Mein Schrank war asymmetrisch aufgebaut und mit einer dreieckigen Tür versehen. So etwas war damals noch nicht verbreitet. Hinzu kam meine außergewöhnliche Farbwahl – eben nicht P43. Also: Grundfarbe Schwarz, Türe und Schublade in Rot. Das war schon ein richtiger Eyecatcher. Ich gebe zu, ich war ziemlich stolz auf meine Idee und meinen Entwurf, und das Ganze war mir dann in der Produktion auch ganz ansehnlich gelungen. Nur an einer Stelle gab es ein Problem: Ich hatte den Lack etwas zu früh aufgetragen, der Leim war daher nicht überall genügend ausgehärtet. Dies führte dazu, dass sich das Furnier leicht löste. Es war nicht sehr problematisch, ich konnte es so gut flicken, dass es kaum sichtbar war. Nur mein Meister, der erkannte es natürlich sofort. Er war sich sicher, dass es auch den Prüfern auffallen würde. Mein Meister empfahl mir daher, das Gesellenstück noch einmal neu zu machen. Stelle dir vor, wie es mir in dem Moment ging. Ich war am Boden zerstört. Der Aufwand war immens, und das alles nur für die kleine Stelle. In dem Bewusstsein, durchaus eine schlechtere Note zu riskieren, entschloss ich mich (gegen den Willen meines Meisters), es nicht neu zu machen. Mit Ausnahme der einen Stelle war tatsächlich alles super gelungen, und ich stellte mich den Prüfern. Wie befürchtet bekam ich keine 1 als Note, sondern eine 2+, aber zusätzlich einen Belobigungspreis, und zwar wegen des außergewöhnlichen Designs. Ich war stolz wie Oskar. Eine 2 war für mich eine fantastische Note. Okay, ich hätte eine 1 erzielen können, jedoch zu welchem Preis, zu welchem Einsatz und zu welchem Nutzen! Was hätte es mir gebracht? Ich war jedenfalls so richtig stolz auf mich. Mein außergewöhnlich designtes Telefonschränkchen wurde noch ein paar Wochen in der Kreissparkasse ausgestellt, trotz des kleinen Fehlers. Den außer meinem Meister und den Prüfern niemand bemerkte. In meinem ganzen Leben hat mich danach auch nie jemand nach der Note in der Abschlussarbeit gefragt .
Wenn ich mich dazu entschlossen hätte, das Gesellenstück komplett neu zu machen, dann hätte ich voraussichtlich die Note 1 bekommen. Nur: Welcher Aufwand wäre damit verbunden gewesen? Ich habe ja trotzdem eine sehr gute und professionelle Arbeit abgegeben. Der Aufwand, den kleinen Fehler zu beheben, wäre viel zu hoch gewesen. Ich hatte sowieso schon Wochen an dem Möbelstück gearbeitet. Welchen Gegenwert hätte ich dafür erhalten? Lediglich eine Note, für die sich später niemand mehr interessierte. Mir ist wichtig, dass du dir bei jeder Aufgabe deutlich machst, ob es der letzten 5 Prozent Aufwand, die dann zur Perfektion führen, wirklich bedarf, oder ob du nicht genauso erfolgreich und glücklich durchs Leben gehst, wenn du dich nicht ständig ins letzte Detail verstrickst und den Mut zur Lücke aufbringst.
Es geht dabei um die Abwägung von Aufwand und Nutzen und die Frage nach dem tatsächlichen Mehrwert. Und zwar im Zusammenhang mit der Aufgabe, die du bewältigen willst. Denn: Wäre es um etwas ganz Wichtiges gegangen, einen Rekord, der unsterblich macht, oder einen Top-Job, den ich nur mit der Note 1 bekommen hätte, dann hätte ich die Ausgangslage wohl anders beurteilt. Wie wichtig sind also diese letzten Prozent, und welche Auswirkung hat es, wenn wir nicht bereit sind, die dafür notwendige Leistung zu erbringen? Natürlich ist dies eine Sache der subjektiven Einschätzung. Andere Gesellen hätten die Mühsal auf sich genommen und den notwendigen Aufwand investiert. Die Frage ist, welcher Aufwand für eine überdurchschnittliche Leistung erforderlich und notwendig ist und wo die neurotische Perfektion anfängt. Um dies zu erkennen, hilft uns zuweilen der gesunde Menschenverstand weiter, kombiniert mit der Frage nach dem Nutzen, der durch den hohen Aufwand entsteht.
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Die Frage, die wir uns immer stellen müssen, ist, ob sich der Aufwand lohnt, der notwendig ist, um die letzten 5 Prozent doch noch zu erreichen. Welchen Nutzen ziehen wir daraus? Oder ist es besser, den Mut zur Lücke zu zeigen und sich mit 95 Prozent zufriedenzugeben?
Sind Sie ein Leistungs- und Glücksverhinderer?
