In den wachen Nächten formte sich sein Plan, nahm Leben an und drängte zur Erfüllung. Theodor hatte keine Zeit mehr. Die ersten Schritte mußte er bedächtig tun.
War er ein Verräter? Er ist es nicht. Er will wirklich nur die anderen aushorchen, seine Spione beaufsichtigen. Er durfte nicht lange nachdenken. Überlegung schwächt Entschlüsse. Es war keine Zeit.
Flammender wurden täglich die Titel über den Zeitungsberichten. Schon streikten die Metallarbeiter in Sachsen. Man sprach von Zügen, die irgendwo aufgehalten worden.
Doppelte Bereitschaft war in der Kaserne befohlen.
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Unter den unzuverlässigen und verdächtigen Spitzeln, die Theodor abgeschafft hatte, befand sich Benjamin Lenz. Er lieferte doppelte Berichte: an Trebitsch und an Theodor. Von beiden erhielt er Geld. Seine Adresse kannte Theodor.
Benjamin Lenz, ein Jude aus Lodz, war im Krieg von einer Kundschafter-und Nachrichtenstelle als Spion verwendet worden. Sein Angesicht verriet ihn: seine starken Backenknochen warfen Schatten gegen die Augenhöhlen, der untere Stirnrand mit den Brauen sprang vor, und so lagen die kleinen schwarzen Augen wie in Talkesseln, ringsum geschützt, und die Richtung der Blicke war schwer zu erkennen, denn sie kamen aus entfernter Tiefe. Kurz und breit war das Kinn und die Nase flach. Aber dieser Schädel, der zu einem gedrungenen Rumpf gepaßt hätte, saß auf dünnem Hals, zwischen abschüssigen, schlanken Schultern. Benjamin Lenz hatte schmale Knöchel, dünne Handgelenke, lange, nervöse Finger.
Mit der heimkehrenden Armee war er nach Deutschland gekommen, durch viele Städte gewandert. Er hatte Empfehlungen von der Armee. Polizisten, mit Bosheit gegen solche aus dem Osten geladen, zwinkerten mit verständnisvollem Auge Benjamin zu. Ihre Gunst genoß er und kassierte unbehelligt im wandernden Panoptikum, drehte den Leierkasten des Karussells, fälschte Berichte für auswärtige Missionen, stahl in Amtsstuben Papiere und Stempel, spionierte in Oberschlesien, ließ sich mit Untersuchungshäftlingen einsperren und horchte sie aus und wartete auf »seinen Tag«.
Seine Idee hieß: Benjamin Lenz. Er haßte Europa, Christentum, Juden, Monarchen, Republiken, Philosophie, Parteien, Ideale, Nationen. Er diente den Gewalten, um ihre Schwäche, ihre Bosheit, ihre Tücke, ihre Verwundbarkeit zu studieren. Er betrog sie mehr, als er ihnen nützte. Er haßte die europäische Dummheit. Seine Klugheit haßte. Er war klüger als Politiker, Journalisten und alles, was Gewalt hatte und Mittel zur Macht. Er probte seine Kraft an ihnen. Er verriet die Organisationen an die politischen Gegner; den französischen Gesandtschaften verriet er Gelogenes, Wahres durcheinander; er freute sich an dem gläubigen Gesicht des Betrogenen, der aus den falschen Tatsachen Kraft zu neuer Grausamkeit schöpfte; über das dumme Erstaunen eingebildeter Diplomaten, kindischer, zahnloser Geheimräte, bestialischer Hakenkreuzler; freute sich, daß sie ihn nicht erkannten. Er irrte sich selten. Er hatte nicht gewußt, daß Klitsche tot war und ein anderer an seiner Stelle saß. So brachte ihn ein lange erfolgreich geübtes Manöver mit den Duplikaten, die Theodor entdeckte, in Verdacht. Er verschmerzte den Fall. Er arbeitete mit falschem Material für Trebitsch. Und sogar diesen übertraf er. Er spielte den dummen kleinen Spitzel. Aufträge ließ er sich einigemal erläutern. Verwickelte Geschäfte lehnte er ab. Er gab die Rolle eines Menschen, dessen Verstand gerade noch zur Erkenntnis seiner eigenen Beschränktheit ausreicht.
Und er wartete.
