Die oft postulierte Trennung von Denken und Fühlen existiert erst in dem Moment dieses Schwindels, existiert vor allem erst dadurch, dass ich wahrnehme, dass mein Fühlen und Denken gar nicht, wie ich anfänglich meinte, getrennt sind, sondern mein Fühlen permanent durch das Raster meines Denkens läuft und für mich allein auf diese Weise gefiltert wahrgenommen wird. Dazusitzen, um über etwas nachzudenken, ist eine sinnlose Tätigkeit, die sich immer an eine andere Tätigkeit koppeln muss, zum Beispiel das Schreiben, das Sprechen, das Arbeiten, um sich vollziehen zu können. Das Denken nämlich ist sprachlos, auch wenn ich meine, dass es sprachlich stattfindet, weil Anfänge von Sätzen, Wortfetzen, Sprachfragmenten in meinem Inneren aufzutauchen scheinen, die aber lediglich die Geräusche sind, die bei der Tätigkeit des Denkens, das heißt des sprachlosen Einordnens von Empfindungen entstehen, etwa so wie eine Tür quietscht, wenn man sie öffnet oder schließt, und man kaum auf den Gedanken verfallen würde, das Auf- und Zumachen geschehe lediglich, um dieses Geräusch hervorzurufen und nicht, um jemanden hereinzulassen oder selbst hindurchzugehen.
In der Panik lösen sich die Bezüge voneinander, werden die Gründe unscharf, weshalb man diesen Zustand auch als ein Außer-sich-Sein bezeichnet. Ich bin in der Panik jedoch nicht außer mir, sondern in mir, eins der seltenen Male höchstwahrscheinlich. Das Außer-mir-Sein lässt mich erfahren, dass das Denken tatsächlich sprachlos ist, ein Filter, durch den Raum und Zeit in mir abgebildet werden und der nicht mehr auf gewohnte Art und Weise funktioniert, sondern wie bei einer Kamera, die sich nicht mehr scharf stellen lässt, einem Bandgerät, dessen Geschwindigkeit nicht mehr zu regulieren ist, nur noch ein Gefühl von Unschärfe und Ungewissheit in mir hervorruft. Diese Momente dauern in der Regel nicht lange, sind für viele Menschen Ausnahmesituationen, die sie oft traumatisieren, zumindest schockieren, zumindest für eine Zeit lang desorientiert zurücklassen. Aber noch etwas anderes scheint sich zu beweisen: Raum- und Zeitempfinden scheinen doch keine angeborenen Grundlagen der Wahrnehmung zu sein, vielmehr erlernte Konstruktionen (vielleicht: erlernte Apriori). Mein Gefühl des Wahns bestand wahrscheinlich allein darin, dass mir diese angeblichen Grundlagen für einen Moment verloren gegangen waren, und aus nichts weiter.
Ich meine zu verstehen, warum ich mich im ersten Tagebuch immer wieder geweigert habe, gewisse Ereignisse zu schildern. Es lag nicht allein an einer Scham, es war nicht nur der Versuch, eine Intimität zu bewahren, sondern war Ausdruck einer Weigerung, meine Erfahrung aufzugeben. Eine Erzählung, und genau das ist ihr grundsätzliches Problem und auch der Grund, warum sich viele Stoffe ihrer Bearbeitung zu verweigern scheinen, überschreibt die Erfahrung. Während die Erfahrung ambivalent bleibt, legt die Geschichte fest. Und ich kann nicht anders, als mit immer neuen Erzählungen auf diese Festlegung zu reagieren. Bestenfalls, nur geschieht das sehr selten, wird das komplette Leben zu einer Erzählung umgeformt wie bei Proust. Da mir das für mich nicht möglich scheint (Warum?), suche ich im Schreiben immer auch etwas, das über das Erzählte hinausgeht, mich von seiner Zwanghaftigkeit befreit und in das Leben zurückführt.
Vielleicht ist alles Schreiben ein Anschreiben gegen das Schreiben, der Versuch, sich aus dem Schreiben hinauszuschreiben.
Und weil ich dachte, Theorie sei keine Erzählung, hoffte ich, mit ihrer Hilfe der Erzählung zu entkommen, und bohrte meinen Kopf immer tiefer in sie hinein, während der Körper allerdings draußen blieb.
Ich muss mich entscheiden zwischen dem Narrativ, das mich trösten, aber auch einschläfern kann, und der Erfahrung, die mich wund, aber wach hält.