Als ich einem guten Freund erzählte, dass ich ein neues Buch schreibe, fragte er mich natürlich gleich neugierig, worum es darin gehe. Ich sagte ihm, dass ich über Perfektionismus schreibe, etwa darüber, ob es vielleicht sinnvoll sein könnte, in manchen Situationen seinen Perfektionsdrang zu überdenken oder anzupassen. Darauf meinte er, dass dann Menschen wie er in dem Buch nicht besonders gut wegkämen. Dies ist aber ganz und gar nicht so. Denn mir geht es nicht darum auszudrücken, dass es nur Schwarz oder Weiß gibt, und den Perfektionisten in die schlechte Ecke zu stellen und den, der fünf auch mal gerade sein lässt, in die gute. Mir geht es vielmehr darum, dass beide, der Perfektionist und der Nicht-Perfektionist, ins Nachdenken geraten. Ich möchte dazu anzuregen, den Blickwinkel zu verändern und die Perspektive zu wechseln. Vielleicht können beide voneinander lernen. Es ist zielführend, wenn wir manchmal unser eigenes Verhalten beobachten und überdenken. Dies gilt für beide Seiten. Zum einen für die Menschen, die viel zu oberflächlich durchs Leben gehen, alles viel zu schnell, chaotisch und unordentlich machen und denen ein wenig mehr Perfektionsdrang zuweilen guttäte. Und zum anderen für diejenigen, die vor lauter neurotischem Perfektionismus die Welt nicht mehr erkennen und stets und überall nach Verbesserungsmöglichkeiten suchen, um auch noch die letzten Prozentchen aus etwas herauszuquetschen. Aus meiner Sicht handelt es sich bei beiden extremen Typen um Leistungs- und Glücksverhinderer.
Ja, der oben erwähnte Freund ist tatsächlich perfektionistisch veranlagt. Ja, er pflegt manchmal neurotisch perfektionistische Ansätze. Ja, er verstrickt sich oft in Details. Ja, er überprüft Dinge häufig viel zu oft. Ja, er braucht dadurch oftmals viel länger, als er brauchen müsste. Ja, er ist manchmal sehr penetrant. Nur: Ist dieses Verhalten grundsätzlich schlecht? Ist es immer und in jeder Situation falsch? Nein, ganz im Gegenteil, es gibt Situationen, da brauchen wir genau diese Penetranz.
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Es geht nicht darum, den Perfektionismus in den Himmel zu heben, aber auch nicht darum, ihn zu verteufeln. Es geht um die richtige Entscheidung in der richtigen Situation.
Wenn ich die Welt neu erobern wollte, wenn ich ein neues Produkt schnell neu einführen müsste, dann würde ich nicht gerade meinen Freund von oben um Hilfe bitten. Bis er gestartet wäre, wäre der Markt wahrscheinlich schon von der Konkurrenz besetzt. Bis er alle Möglichkeiten abgewogen und alle Gefahren ausgeschlossen hätte, wäre der Zug längst abgefahren. Im Vergleich zu ihm bin ich in vielen Situationen genau das Gegenteil: Allzu oft agiere ich zu schnell, zu ungenau und zu oberflächlich. In einigen Situationen wäre es von Vorteil, wenn ich detailgenauer vorgehen würde, mehr Augenmerk auf die Feinheiten legen würde. Ich bin eher ein Anpacker, ein Macher, ein Sprinter. Sicherlich wäre ich bei der Einführung eines neuen Produkts immer dann der Richtige, wenn etwas schnell und zuverlässig umgesetzt werden müsste. Wenn es aber darum geht, die Strukturen, die Pläne ordentlich und sauber bis ins Detail auszuarbeiten, wenn es also um Präzision und Details geht, dann wäre er der Richtige und ich eher fehl am Platz. Entscheidend jedoch ist: Beide Verhaltensweisen und Eigenschaftsausprägungen haben ihre Daseinsberechtigung. Im Grunde brauchen wir uns sogar gegenseitig. Er braucht jemanden, der antreibt und voranschreitet, der schnell ins Handeln kommt. Und ich brauche jemanden, der hinter mir aufräumt und die Detailarbeit übernimmt. Wir würden uns also hervorragend ergänzen.
Neurotische Perfektionisten sind oft nicht in der Lage, sich über Ergebnisse zu freuen, sie glauben immer, dass es noch besser geht, dass die eigene Leistung nicht ausreicht. Sie erkennen ihre eigene Arbeit nicht an. Sie empfinden keine positiven Emotionen, wenn ein Etappenziel erreicht wurde. Sie schaffen es einfach nicht, ein gutes Ergebnis zu akzeptieren. Dies gilt für sie selbst, aber auch für andere. Im Beispiel meines Freundes ist es nicht so: Er erkennt seine Leistung an, er freut sich über das Erreichte und kann sich über positive Ergebnisse freuen. Und er findet die Grenze, wann es dann mit der Genauigkeit auch mal genug ist (zumindest meistens).
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