, weshalb er nicht mit Berzejew zusammen den Umweg über Italien nach der Schweiz gemacht hatte. Und noch als ich im Felde den ersten Brief nach langer Zeit von Friedrich erhielt – ich zitiere auf einer der folgenden Seiten eine kennzeichnende Stelle –, nahm ich an, daß er etwas Wichtiges, vielleicht im Auftrag seiner Partei, in Österreich zu erledigen habe. Aber er hatte dort nichts zu tun. Ich begriff nicht, daß ein Mann, der mehr als ein Jahr in sibirischer Gefangenschaft gelebt hat, in eine Stadt zurückkehrt, um einen Bekannten oder selbst eine Frau wiederzusehn. Dennoch scheint Friedrich keinen anderen Grund gehabt zu haben. Savelli war nicht mehr in Wien. Der ukrainische Genosse P. lebte seit einem Jahr in einem Konzentrationslager für Zivilgefangene in Österreich. R. war nach der Schweiz übersiedelt – einen Monat vor dem Ausbruch des Krieges noch. Friedrich konnte ohne Militärpapiere nicht einmal sicher durch die Straßen gehn. Alle Menschen waren – wie man weiß – die Schatten ihrer Dokumente geworden. Den Jahrgang Friedrichs hatte man längst einberufen. Er mußte jedem Polizisten auf der Straße verdächtig erscheinen. Die großen Mobilisierungsplakate, auf denen er genannt war, klebten verwelkt und zerfetzt an den Wänden, nur noch Bestätigungen dafür, daß die Angehörigen dieses Jahrgangs gefallen waren und schon zu vermodern anfingen. Friedrich, dem eine bestimmte Staatsbürgerschaft nicht nachzuweisen war, konnte verhaftet werden und in ein Lager kommen. An der Grenze und unterwegs hatte er erzählt, daß er aus Rumänien komme, um einzurücken. Man hatte es ihm geglaubt, es gab viele seinesgleichen im Zug. Ein Gendarm, der die Papiere kontrollierte, erzählte es ihm. Die Männer kamen aus fernen Ländern, um ein Gewehr zu nehmen. Auch hier waren die Züge mit Laub geschmückt. Die Soldaten sangen andere Lieder und trugen andere Farben und Mützen als in Rußland. Vor einem Monat waren sie alle in Zivil, drüben und hier, kaum zu unterscheiden. Woher konnten sie denn alle auf einmal singen? Sie hatten nie gesungen, wenn sie in den Zügen gesessen waren, als Reisende in Parfüms, als Advokaten, als Beamte, die in Urlaub gingen oder wieder zu ihrem Dienst zurückkehrten. Hatten Sie keinen Respekt vor dem Tod? Achteten sie ihn nur, wenn er mit den feierlichen Abzeichen auftrat, die sie ihm in regelmäßigen Zeiten und auf regelrechten Friedhöfen, in Sarghandlungen und Leichenbestattungsunternehmungen zu verleihen liebten?
»Ich wurde mir langsam klar über meinen alten Zorn gegen die Autorität«, schrieb mir Friedrich später ins Feld. »Ich rebellierte nur gegen die vorläufige, gegenwärtige Autorität. Denn sie ruht nicht auf legaler Voraussetzung. Ebensowenig wie dieser Buchhalter, der jetzt singend in den Krieg zieht, ein Held ist, sowenig ist der Polizist ein Polizist, der Minister ein Minister, der Kaiser ein Kaiser. In friedlichen Zeiten sieht man es nicht. Aber jetzt enthüllen die hunderttausend Advokaten und Oberlehrer, die sich plötzlich in Offiziere verwandelt haben, die Ungesetzlichkeit auch der Berufsoffiziere. Es ist kein Zweifel, die Gesellschaft gibt sich zu erkennen, obwohl sie sich verkleidete.
