Was aber meine ich, wenn ich diese »Erscheinung« als unzureichend bezeichne? Kann eine Erscheinung denn unzureichend sein? Reicht denn nicht allein die Tatsache aus, dass sie erscheint? Und ist sie nicht vielleicht gerade durch das, was ich als unzureichend empfinde, etwas Ungewöhnliches und Besonderes, weil sie sich damit meinen Kategorisierungen entzieht, sie unterläuft? Konnte sie quasi nur banal und lächerlich sein, weil ich mit allem anderen ja in gewisser Weise hätte rechnen können? Leicht hätte sich der Verdacht einstellen können, dass ich lediglich etwas reproduziere, über das ich gelesen oder das ich auf einem Gemälde dargestellt gesehen hatte. Hier aber entstand Authentizität durch bewusste Ausstellung des Nicht-Authentischen, entstand das Sublime durch den bewussten Einsatz von Banalität.
Vielleicht kann das Erhabene nur noch als Banales in Erscheinung treten, weil seine sonstigen Erscheinungsformen von Ideologie und Kitsch vereinnahmt wurden.
Dass mich dieser Pappkamerad zu einer Form des emotionslosen Weinens hatte bringen können, ließ darauf schließen, dass ich unter seinem Blick selbst zu einer Art hilflosen Marionette geworden war, aus der man wie bei einem Zaubertrick nach Belieben Tränen herausfließen lassen konnte, ohne dass sie sich dagegen zur Wehr setzen könnte. Ich war tatsächlich nicht mehr Herr meiner selbst, aber auf eine ganz andere, indirektere und viel banalere Art und Weise, als ich es mir bislang vorgestellt oder im Ansatz erlebt hatte.
Die Banalität dieser Erscheinung hatte bewirkt, dass mir meine Vorstellungen von Wahnsinn, Ekstase, Überwältigung etc. ungemein banal und klischiert erschienen. Bislang, so musste ich mir eingestehen, hatte ich die Welt des Wahns mit »schönen Verrückten« bevölkert, mit visionären Heiligen und genialen Schizophrenen, die ihre organlosen Körper kontemplierten. Gerade weil mich etwas Ähnliches unter Umständen nicht weiter überrascht, mein Denksystem gerade nicht infrage gestellt hätte, gerade weil ich mir alles Mögliche, jedoch gerade das nicht hätte vorstellen können, musste etwas »erscheinen«, das durch seine Banalität, seine Unechtheit, seine Lächerlichkeit wirkte, dadurch, dass es gerade keine Verbindung zu etwas Überirdischem oder Jenseitigem herstellte, sondern im Gegenteil, Fantasie und Vorstellungswelt unterlief und trivialisierte und gerade dadurch noch unvorstellbarer, noch beeindruckender, noch wahrhaftiger erschien.
Eine Erscheinung, die dadurch beeindruckt, dass sie nicht beeindruckt, sich nicht in den etablierten Kontext des Wahns einordnet: ein Außerhalb des Außerhalb, ein Verrücken (Weiterrücken) des Verrückten (hin zum Normalen?).
Die wichtigste Frage in Bezug auf den Wahn ist die, inwieweit er neben der Normalität bestehen kann oder inwiefern er diese Normalität kontaminiert und letztlich eliminiert. Bislang war ich davon ausgegangen, dass die Normalität sich verändert, dass sie »verrückt« wird, und nicht, dass etwas außerhalb dieser Normalität existiert, das man als Wahn bezeichnen könnte. Vielleicht könnte man es so beschreiben: Ich stellte mir den Wahn unwillkürlich als eine Form der Beziehung zu etwas vor, sodass dieses Etwas eine untergeordnete Rolle spielte und im Endeffekt auch leer hätte sein können, dennoch in der Beziehung zu ihm ein Wahn ausgelöst würde.
Und darin liegt auch die Verbindung, zu der »Erscheinung« im Dezember, die meine Vorstellungen gleichermaßen unterlief und banalisierte – und dennoch eine Wirkung entfaltete.
Als ich nach dem Bild suche, das als Vorlage für meine morgendliche Erscheinung gedient hatte, stoße ich auf vier Fotografien, von Schrenck-Notzing am 27. November 1912 aufgenommen. Zwei zeigen das Medium Eva C. im Begriff, eine Art Ektoplasma zu produzieren, die beiden anderen sind Vergleichsaufnahmen, auf denen eine weitere Frau eine Fotografie von Raymond Poincaré vor sich hält. Aus dem Text lässt sich leider nicht erschließen, welcher Beweis mit diesen Vergleichsaufnahmen erbracht werden sollte. Aber tatsächlich ähnelt meine »Erscheinung« von gestern in gewisser Weise Poincaré, noch mehr aber einer weiteren Aufnahme von Schrenck-Notzing aus dem Jahr 1926, auf der ein Mann, ebenfalls mit Spitzbart und von daher Poincaré ähnlich, hinter einem Medium erscheint. Er trägt ein weißes Gewand (Totenhemd?), seine Arme sind nicht zu sehen.