Es ist die Normalität, die den Wahnsinn ausmacht. Die Normalität wird als Normalität sichtbar. Wird jedoch etwas sichtbar, ist es nicht mehr normal. Es ist ähnlich wie die Erfahrung von Raum und Zeit, das, was ich zeitweise für eine »apriorilose« Wahrnehmung hielt, während es sich wahrscheinlich genau umgekehrt verhält, der Raum durch alles, was sich in ihm befindet, hindurchscheint, die Zeit nicht länger unauffällig vergeht oder erst im Nachhinein in ihrem Vergangensein erkannt wird, sondern in einer ständigen Unruhe in allem nach vorne drängt.
Binswanger beschreibt die Schizophrenie als »Unmöglichkeit eines ungestörten Aufenthalts bei den Sachen«. Aber wie soll man sich »ungestört« bei ihnen aufhalten können, wenn sie ihr Vergehen beständig zur Schau stellen, indem sie unsichtbar im Raum werden, vielmehr der Raum sichtbar durch sie hindurchscheint, sie unsichtbar in der Zeit werden, vielmehr die Zeit sichtbar aus ihnen herauspulsiert?
Binswanger ist der Meinung, dass sich die Fähigkeit (des Nicht-Verrückten), sich bei den Dingen aufhalten zu können, darin zeigt, »daß wir das Seiende, alles Seiende, sein lassen , wie es an sich selbst ist«. Diese Fähigkeit aber kann nur der haben, der umgekehrt vom Seienden sein gelassen wird. Das genau aber ist das Problem des Wahnsinnigen, der von den Dingen, vielmehr von den durch die Dinge durchscheinenden Apriori seiner Wahrnehmung bedrängt wird und gezwungen ist, sich diesen Dingen gegenüber zu verhalten, weshalb er immer aufs Neue versucht, und wohl meist vergeblich, sie in eine Ordnung zu bringen. Das ist der Grund, warum sich Unica Zürn an das »Einmaleins mit der 9« klammert und es von 1 bis 9 aufzählt, nicht aber, logischerweise, zur 10 gelangt. Einen Text widmet sie sogar diesem Einmaleins und ihrem Sohn, er beginnt mit dem Satz: »Meine Augen sind weitsichtig geworden: das entfernte Objekt sehen sie deutlich.« Ja, allein das entfernte Objekt kann noch deutlich wahrgenommen werden, weil es in der Ferne des Raums liegt, weil es in diese Ferne versetzt werden musste, um überhaupt deutlich werden zu können, da der »ungestörte Aufenthalt bei den Sachen« unmöglich geworden ist. Das entfernte Objekt, auf das sich die Begierde richtet, die gleichzeitig weiß, dass eine Annäherung unmöglich ist.
Binswanger scheint allerdings diese »Konsequenz der natürlichen Erfahrung«, der die »Inkonsequenz« der Geisteskrankheit gegenübersteht, für eine Form der Leistung zu halten, die erbracht werden muss, um die geistige Normalität zu erhalten: »Dieses Seinlassen ist aber keineswegs das Selbstverständliche und Bequeme, vielmehr stellt es, wie gerade unsere Fälle, und zwar auf defiziente Weise, zeigen, die allerpositivste Tätigkeit dar.« Ich vermute, dass Binswanger mit »allerpositiv« kein Werturteil formuliert, sondern auf den Positivismus verweist, allerdings widerspricht er sich insofern, als er einmal davon spricht, dass das »Seinlassen« nicht selbstverständlich oder bequem sei, dann aber die Erfahrung des Seinlassens als »natürlich« beschreibt. Ist es nun eine Art kulturelle Leistung des Menschen, das Seiende sein lassen zu können, während der »inkonsequente« Wahnsinnige die Rolle des verrückten Wilden annimmt, der aus der Kultur herausgefallen ist, oder entfernt sich der Wahnsinnige mit seiner »Kultur« von der »natürlichen« Gemeinschaft der Normalen?
Handelt es sich hier um ein Problem der positivistischen Weltanschauung, die von einer allgemeingültigen Wahrnehmung objektiver Befunde ausgeht und den Wahnsinn in den Bereich der Metaphysik verweist? Aus der Sicht des Wahnsinnigen ist es ja nicht die eigene Unruhe, die seinen »ungestörten Aufenthalt bei den Sachen« verhindert, sondern die Sachen selbst, die unruhig sind.
Das Ding an sich ist das, was den Raum sichtbar macht.
Die Ordnungssysteme der Wahnsinnigen, das ist natürlich nur eine Annahme, sind ein Versuch, den »natürlichen« Ordnungssystemen etwas entgegenzusetzen. Unwillkürlich und unabsichtlich parodieren sie dabei diese Ordnungssysteme und legen den Wahnsinn frei, der unserer Normalität innewohnt.
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