Das täuscht. Ernst war es oft schon vorher; ständigen Entwertungen und Anfeindungen ausgesetzt zu sein, wenn man gerade begonnen hatte, etwas zu entwickeln, von dem man selbst noch nicht weiß, worauf es hinausläuft. Es ist etwa so, als wollte man einem einjährigen Kind, das gerade laufen lernt, einreden, es sei eine spinnige Idee, laufen zu wollen. Es sollte dies besser unterlassen, und im übrigen sei es einfach lächerlich und ärgerlich, immer diese unbeholfenen Gehversuche mit ansehen zu müssen. Die Pubertät ist ein Beginn – und häufig schon ein Ende. Viele trauen sich später nicht mehr, eigenes zu wollen, Ideale zu suchen, die es zu leben lohnt.
Erst beim vierten Mal, in der Lebensmitte, wenn noch einmal die Frage auftaucht: »Wer bin ich eigentlich?« ergibt sich oft ein Rückgriff auf Pubertätsideale. Wie im Kapitel über die Lebensmitte beschrieben, stellt sich in dieser Phase die Identitätsfrage als nagender Zweifel ein: Ist das denn alles, was ich bisher erreicht habe? Soll darin mein Leben auch weiterhin bestehen? Bin ich schon das, was ich mir bisher an Besitz, Fähigkeiten und Einfluss erworben habe? Oder bin ich noch etwas grundsätzlich anderes?
Und wie in der Pubertät sieht auch jetzt diese Frage nach dem eigenen Ich betont ab von der Vergangenheit und sucht die Zukunft. Bis jetzt war ich der, der sich dies und jenes erworben, erarbeitet und erobert hat. Aber wer bin ich morgen? Was bin ich darüber hinaus? Das Ich beginnt jetzt, seine geistige Dimension zu suchen.
Und wieder ergibt sich die Ich-Frage aus einem Verlusterlebnis: Ein Riss ist eingetreten zwischen meinem innersten Ich und dem äußeren Kleid, das dieses Ich sich bisher geschaffen hat. Und eine Ahnung davon kommt auf, dass das eigentliche Wesen des Ich nicht seine irdisch-äußere Erscheinung ist, sondern die Sphäre des Übersich-hinaus-Gehens sucht.
Viermal also fragt das Ich nach sich selbst. Es fragt aus sich heraus – Identitätsfragen und -zweifel, die durch äußere Ereignisse angeregt sein können, kommen natürlich hinzu. Jedesmal geht dem ein Riss, ein Bruch im Verhältnis zur Welt voraus. Und jedesmal ist die Ich-Frage an die Zukunft gestellt. Das Ich hat Zukunftscharakter.
7
Der Doppelgänger I
Seine Entstehung
Die Substanz des Doppelgängers ist unbewusste Gewohnheit, die unbemerkt entsteht, die sich einschleicht und unbemerkt auswirkt. Diese Art der Gewohnheit wirkt sich immer einengend, verhärtend, festlegend aus. Das können wir aus Distanz, als Unbeteiligte oder hinterher so bemerken. Was wir selbst erleben, wenn solche Gewohnheiten in unserem Denken und Tun am Werk sind, ist Sicherheit und Selbstverständlichkeit. Es ist oft sehr schwer, beratend einem Menschen erkennbar zu machen, wie sehr er eingeengt und festgelegt ist von Gewohnheiten des Denkens, Fühlens oder Handelns, die ihm – wie man sagt – in Fleisch und Blut übergegangen sind.
Man sagt zu Recht: Die Gewohnheiten haben eine übergroße Neigung zur Verfestigung, zur Verhärtung, ja zum Erstarren. Es gibt bei jedem Menschen geradezu einen Leib aus Gewohnheiten. Er ist fast physisch. Man kann ihn in der Biographieberatung eigentlich nur anpacken, indem man Vorschläge macht, bestimmte Gewohnheiten vorübergehend, und sei es nur für zwei Wochen, zu ändern. Dann können Bewusstsein und Wille in eine Gewohnheit kommen, die sich vor Jahren eingeschlichen haben mag. Die bewusst und willentlich gesetzten Gewohnheiten befreien geradezu aus der Einengung durch die einschleichend entstandenen. Sie befreien an dieser Stelle vom Doppelgänger.