An »seinem Tag« mußte in ganz Europa der schlummernde Wahnsinn zum Ausbruch gekommen sein. Also vergrößerte er Verwirrung, steigerte Freude am Blut, Lust am Töten, verriet einen an den anderen, beide dem dritten und diesen auch. Er verdiente Geld. Aber er lebte in einem kleinen Zimmer eines schmutzigen Hotels. In geheimnisvollen Kellerlokalen aß er, mit Bettlern und Glühlampendieben. Er sparte für seinen Bruder, seine zwei Schwestern, seinen alten Vater. Der Vater war ein alter Feldscher in Lodz mit einer kleinen jüdischen Barbierstube. Die Schwestern Benjamins mußten eine Mitgift haben. Dem Bruder, der Chemie studierte, gab er den größten Teil seines Verdienstes. Dieser Bruder sollte einmal eine eigene Fabrik gründen können. Niemals kam Benjamin mit ihm zusammen. Niemals schrieb er nach Lodz an seinen Vater. Er hatte keine Zeit, Benjamin Lenz; er arbeitete für seinen Tag.
Theodor hatte ihn nicht nur wegen der Duplikate abgeschafft. Seine Klugheit roch er. Er fühlte das Judentum Benjamins; wie ein Jagdhund überall Wild wittert, so witterte Theodor Juden, wo er einer Überlegenheit begegnete.
Lenz kam eine halbe Stunde später, er ließ Theodor warten, er ließ jeden warten, der ihn brauchte. Aber Theodors Wunsch zu erfüllen, weigerte er sich. Er weigerte sich immer. Theodor Lohse zu den anderen führen? Den Genossen Trattner? Sie kannten ihn, kannten das Porträt Theodors. Klaften hatte ihn noch einigemal gezeichnet: naturgetreu.
Jene Affäre Klaften hatte Theodor begraben. Er fragte, wie sie ausgefallen sei. »Überhaupt nicht«, sagte Lenz. Thimme, der junge Attentäter, war ein Polizeispitzel gewesen. Goldscheider lag im Krankenhaus. Klaften war ein bekannter Maler. Das Porträt Theodors hatte in der Ausstellung einen Preis bekommen. Nach einer Viertelstunde weigerte sich Benjamin Lenz nicht mehr. Las er in den Menschen? Alles könnte man ja vergessen, sagte Lenz, wenn Theodor als Freund käme. Oder scheinbar als Freund.
Sie gingen.
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Sie saßen, drei Männer, im Café auf dem Potsdamer Platz. Zwischen ihnen flogen gleichgültige Worte, Mißtrauen würgte in ihren Hälsen, Angst lähmte ihre Zungen. An einem Nebentisch saß Benjamin Lenz.
Theodor bereute. Es war zu spät. Er hatte nicht geahnt, wie schwer es ihm kommen würde. Niemand half ihm. Er sollte anfangen. Es war, als weidete man sich an seiner Qual.
Und es ist genauso wie einmal – lang war es her – in der Schule, wenn er anderes sagen soll als auswendig Gelerntes. Es war Lärm im Café, an den Nebentischen summte das Gespräch der Gäste, Tassen klirrten, und dennoch schlug ihm eine Stille entgegen, als beherrschte das Warten alle Menschen. Erst als sie durch die Straßen gingen, gewann er sich wieder. Er ging zwischen zwei kleinen schwarzen Männern, die sich jedes Wort einprägten.
Er verstellte sich nicht. Wozu brauchte er Verstellung? Er konnte immer ableugnen; aufrichtiges Geständnis für erheucheltes ausgeben. Seine wahren Gründe klangen überzeugend.
Er erzählte von seiner Unzufriedenheit; schilderte das Mißtrauen, das ihn umgab; gestand, daß ihn Ehrgeiz trieb.
Er lüftete später, in einem Büro, Zipfel von Geheimnissen.
Es war spät, als er schied, er fuhr nach Potsdam, las ein Abendblatt. Als er aufblickte, sah er Benjamin Lenz. Er saß Theodor gegenüber.
Sie gingen durch den Potsdamer Abend, durch alte Gäßchen, die ganz unwahrscheinlich aussahen, und Benjamin führte, und Theodor wußte nicht, daß er geführt wurde. Vom 2. November sprach Benjamin Lenz, er glaubte nicht an Revolutionen. Er glaubte an ein kleines Blutbad, kaum der Sorgen wert, in Deutschland nicht selten und eigentlich jede Woche wahrscheinlich.
Vielleicht sprach er diesmal aufrichtig, Benjamin Lenz?
Es war ein wehmütiger Abend, mit violetten und gelb schimmernden Wolken, mit einem zahmen, behutsamen Abendwind, und Theodor ging, durch raschelndes Laub, die Straße, die zum Bahnhof führte, entlang und fühlte eine Rührung, wie damals in den Feldern des Herrn v. Köckwitz.
Und eine Wärme kam von Benjamin Lenz, so daß Theodor zu sprechen anfing und seine Worte nicht mehr wägte und über Trebitsch klagte und über die Undankbarkeit überhaupt. Was machte ein Mann von den Fähigkeiten Lohses bei der Reichswehr?
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