Ich war in dem Verein der jungen Arbeiter, den Sie ja kennen. Die Donnerstagabende finden immer noch statt. Ich las das Programm im Hausflur. Dies die Titel der Vorträge: ›Die Mittelmächte und der Krieg‹. ›Der Sozialismus und Deutschland‹. ›Der Zarismus und das Proletariat‹. ›Der mitteleuropäische Gedanke und die Freiheit der Völker‹. Ich suchte den Vorsitzenden, einen jungen Metallarbeiter. Er war trotz seiner Jugend vom Militärdienst vorläufig befreit, weil er in einer Munitionsfabrik arbeitete und wegen seiner besonderen Kenntnisse. ›Oh, Genosse!‹ sagte der junge Mann erfreut. Er trug ein Abzeichen im Knopfloch, dessen Form ich kaum erkennen konnte und das gleichzeitig ein Kreuz war, ein Stern und ein Hammer. Ein Zeichner, der in der Munitionsfabrik beschäftigt war, hatte es entworfen, und es war behördlich geschützt worden als ein Abzeichen der Hinterlandshelden, wie die Metallarbeiter genannt werden. ›Wie herrlich, daß Sie entronnen sind!‹ sagte der Junge. ›Wann rücken Sie ein? Wollen Sie noch vorher einen Vortrag bei uns halten? Wir sind jetzt wenige. Die meisten sind eingerückt!« Wie er so sprach, hatte er die Fröhlichkeit eines Festkomiteepräsidenten. Auf seinem Tisch lagen Stöße von rosa Feldpostkarten, stand ein Aschenbecher, den er selbst aus einer der Granaten, die er erzeugen half, hergestellt hatte. An der Wand hing einer der bekannten Drucke, die Karl Marx darstellten, und eine rote Fahne, mit Bindfaden umwickelt, lehnte in einem Winkel. Sie erinnerte an einen zusammengerollten Sonnenschirm, wie ihn die Blumenhändler über ihre Stände an heißen Sommertagen aufspannen. Und weil es draußen schneite, schien es mir in einem Anfall merkwürdiger Verwirrung, daß die Fahne wirklich ein Schirm war.«
Er erinnerte sich an Grünhut wie an eine Medizin, die man schon ein paarmal mit Erfolg benutzt hat. Grünhut war ein verlorener Mann, er geriet auch durch einen Krieg nicht mehr aus seiner Verbannung. Und da die Gesellschaft Krieg führte, schloß Friedrich mit der Konsequenz eines Menschen, der noch keinen Krieg erlebt hatte, müßten die Vorbestraften normal sein.
Grünhut sprang auf. »Kommen Sie, kommen Sie«, sagte er und zog Friedrich zum Tisch und zündete die Gaslampe an, die eine surrende, grüne Kälte zu verbreiten anfing. Dennoch versuchte er, sich an der Flamme die gefrorenen Hände zu wärmen.
Friedrich erzählte von seiner Flucht. Grünhut ging im Zimmer herum und rieb sich die Hände. »Welch ein Heldentum!« sagte er. »Sie verdienten eine Auszeichnung, noch bevor Sie ins Feld gehn! Das muß man in der Zeitung veröffentlichen! Welch ein Held! Welch ein Held!« Und er begann, von der bevorstehenden Belagerung der Stadt Paris zu sprechen, von dem Zug Hindenburgs nach Petersburg, von einer Marschkompanie, die gerade heute unter seinem Fenster zur Bahn vorbeigegangen war, und von seiner Aussicht, endlich rehabilitiert zu werden. Er nannte jetzt seine alte, unglückliche Geschichte einen »tragischen Fall«. Er hatte ein Gesuch an das Regiment gerichtet, in dem er als Einjähriger Vorjahren gedient und Feldwebel mit Offiziersprüfung geworden war. Er hatte noch eine Abschrift, zog sie aus der Tasche und begann vorzulesen. Es war die Rede von der außergewöhnlichen Zeit, vom Vaterland und vom Kaiser, von einer »jugendlichen Verirrung« und von der Sehnsucht, als Ehrenmann und Soldat zu sterben und ein verlorenes Leben durch einen schönen Tod wiedergutzumachen. Trotz seinem Alter wollte er an die Front.
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