So sieht ein Lehrer, ein ganz harmonischer und gefühlvoller Mensch, sich zu Hause zunehmend in Konflikte zwischen der Tochter und seiner zweiten Frau hineingezogen. Jeden Tag, wenn er nach Hause kommt, hat es wieder Streit gegeben zwischen den beiden, und immer wieder übernimmt er die Position des Schiedsrichters und Schlichters. – Ihm wird in der Biographieberatung die Übung vorgeschlagen, möglichst genau, bevor er den Streit zu schlichten sucht, den Streitanlass zu erfragen und für sich kurz aufzuschreiben. Nach zwei Wochen mit dieser einfachen Übung wird ihm klar, was weder er noch die beiden streitenden Frauen bisher gesehen haben: Streitanlass war immer ein Satz, ein Einwurf von ihm am Vortag. So hat er zum Beispiel einmal einen Streit zu schlichten versucht, indem er unter anderem sagte, beide sollten doch am Nachmittag einmal etwas getrenntere Wege gehen – die Tochter, sie war siebzehn, sollte ihre Schularbeiten in ihrem Zimmer machen und die Frau im Garten arbeiten. Am nächsten Tag – er ist, wohlgemerkt, gar nicht anwesend – entsteht genau hierüber wieder ein Streit: Die Tochter geht gleich nach dem Essen in ihr Zimmer, die Stiefmutter rennt ihr hinterher und beschimpft sie, weil sie sich zurückziehe. – So stellt sich heraus, dass der gemeinsame Nenner der Konflikte zwischen Tochter und Stiefmutter er war. Er erkannte nun, dass er, vordergründig schlichtend, immer neuen Zündstoff in die Beziehung zwischen den beiden Frauen brachte. Und er erinnerte sich, dass es in ihm schon immer eine ungelebte Streitlust und Aufmüpfigkeit gab, die er aber in dem sehr harmonischen Elternhaus nie ausleben durfte, auch als Jugendlicher nicht. Er war es, der sich – unbewusst – die Gewohnheit gebildet hatte, Tochter und Ehefrau statt seiner zum Streit zu bringen.
Dieses Beispiel zeigt erstens, wie geschickt solche Inszenierungen des Doppelgängers sein können. Es zeigt zweitens, dass es nicht irgendwelche Gewohnheiten sind, die ein Eigenleben entwickeln und sich verfestigen, die man mit dem Doppelgänger in Verbindung bringt. Vielmehr handelt es sich um Gewohnheiten, die damit zu tun haben, dass man etwas meidet – eine Erkenntnis, eine negative Konsequenz, eine Selbsteinsicht et cetera. Besonders in der Kindheit und Jugend, wenn der Einfluss von erziehungsehrgeizigen Erwachsenen noch stark ist, aber auch im Erwachsenenleben ernährt sich der Doppelgänger von dem, was wir an uns nicht wahrhaben wollen oder dürfen.
Der Doppelgänger ernährt sich von dem, was das Ich nicht wahrhaben will, und kann es gerade deswegen zur unbemerkten Gewohnheit werden lassen. Erst dadurch bekommt er seine für jeden Menschen individuelle Gestalt. Im Laufe des Lebens zieht er alles an sich, was das Ich nicht wahrhaben will, was es meidet, was es verdrängt. Was vom Ich nicht durchdrungen ist, verselbständigt sich im Unbewussten. Seelenvorgänge, in denen das Ich nicht anwesend sein möchte, gerinnen, verhärten, werden Teil des Gewohnheitsleibes und damit verfügbar für den Doppelgänger. Auch mitgebrachte Prägungen wie die persönliche Temperamentsmischung werden als primäre Teile des Gewohnheitsleibes dann Nahrung für seine verfestigende Tendenz, wenn sie im weiteren Leben nicht vom bewussten Ich durchdrungen werden. So heftet sich der Doppelgänger an alles, was in der Versenkung verschwinden will, und er wird zum Gegenbild unseres Bewusstseins und bewussten Selbstbildes. Er ist ein Wesen, das seine Physiognomie aus unserer Selbsttäuschung gewinnt. Der Begriff »Schatten«, wie er in der Jungschen Psychologie verwendet wird, scheint hier zutreffend, weil der Doppelgänger tatsächlich darin lebt, dass das Licht unseres Bewusstseins nicht überall hinleuchtet. Sein Wesen liegt in der Verdichtung und Erstarrung von seelischen Vorgängen.
Von dieser Ebene aus kann der Doppelgänger Krankheiten bewirken. Das aus dem Bewusstsein abgespaltene Seelische wird verdichtet und in die biologischen Abläufe des Leibes eingearbeitet – ein Feld der Psychosomatik.
Der Doppelgänger wirkt sich in vielfältiger Weise aus. Fragt man, wie er eigentlich erlebt wird, ist zunächst zu sagen: gar nicht. Darin lebt er ja, dass er nicht direkt als solcher erlebt wird. Und gerade deswegen, weil er dieses Merkmal des Verborgenen besitzt, kann er so wirksam sein. Er versucht, in alles hineinzuschlüpfen, was vom bewussten Ich nicht durchdrungene Gewohnheit ist; daher führt die Tendenz der Gewohnheiten zur Verfestigung. Ferner lebt der Doppelgänger in den uns selbst ursprünglich unangenehmen Teilen unseres Temperaments, die wir in unser Selbstbild nicht aufnehmen wollen. Und er tobt sich besonders gern in Beziehungen und Partnerschaften aus, also gerade da, wo sich im Zwischenmenschlichen unbemerkt Gewohnheiten bilden. So kann, was man als störend am Partner erlebt, eine Wirkung des eigenen Doppelgängers sein. Man projiziert Aspekte des eigenen Doppelgängers auf den Partner – oder auf das eigene Kind, die Kollegin et cetera – und reagiert auf ihn genauso, wie man ursprünglich in sich selbst auf ihn reagiert hat: Man bekämpft ihn, hasst ihn, will ihn nur weg haben. So kommt es im Extremfall geradezu zu »Doppelgängerehen«: Zwei Menschen vertreten füreinander den Doppelgänger des anderen und bekämpfen sich deshalb jahrelang gegenseitig. Aber eigentlich bekämpfen sie sich selbst.
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