Es ist also eine Gestalt, die sich aus diesen Fotos, die ich seit bestimmt zwanzig Jahren nicht mehr angeschaut habe, zusammengesetzt hat und ihren Ursprung auch nicht verleugnet, sich vor allem an etwas orientiert, das mich nie wirklich beeindruckte oder beschäftigte wie zum Beispiel andere Bilder oder Kunstwerke. Wie in einer Traumanalyse könnte ich jetzt natürlich noch genauer alles untersuchen und sehen, welche Assoziationen sich möglicherweise einstellen, aber so, wie ich manchmal gerade die Träume, die mich stärker beeindrucken, nicht aufschreibe, um sie wirken zu lassen, habe ich hier das Gefühl, diese Erscheinung selbst nicht weiter aufschlüsseln zu wollen. Interessant wäre vielleicht allerdings, das ästhetische Moment daran zu verfolgen, die Möglichkeiten der Darstellung des Erhabenen im Banalen usw.
Jean Étienne Esquirol: »The activity of the brain is so intense, that the visionary or the hallucinator gives a body and a substance to images reproduced by memory, without the senses interverning.« Und: »A man who has the inward conviction of a presently perceived sensation at a moment when no external object capable or arousing this sensations is within the field of his senses, is in a state of hallucination. He is a visionary.«
Interessanterweise hat diese banale Bewusstseinstrübung im Halbschlaf ausgelöst, dass ich nach einer mehrwöchigen Pause wieder angefangen habe, etwas zu notieren. Gleichzeitig, so ging es mir auch im Dezember, weshalb die Aufzeichnungen nach ein paar Tagen wieder abbrechen, verhindert derselbe Impuls, dass ich zu der üblichen Form der Notate und Gedanken zurückkehre, die mir banal, überflüssig, unnötig erscheinen. Es ist etwas, und darum geht es im Wesentlichen, das unterhalb aller Reflexionen und Gedanken über Wahn und Bewusstsein persistiert, und auf eine gewisse Weise auch insistiert. Nicht, dass diese Vorstellungen mit dem Satz einhergingen: »Du musst dein Leben ändern!«, aber es bleibt irgendeine Form der Aufforderung zur Veränderung zurück, gerade weil ich weder glaube, tatsächlich verrückt zu werden, noch, und noch viel weniger, eine Art Erscheinung gehabt zu haben. Gerade weil das, was ich erlebt habe, nicht das Potenzial hatte, mich wirklich zu ergreifen. Und mich dennoch, wenn auch auf andere Art, ergriffen hat – vermutlich, weil das, was vorgeben würde zu ergreifen und mit allem dazu Nötigen ausgestattet wäre, mich noch weniger ergreifen könnte.
Und wenn ich schon beim Archaïschen Torso Apollos bin: »denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht«, hier findet ja auch eine unerwartete Umkehr statt, in der der Betrachter zum Betrachteten wird, und vielleicht war das Eindrückliche des Erlebnisses von vorgestern, dass ich dort stumm betrachtet wurde, dass sich das Subjekthafte des Traums, in dem sonst immer ich agiere, wahrnehme etc., umgekehrt hat. Und ein Torso war diese Pappfigur in gewissem Sinne auch, zumindest ohne Gliedmaßen, wenn auch mit Kopf.
Weshalb aber gibt es das Gefühl, ich müsste diesen Erlebnissen auf irgendeine Weise »gerecht« werden, dürfte nicht mehr in die »Normalität« zurück, müsste quasi von nun alles auf hohen Touren laufen lassen? Verfalle ich hier nicht dem Fehler, doch wieder das Besondere zu suchen, wo es doch gerade das Banale war, das mich beeindruckt hatte?
Nach dem Erlebnis im Dezember hatte ich immer wieder, wenn ich irgendwo stand und etwas ansah, eine Landschaft oder Aussicht zum Beispiel, die Empfindung, dass sich ein Hintergrund und ein Vordergrund unverbunden voneinander abhoben. Und wenn ich das Gefühl hatte, alles sei in gewissem Sinne Vordergrund, so meinte ich dahinter einen Hintergrund, wenn auch nicht sehen, doch wahrnehmen zu können. Eigentlich war das gar nicht weiter ungewöhnlich, nur, dass mir beide Ebenen bewusst wurden und ich die eine schärfer und die andere unschärfer stellen konnte, was ja ebenfalls ein völlig normaler Vorgang ist, der eben meist nur unwillkürlich und unbewusst geschieht. Weil mir dieser Vorgang aber bewusst war, hatte ich das Gefühl, ich könnte auch den Hintergrund zum Vordergrund machen und so zwar nicht wahrnehmen, dass sich auch hinter diesem noch etwas befindet, eine Art zweiter Hintergrund, aber es zumindest »wissen«. Es ist meine Vermutung, dass es ohnehin nur darum geht, gewisse Wahrnehmungen nicht entsprechend einordnen bzw. nicht genau beschreiben zu können. Es geht wahrscheinlich gar nicht um Wahnsinn oder zweifelhafte Erscheinungen, sondern allein darum, auf die Grenzen der Sprache gestoßen zu sein. So wie es im Traum beständig geschieht. Etwas zu »wissen«, was sich nicht benennen lässt, oder etwas zu »wissen«, was sich auf keine Wahrnehmung stützt, oder etwas wahrzunehmen, was man gar nicht wahrzunehmen meint usw.
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